Kritiker in der Kritik

Wenn Theater sich wehren

04:07 Minuten
In einem Fernsehstudio sitzen Gäste in einer Gesprächsrunde über Theaterkultur, 1974. Zu sehen sind hinter einem Pult (v.l.n.r.): Prof. Dr. Hand Göppert, Freifrau von Uexküll, August Everding, Gertrud Kückelmann, Dr. Reinhard Baumgart, Luc Bondy.
So sah 1974 noch eine Gesprächsrunde über Theaterkultur aus. © IMAGO / United Archives / IMAGO / United Archives / kpa
Ein Kommentar von Tobi Müller · 10.09.2022
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2021 sorgte Karin Beier, Intendantin am Schauspielhaus Hamburg, für Aufregung unter vielen Journalisten. Die Theaterkritik sei „die Scheiße am Ärmel der Kunst“, fand sie. Journalist Tobi Müller über die Kritik an der Kritik.
Soziale Medien sind kein safe space, sicher. Wenn aber ein gestandener Schauspieler wie Benny Claessens auf Facebook jedes Niveau unterschreitet und eine Kritikerin beleidigt, erschrickt man doch noch einmal.
Wir wollen nicht wiederholen, was Claessens, der in Zürich am Theater Neumarkt Regie führte, der Kollegin von nachtkritik.de alles hinterherrief. Würden wir Kritiker:innen nur im Ansatz so beleidigende Anwürfe in Richtung Theater schmeißen, wären wir den Job zu recht los.

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Solche Wutreden würden die Schranken einer Redaktion aber nie passieren. Claessens hat den Eintrag gelöscht. Was soll’s, ein Künstler hat die Nerven verloren.
Doch das Kritikerbashing hört nicht auf: Theaterschaffende des Kunstfestes Weimar kündigten die Prüfung „rechtlicher Schritte“ gegen eine gesprochene Kritik im Deutschlandfunk an (die auf Anfrage nun doch nicht folgen). Und vor bald einem Jahr bezeichnete Karin Beier, Hamburger Theaterleiterin, die Kritik pauschal als „Scheiße am Ärmel“.

Theaterkritik ist auf Social Media fast verschwunden

Fehlt in der Kunst eine grundlegende Unterscheidungskompetenz, ob man sich aufregt und flucht oder ob man öffentlich spricht?
Ja, aber nicht nur da.
Denn hat der Journalismus diesen Unterschied so viel besser im Griff? Gibt es eine stabile Mauer zwischen autonomer, abwägender Kritik und dem Populismus der Klicks? Jede Redaktion sieht heute online, wie oft ein Text gelesen wird und woher der Traffic kommt, oft über einen Link auf Facebook oder Twitter.
Hier wie dort regiert die kalte Logik der großen Zahl: Viele Klicks erhalten nur die größten Themen. Das Phänomen heißt Konzentration, jedes algorithmische System in sozialen Medien verstärkt das digitale Rudelverhalten – viel Aufmerksamkeit für die Spitze, fast keine für die weniger populären Themen.
Das ist mit ein Grund, warum Theaterkritik auf Social Media wie bei großen Onlinemedien keine Chance hat und schon so gut wie verschwunden ist.

"Auch die Kritik muss Widerspruch aushalten"

Es ist also nicht falsch, der Theaterkritik eine grundlegende Krise zu unterstellen und ihre Wirkung schwinden zu sehen, wie die beiden Leitungsfiguren Amelie Deuflhard und Matthias Lilienthal in einem Gespräch auf der Website des Berliner Theatertreffens ("Aber ansonsten lieben wir das Theater").
Und Gegenverkehr ist zentral für die digitale Kultur. Auch die Kritik muss Widerspruch aushalten, alles andere wäre unglaubwürdig. Aber wer in der Öffentlichkeit spricht, sollte sich an ein paar Regeln halten, wie das der Journalismus zumindest versucht.
In einer späten Runde am Rande eines Festivals kann man einen Berufsstand abschaffen wollen. Aber als programmatisches Gespräch auf den Seiten der Berliner Festspiele verströmen ähnliche Sätze den Geruch der Verachtung. Natürlich gibt es auch Kritiker, die hassen.

Noch gibt es den breitbeinigen Mann

Mein Eindruck: Der breitbeinige kleine Mann mit seinen großspurigen Platzverweisen ist nicht ganz verschwunden aus der Kritik. Aber er ist kein dominantes Modell mehr, die Mehrheit der Kritik wählt heute einen vorsichtigeren Ton. 
Wer wirtschaftlich am Boden liegt, wird heftiger getreten. Das ist im angeblich demokratierelevanten Theaterbetrieb nicht anders als auf der Straße. Den Theatern geht es besser als der Kritik, auch weil die Häuser öffentlich gefördert sind und die Medienhäuser nicht (vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den Sie hier nutzen, abgesehen).

Die Krise wird aber auch die Theater selbst treffen. 

Journalist Tobi Müller

Wie nur schon der Publikumsschwund die Kunst bedroht, ist mit ein Grund, warum der Stärkere nervös und lauter wird. Statt sich so rüde mit der Kritik zu beschäftigen, sollte man sich aktuell etwas mehr um das Publikum kümmern, das in der Pandemie keine Rolle gespielt hat und jetzt als relevante Größe zurückkehrt.
Oder eben nicht.
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