Wenn Staat und Bürger das Gesetz ignorieren

Rezensiert von Katja Wilke · 01.05.2013
Filesharing im Internet, Steuerhinterziehung oder Verstöße gegen EU-Verträge: In diesem Sammelband beschreiben mehrere prominente Autoren, wie in unserer Gesellschaft massenhaft das Gesetz gebrochen wird. Der Leser bekommt interessante Denkanstöße - und einige paradoxe Erklärungen.
Es ist ein gehöriger Spagat, den Corinne Michaela Flick vollführt. Sie hat Beiträge von namhaften Autoren zusammengestellt, die dieses spannende und hochaktuelle Thema von ganz unterschiedlichen Seiten angehen.

Zum einen untersuchen sie, wie es sich auswirkt, wenn Bürger massenhaft Gesetze ignorieren, wie etwa beim Filesharing im Internet. Im Mittelpunkt steht aber die Frage, welche Folgen es haben kann, wenn der Staat sich nicht an geltende Verträge hält – wie zuletzt im Rahmen der Eurokrise.

In diesem Punkt gehen Autoren wie Jürgen Stark die Rettungspolitik der EU-Staaten hart an. Das ehemalige Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank ist skeptisch, ob neue Regeln für das Zusammenspiel von Europa sinnvoll sind, solange die Nichtbeachtung der alten regelmäßig ohne Sanktionen bleibt.

Eine weitere Eskalation der Krise hält Stark für wahrscheinlich. Grund dafür ist seiner Meinung nach, dass der Vertrag von Maastricht im Jahre 2010 ausgehebelt wurde. Stark schreibt:

"Prinzipien und Regeln, die zu allen Zeiten und nicht nur in 'Schönwetterperioden' Leitplanken politischen Handelns sein sollen, wurden als störend empfunden, weil sie den politischen Gestaltungsspielraum einschränken. Aber gerade in Krisenzeiten sollen Prinzipien mittelfristige Orientierung geben."

Dem Recht seine Würde zurückgeben
Auch Verfassungsrichter Peter M. Huber pocht darauf, dass europäische Verträge strikt eingehalten werden müssen. Diese Achtung vor dem Recht sieht er als Grundlage unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates, weil sie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung der Bürger garantiere. Sie sei wichtiger als der Euro. Sollten die Märkte in den vergangenen Jahren die Oberhand gewonnen haben, müsse dieser Missstand beendet werden:

"Dazu müssen wir die Dignität des Rechts wieder ernster nehmen. Kein 'Forget about the treaty', kein 'Not kennt kein Gebot', weil irgendwer in Washington, Brüssel, Paris, Frankfurt oder Berlin eine Notsituation behauptet.

Sich darauf einzulassen bedeutet einen 'Slippery Slope': Wenn man sich einmal auf diesen Weg begibt, findet man immer wieder neue situative Rechtfertigungen; die Kurve zu Recht und Gerechtigkeit bekommt man nicht mehr."


Nicht nur im Hinblick auf europäische Verträge, auch hinsichtlich der Staatsverschuldung machen sich einige der Autoren Sorgen, weil in deren Folge auch das Recht dramatisch an Bedeutung verliere, wie der Steuer- und Staatsrechtler Paul Kirchhof mahnt:

"Die Instabilität des Rechts ist ein zu hoher Preis für die Finanzierung der überhöhten Staatsverschuldung und der Finanzmarktkrise. Die Lösung liegt in einer stetigen Annäherung an das Recht. Wenn die Staatsorgane in der noch andauernden Illegalität von Überschuldung und Finanzmarkt sich in jedem Schritt dem Recht annähern müssen, entsteht ein gewaltiger Sanierungsdruck. Das Parlament ist gefordert. Finanzkrisen sind schon immer die Stunde demokratischer Erneuerung."

Wenn der Staat Recht bricht, verspielt er also wertvolles Vertrauen in die Politik.

Welche Folgen aber hat es für die Gesellschaft, wenn die Bürger ihrerseits kollektiv das Recht brechen? Etwa durch massenhafte Urheberrechtsverletzungen im Internet, durch Schwarzarbeit oder durch Steuerhinterziehung? Die Freiheit des Einzelnen drohe verloren zu gehen, warnt Herausgeberin Corinne Michaela Flick, eine promovierte Rechts- und Literaturwissenschaftlerin.

"Es gilt zu erkennen, dass es im Eigeninteresse des Einzelnen liegt, sich Regelungen zu unterwerfen. Denn auch wenn diese die eigene Souveränität einschränken, gewähren sie Schutz und Sicherheit. Erst wenn man sich die Funktion des Rechts bewusst macht, erkennt man, wie gefährlich es ist, Gesetze nicht zu beachten und sie dadurch schleichend auszuhöhlen."

Unklare Gesetze werden besonders oft gebrochen
Andererseits: Wenn in der Vergangenheit in einer Gesellschaft massenhaft das Gesetz gebrochen wurde, brachte das häufig Veränderungsprozesse in Gang, so ihre Erkenntnis. Denn dadurch wurde klar, dass die rechtlichen Spielregeln nicht mehr die Anforderungen der Gesellschaft widerspiegeln.

Ursache für die fehlende Rechtstreue ist paradoxerweise also oftmals das Recht selbst. Nach Meinung einiger Autoren sind Gesetze, die besonders häufig gebrochen werden, regelmäßig unklar formuliert, ungerecht oder von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen überholt.

Der Präsident des Bundesfinanzhofs, Rudolf Mellinghoff, verteidigt deswegen die Steuerpflichtigen: Intransparente und unverständliche Gesetze müssten als Ursache für Steuerhinterziehung in Betracht gezogen werden - nicht nur der Ungehorsam des Steuerpflichtigen.

"Vielmehr hat das Steuerrecht einen Zustand erreicht, der es auch dem gutwilligen Steuerpflichtigen gelegentlich erschwert, sich gesetzeskonform zu verhalten. Insgesamt bedroht dieser Zustand unser Gemeinwesen. Den Bürgern ist das geltende Steuerrecht nur schwer vermittelbar. Die Gesetzmäßigkeit und Gleichheit der Besteuerung ist nicht mehr gewährleistet."

Mellinghoff plädiert für eine fundamentale Erneuerung des Steuerrechts. Seine Positionen sind – genau wie die einiger anderer Autoren – weithin bekannt und dürften Lesern, die die Debatten in den Medien mitverfolgen, nicht viel Neues bieten. Wer sich mit dem Thema bislang wenig auseinandergesetzt hat, wird in dem Buch aber interessante Denkanstöße finden.

Der Buchtitel jedoch verspricht mehr, als er halten kann. Warum der kollektive Rechtsbruch eine Gefahr für die Freiheit ist und warum das sowohl für den Rechtsbruch durch den Einzelnen als auch durch den des Staates gilt – vertiefte Ausführungen dazu machen leider nur wenige der Autoren.

Corinne Michaela Flick (Hg): Kollektiver Rechtsbruch
Gefahr für die Freiheit

Wallstein Verlag, Göttingen 2013
208 Seiten, 18,90 Euro


Quellenhinweise:
Jürgen Stark: "Quo vadis, Europa?"
Peter M. Huber:"Markt vs Recht"
Paul Kirchhof: "Kollektives Unrecht - Ein Weg zurück zum Recht"
Rudolf Mellinghoff: "Gesetzesgehorsam im Steuerrecht"
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