Wer genial sein will, muss üben

Rezensiert von Doris Anselm |
Warum sind manche Menschen genial? Der New Yorker Journalist und Autor David Shenk meint: Besondere Fähigkeiten entstehen nicht durch Veranlagung, sondern durch eine effektive Erziehung. In seinem Buch führt er knapp und klar in aktuelle Themen der Genetik ein.
Der US-amerikanische Journalist, Filmemacher und Sachbuchautor ist sicher: Mit Worten wie „Begabung“ und „Talent“ verdunkeln wir einen Prozess, den wir noch nicht verstehen. Und zu dem viel, viel Arbeit gehört. Shenk ist nicht der Erste, der diesen Gedanken hatte, er fasst nur griffig zusammen, worüber viele Wissenschaftler gerade nachdenken: die Frage nach der „Plastizität“, der Formbarkeit unseres Gehirns. Untersucht wurde die beispielsweise an Taxifahrern in London – einer der verwinkeltsten Großstädte der westlichen Welt.

„Dabei stellte sich heraus, dass erfahrene Taxifahrer einen beträchtlich vergrößerten hinteren Hippocampus hatten – jenen Teil des Gehirns, der darauf spezialisiert ist, räumliche Repräsentationen zu behalten. Und: Je länger ein Fahrer dabei war, desto größer war diese Hirnregion.“

Nun gelten pfiffige Taxifahrer selten als Genie, sondern oft eher als Menschen, an denen ihre Schulbildung vorbeigegangen ist. Das aber, so Shenk, ist eher ein Problem der Schulbildung als des Taxifahrergehirns. Viele Untersuchungen und pädagogische Experimente deuten auf eines hin: Die wirklichen Kapazitätsgrenzen jedes menschlichen Gehirns liegen weit jenseits dessen, was Menschen heute nutzen. Somit kann niemand zu dumm sein für höhere Mathematik, Schach oder Musizieren. Jedenfalls nicht aus biologisch-genetischen Gründen. Unsere Gene, so Shenk, sind keine Bauanleitungen für ganz bestimmte Merkmale und Verhaltensweisen. Und sie agieren auch nicht völlig abgeschottet:

„Eher ähneln sie den Lautstärkereglern und Schaltern eines riesigen Mischpults. Viele dieser Regler und Schalter können jederzeit durch ein anderes Gen oder durch einen Umwelteinfluss auf- oder zugedreht werden. Und dieses Drehen und Umlegen vollzieht sich ständig. Es beginnt in dem Augenblick, in dem ein menschliches Wesen empfangen wird, und endet erst, wenn es seinen letzten Atemzug getan hat.“

Nicht nur Hirnstrukturen sind demnach veränderbar. Auch die Genetik ist keine „Einbahnstraße“: Unser Leben beeinflusst, was unsere Gene tun. Mit dieser These gesellt sich David Shenk zu den „Interaktionisten“ der Wissenschaft: Sie halten die alte Mauer zwischen äußeren und genetischen Faktoren für äußerst baufällig. Und sie haben gute Argumente. Zum Beispiel, dass die Temperatur beim Ausbrüten von Krokodil-Eiern das Geschlecht der Jungen beeinflusst. Oder dass genetisch gelbhäutige Heuschrecken sich eine schwarze Hautfarbe zulegen, wenn man sie dauerhaft in eine schwarze Umgebung versetzt.

Besonders spannend ist aber, dass solche erworbenen Merkmale möglicherweise auch vererbt werden können. So etwas galt in der Genetik nach Darwin lange als ausgeschlossen. Inzwischen sieht es aber so aus, als ob nicht nur die unveränderbaren DNA-Stränge selbst Informationen enthalten, sondern auch ihre „Verpackung“ aus speziellen Proteinen. Und im Gegensatz zur Kern-DNA sind deren Informationen anscheinend veränderbar. Sie können also Umwelteinflüsse speichern, behalten und weitergeben. Shenk erklärt das noch umstrittene Forschungsfeld dieser „Epigenetik“ sehr anschaulich.

Doch wie können wir nun das „Genie in uns“ oder in unseren Kindern wecken, von dem im Buchtitel die Rede ist? Viele mögliche Antworten, die Shenk zusammenträgt, klingen fast schon nach bloßem Alltagsverstand: Kinder früh und oft ansprechen. Ihnen früh und oft vorlesen. Bei Erfolgen die Anstrengung loben, nicht das „Talent“ – denn der Glaube an die eigene Entwicklungsfähigkeit motiviert stärker als der Glaube an vorbestimmte Begabungen. Selbstdisziplin lehren und lernen: Nicht jeder Wunsch muss auch gleich erfüllt werden. Hohe Erwartungen haben – und das Ziel in vielen kleinen Einzelschritten ansteuern.

Sehr viel anders kann es bei Einstein auch nicht gewesen sein, ist der Autor überzeugt – und bei Mozart erst recht nicht. Damit versetzt er dem Geniekult wirklich den Todesstoß. Denn was Biografen über den angeblich von Geburt an genialen kleinen Amadeus herausgefunden haben, ist nie so recht im Allgemeinwissen angekommen. Shenk gibt Nachhilfe:

„Mozart wurde nämlich – beginnend schon vor seiner Geburt – in Musik geradezu gebadet. Vater Leopold war ein überaus ehrgeiziger Musikpädagoge. Seine Konzentration auf Technik und sein Impuls, schon kleine Kinder zu unterrichten, sollten im 20. Jahrhundert von vielen Pädagogen übernommen werden. Mit rasch sich entwickelndem Ohr, großer Neugier und getragen von einer Woge familiären Know-hows, war Amadeus in der Lage, einen beschleunigten Entwicklungsprozess zu durchlaufen. Heute jedoch spielen viele Kinder, die nach ähnlichen Lernprogrammen unterrichtet werden, genauso gut, wenn nicht gar besser.“

Nicht immer kommt der Schubs in Richtung Erfolg so sanft daher. Den jungen Beethoven hat gelegentlich auch eine Tracht Prügel zur Hochleistung angetrieben. Und beim späteren Basketballstar Michael Jordan war es die tiefe Kränkung: Er schaffte es bei seinen ersten Versuchen nicht mal ins Schulteam. Solche Geschichten breitet David Shenk ganz nüchtern und ohne Wertung aus. Aber ist das alles ein Freibrief für die „Tigermütter“ dieser Welt, eine Erlaubnis für unbarmherzigen Leistungsdrill und vielleicht sogar für Kinderdoping mit Ritalin und Co?

Womöglich spüren amerikanische Leser diesen eisigen Luftzug im Text nicht im gleichen Maß. Denn in der Kultur der USA ist der Drill, der Kampf, die Konkurrenz als Motivation sehr viel stärker verwurzelt. Der US-Autor Shenk hält sogar die Rivalität zwischen den Renaissance-Künstlern Michelangelo und Da Vinci für deren stärksten Schaffens-Antrieb. Ein ziemlich amerikanisches Buch, ganz klar: Da beginnt ein Kapitel mit einem erbaulichen Zitat von Präsident Barack Obama zur Beharrlichkeit. Da schleichen sich Sätze ein, die von einem Motivations-Guru stammen könnten: schwülstig und beinahe totalitär.

Aber: Shenk kriegt jedes Mal die Kurve. Mit schlüssiger Argumentation und sorgfältigen Belegen. Die finden sich im ausführlichen, gut lesbaren Anhang des Buches, noch einmal knapp 200 Seiten. Hier errechnet der Autor übrigens auch sein eigenes Arbeitstempo:

„Dieses Buch hat mich fast drei Jahre gekostet. Schnelle Berechnung: Vierzigtausend Wörter, geschrieben in fünftausend Stunden, ergibt ganze acht Wörter pro Stunde. Meine Einstellung zu meiner Arbeit ist simpel: Ich gehe davon aus, dass alles, was ich schreibe, Blödsinn ist, bevor ich nicht das Gegenteil bewiesen habe. Ich schreibe einen Satz, einen Absatz, ein Kapitel zwanzig-, dreißig-, vierzigmal um – so lange, bis ich zufrieden bin.“

Zufrieden sein kann David Shenk: Sein Buch führt knapp und klar in aktuelle Themen der Genetik ein. Und es ist ein bisschen unbequem, weil es die Frage stellt: Worin wollen Sie richtig, richtig gut sein? Dann strengen Sie sich mal an. Denn die Ausrede vom mangelnden Talent gilt ab sofort nicht mehr.

David Shenk: Das Genie in uns. Neue Erkenntnisse über Begabung und Intelligenz.
Hoffmann und Campe
Cover: "Das Genie in uns" von David Shenk
Cover: „Das Genie in uns“ von David Shenk© Hoffmann und Campe