Wenn ein Geistesmensch seinen Geist verliert
Walter Jens galt lange Zeit als moralisches Gewissen der alten Bundesrepublik. Er war ein redegewandter, blitzgescheiter Intellektueller und nicht umsonst Rhetorikprofessor in Tübingen. Sein Sohn Tilman Jens beschreibt in "Demenz" den allmählichen Geistesverlust des Vaters. Er schreibt auch über sein Unverständnis über das lange Schweigen des Vaters über seine NSDAP-Mitgliedschaft. Keine Abrechnung, aber persönliches Zeugnis einer schmerzhaften Loslösung.
"Ich will [einst] sterben - nicht gestorben werden."
So forderte es Walter Jens, wortgewaltiger Anhänger der Sterbehilfe, im August 2001. Zwei Jahre später begann Jens' zerebraler Niedergang. Er wurde zum Pflegefall und äußerte oft den Wunsch, nun tatsächlich zu sterben - wozu ihm seine Verwandten nicht verhalfen. Denn er sagte auch: "Aber schön ist es doch".
Der Journalist Tilman Jens berichtet in "Demenz" von der Erkrankung seines Vaters, die begann, als dessen einstige NSDAP-Mitgliedschaft und der weltanschauliche Pakt mit den Nazis publik wurden. Er skizziert die harten Details des Pflegealltags und das menschliche wie intellektuelle Drama, das im Geist-Verlust eines Geistesmenschen liegt.
Weit entfernt vom hohen humanistischen Ton des Tübinger Rhetorik-Lehrers, schreibt Tilman Jens in literarisch aufgewertetem Reporter-Stil, unverblümt, betroffen, dennoch lakonisch. "Demenz" ist ein biographischer Einwurf, eine Kasuistik zur Sterbehilfe und ein Mosaikstein Zeitgeschichte über das stupende Schweigen der moralisch selbstgewissen Alten - Walter Jens, Günter Grass und die anderen.
Man kann "Demenz" so lesen, als ginge es um Voyeurismus, Selbstdarstellung und Ruhmsucht. Als ginge es um einen Sohn, der dem übergroßen Vater (der es mit Fontane hielt: "Wer am besten redet, ist der reinste Mensch") rhetorisch und intellektuell nicht das Wasser reichen kann und den wehrlosen Kranken nun prae mortem abserviert. Iris Radisch, Gerd Ueding und andere haben "Demenz" bald nach Erscheinen so rezipiert. Offenbar lassen sich mit Blick auf den Journalisten Tilman Jens Argumente für polemische und hämische Lesarten finden.
Blendet man feuilletonistisches Hickhack und mögliche strategische Absichten aus, erscheint das Buch gelungen. Der packende, äußert abwechslungsreiche Erzählmodus passt gut zum vielschichtigen Anliegen. Auf nur 144 Seiten verknüpft Tilman Jens seine persönliche Vater-Geschichte mit der Geschichte eines Groß-Intellektuellen der Bundesrepublik; die intim-offenherzige Pflege-Reportage aus dem Tübinger Elternhaus mit Reflexionen zur aktiven Sterbehilfe; die biographische Skizze eines asketischen Geistmenschen in seinem Hang zu großem Publikum, Wort-Opulenz und moralischer Unantastbarkeit mit dem Porträt des ehemaligen NSDAP-Parteimitglieds 9265911. Als Jugendlicher hatte Walter Jens Statements wie diese verfasst:
"Ohne ein tiefes Bekenntnis zum Völkischen ist Dichtung unmöglich".
Seine kurzzeitige Sympathie für die Nazi-Ideologie ist unstrittig, ebenso, dass er keine Verbrechen begangen und seine Haltung schnell und gründlich geändert hat.
Konnte sich der Erinnerungsartist Walter Jens - wie es sein Sohn unterstellt - tatsächlich in die Demenz flüchten, als die Gedächtnislücke in der braunen Sache aufflog? Aus medizinischer Sicht ist das wohl Unsinn. Jenseits mystischer Spekulation überträgt das Buch die Verwirrung, die die Schweigekunst der Väter bei den Söhnen noch heute auslöst. Tilman Jens ergibt sich weder dem Ärger noch dem Hass. Er entblößt das Rätsel, ohne es restlos zu lösen. Er beklagt die peinlichen Ausflüchte des Vaters, ohne sich als Richter aufzuspielen:
"Warum muss er jetzt, da eine sechzig Jahre alte Karteikarte aufgetaucht ist, so entsetzlich eiern?"
Demenz ist kein bedeutendes Werk im Walter Jens'schen Sinne. Dazu fehlt der Atem der großen Geister, mit denen der Bildungsfanatiker einst in Worten und Gedanken kommunizierte. Dennoch geht es unter die Haut.
Tilman Jens bezeugt den entsetzlichen Totalverlust eines lebendigen Menschen noch zu dessen Lebzeiten. Er berichtet ungeschönt vom anfänglichen Lügen gegenüber dem Erkrankten - "wir faseln von Hoffnung" - und von wenig zärtlichen Gefühlen, wenn in der Familie die Überforderung überhand nimmt. Er zeigt die Entfremdung als irreversibel, die Entscheidung aber, dem Vater zum "freundlichen Tod" zu verhelfen, wie vormals gewünscht, als krasse Überforderung.
"Demenz" hat ein trauriges Happy End. Walter Jens wird mittlerweile von der Pflegerin Margit betreut, die er so gern hat wie sie ihn. Er verfüttert nun mit naiver Freude Mohrrüben an die Karnickel in Margits Stall. Und in einer Kinderfibel übt er das Lesen.
Rezensiert von Arno Orzessek
Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009
144 Seiten, 17,95 EUR
So forderte es Walter Jens, wortgewaltiger Anhänger der Sterbehilfe, im August 2001. Zwei Jahre später begann Jens' zerebraler Niedergang. Er wurde zum Pflegefall und äußerte oft den Wunsch, nun tatsächlich zu sterben - wozu ihm seine Verwandten nicht verhalfen. Denn er sagte auch: "Aber schön ist es doch".
Der Journalist Tilman Jens berichtet in "Demenz" von der Erkrankung seines Vaters, die begann, als dessen einstige NSDAP-Mitgliedschaft und der weltanschauliche Pakt mit den Nazis publik wurden. Er skizziert die harten Details des Pflegealltags und das menschliche wie intellektuelle Drama, das im Geist-Verlust eines Geistesmenschen liegt.
Weit entfernt vom hohen humanistischen Ton des Tübinger Rhetorik-Lehrers, schreibt Tilman Jens in literarisch aufgewertetem Reporter-Stil, unverblümt, betroffen, dennoch lakonisch. "Demenz" ist ein biographischer Einwurf, eine Kasuistik zur Sterbehilfe und ein Mosaikstein Zeitgeschichte über das stupende Schweigen der moralisch selbstgewissen Alten - Walter Jens, Günter Grass und die anderen.
Man kann "Demenz" so lesen, als ginge es um Voyeurismus, Selbstdarstellung und Ruhmsucht. Als ginge es um einen Sohn, der dem übergroßen Vater (der es mit Fontane hielt: "Wer am besten redet, ist der reinste Mensch") rhetorisch und intellektuell nicht das Wasser reichen kann und den wehrlosen Kranken nun prae mortem abserviert. Iris Radisch, Gerd Ueding und andere haben "Demenz" bald nach Erscheinen so rezipiert. Offenbar lassen sich mit Blick auf den Journalisten Tilman Jens Argumente für polemische und hämische Lesarten finden.
Blendet man feuilletonistisches Hickhack und mögliche strategische Absichten aus, erscheint das Buch gelungen. Der packende, äußert abwechslungsreiche Erzählmodus passt gut zum vielschichtigen Anliegen. Auf nur 144 Seiten verknüpft Tilman Jens seine persönliche Vater-Geschichte mit der Geschichte eines Groß-Intellektuellen der Bundesrepublik; die intim-offenherzige Pflege-Reportage aus dem Tübinger Elternhaus mit Reflexionen zur aktiven Sterbehilfe; die biographische Skizze eines asketischen Geistmenschen in seinem Hang zu großem Publikum, Wort-Opulenz und moralischer Unantastbarkeit mit dem Porträt des ehemaligen NSDAP-Parteimitglieds 9265911. Als Jugendlicher hatte Walter Jens Statements wie diese verfasst:
"Ohne ein tiefes Bekenntnis zum Völkischen ist Dichtung unmöglich".
Seine kurzzeitige Sympathie für die Nazi-Ideologie ist unstrittig, ebenso, dass er keine Verbrechen begangen und seine Haltung schnell und gründlich geändert hat.
Konnte sich der Erinnerungsartist Walter Jens - wie es sein Sohn unterstellt - tatsächlich in die Demenz flüchten, als die Gedächtnislücke in der braunen Sache aufflog? Aus medizinischer Sicht ist das wohl Unsinn. Jenseits mystischer Spekulation überträgt das Buch die Verwirrung, die die Schweigekunst der Väter bei den Söhnen noch heute auslöst. Tilman Jens ergibt sich weder dem Ärger noch dem Hass. Er entblößt das Rätsel, ohne es restlos zu lösen. Er beklagt die peinlichen Ausflüchte des Vaters, ohne sich als Richter aufzuspielen:
"Warum muss er jetzt, da eine sechzig Jahre alte Karteikarte aufgetaucht ist, so entsetzlich eiern?"
Demenz ist kein bedeutendes Werk im Walter Jens'schen Sinne. Dazu fehlt der Atem der großen Geister, mit denen der Bildungsfanatiker einst in Worten und Gedanken kommunizierte. Dennoch geht es unter die Haut.
Tilman Jens bezeugt den entsetzlichen Totalverlust eines lebendigen Menschen noch zu dessen Lebzeiten. Er berichtet ungeschönt vom anfänglichen Lügen gegenüber dem Erkrankten - "wir faseln von Hoffnung" - und von wenig zärtlichen Gefühlen, wenn in der Familie die Überforderung überhand nimmt. Er zeigt die Entfremdung als irreversibel, die Entscheidung aber, dem Vater zum "freundlichen Tod" zu verhelfen, wie vormals gewünscht, als krasse Überforderung.
"Demenz" hat ein trauriges Happy End. Walter Jens wird mittlerweile von der Pflegerin Margit betreut, die er so gern hat wie sie ihn. Er verfüttert nun mit naiver Freude Mohrrüben an die Karnickel in Margits Stall. Und in einer Kinderfibel übt er das Lesen.
Rezensiert von Arno Orzessek
Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009
144 Seiten, 17,95 EUR