Wenig Gegenwehr gegen das "System Putin"

Von Barbara Lehmann |
Eigentlich sollte beim internationalen Berliner Literaturfestival unter dem Titel "Das System Putin" der russische Machtapparat analysiert werden. Doch blieben die meisten Teilnehmer bei Klischees und Allgemeinplätzen. Es schien, als hätten die russischen Intellektuellen vor der Allmacht des Kremls kapituliert.
Robert Amsterdam: " Der Chodorkowskij - Prozess hat nichts mit Rechtsfragen zu tun. Im Gegenteil, es handelt sich um eine Attacke, eine Art feindliche Übernahme. Chodorkowskij hat seit 1999 Jukos zu einem transparenten, internationalen Konzern umstrukturiert, doch Transparenz ist für die heutigen Machthaber gefährlich. Mit dem Prozess will das Putin-Regime sein autoritäres System, in dem es riesige Grauzonen der Illegalität gibt, konsolidieren. Es herrscht neoamerikanische Beliebigkeit und Willkür. Russland geht wieder zurück in die Vergangenheit. Gorbatschow hat richtig gesagt, es geht nicht darum Chodorkowskij einzuschüchtern, sondern uns alle. Der Vorgang erinnert an die Aktivitäten der GPU, an die stalinistischen Schauprozesse."

Robert Amsterdam, der kanadische Verteidiger des zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilten Jukos-Chefs Chodorkowskij, verwandelte in einem flammenden Plädoyer die Bühne der Berliner Festspiele in einen Gerichtssaal. Der Angeklagte war diesmal Wladimir Putin, den er allein verantwortlich machte für die herrschenden Missstände der russischen Gesellschaft. Putin einen "lupenreinen Demokraten" zu nennen, wie es Bundeskanzler Schröder tue, sei eine Schande.

Der russische Präsident sei verantwortlich für die Zerstörung der unabhängigen Presse und der Unabhängigkeit der Gerichte, für die faktische Abschaffung der freien Wahlen, für Gewalt, Terror und Zerstörung in Tschetschenien. Straßengangs belästigen die Menschen auf der Strasse und sorgen überall für ein Klima der Angst. Der Prozess gegen Chodorkowskij sei eine unmittelbare Folge des Tschetschenien-Krieges.

Eduard Limonow: " Wir sind an Ketten geschmiedet, Russland ist ein Gefängnis der Völker, wie schon im 19. Jahrhundert. Eine Ideologie gibt es nicht, die politischen und persönlichen Freiheiten sind in den letzten fünf Jahren schrittweise beseitigt worden. Die Gruppe um Putin, insbesondere die Administration des Präsidenten, hat die meiste Macht. Das ist gegen die Verfassung, denn dort wird die Administration des Präsidenten nicht mal erwähnt. Russland wird von Putins Küchenkabinett regiert, diesen Kreml-Figuren, die nicht mal in der Regierung sind. "

Deutliche Worte zum Zustand der russischen Politik. Geäußert von dem Schriftsteller und Oppositionsführer Eduard Limonow vor ein paar Tagen in Moskau über die Machtposition des Kreml. Die Veranstaltung "Das System Putin" auf dem Berliner Literaturfestival ließ solche direkten Aussagen vermissen. Der einzige dort angekündigte Politiker, der Führer der liberalen Partei "Jabloko" hatte kurzfristig abgesagt.

So saßen sich zwei Politologen und ein Schriftsteller gegenüber, die sich trotz winziger Meinungsverschiedenheiten im Detail allzu einig waren in ihrem Unvermögen oder auch Unwillen, die heutigen Machtstrukturen zu analysieren. Statt Fakten präsentierten sie nur die üblichen Glaubenssätze und Klischees, oder ergötzten sich an paradoxen Formulierungen.

Putin gebe es gar nicht, behauptete etwa der Schriftsteller Viktor Jerofejew. Das russische Volk erinnere ihn an einen, der aus dem Rausch erwache und sich am Hintern kratze. Putin wurde von ihm zum aufgeklärten Europäer erklärt, während das tumbe Volk das bekommen habe, was es verdiene: den Untergang des U-Bootes "Kursk", den korrupten Kreml, Beslan.

Andrej Piontkowskij, der Direktor des Moskauer Instituts für Strategische Studien, machte aus Putin hingegen einen Modernisierer. Er sei das Opfer, ja die Geisel von Bürokraten und Meinungsmachern.

Einzig Lilia Schewzowa, Professorin am Moskauer Carnegie-Institut, hielt dagegen: Putin habe das System schließlich geschaffen. Sie war auch die einzige, die zumindest ansatzweise versuchte, Licht ins Dunkel der Machtstrukturen des Kremls zu bekommen.

Während Jerofejew von einem Ameisenhaufen sprach, in dem er nicht wühlen wolle, erwähnte sie zumindest in einer Nebenbemerkung, dass es neben den oft beschworenen Geheimdienstlern um Putin noch weitere Gruppen von Mächtigen gebe: Bürokraten etwa, die die ökonomischen Entscheidungen im Spiel zwischen Zentrum und Provinz fällten, auch eine einflussreiche Garde so genannter Liberaler. Der Verdacht kam auf, dass die heutigen russischen Intellektuellen vor der Allmacht des Kremls kapituliert haben.

Alina Wituchnowskaja: "Es gibt viele Spekulationen um den Fall von Chodorkowskij. Ich weiß nicht, ob er schuldig ist, ich bin mit den Details zu wenig vertraut. Doch wenn man in Russland ein Finanzimperium errichtet, ist das in der Regel mit der Verletzung von Gesetzen verbunden. Eine andere Sache ist, dass das Imperium von Jukos ein Imperium innerhalb eines anderen Imperiums war, des Imperiums des russischen KGB, verkörpert von Putin. Jukos und die Putin-Regierung haben nach dem gleichen Schema, den gleichen Standards operiert. Jukos war ein Staat im Staat. Jukos hat ebenfalls Anspruch auf die Macht erhoben, damit ist Chodorkowskij in Konkurrenz zu Putin getreten. "

Solche kritischen Töne zu Chodorkowskij wie die der Dichterin Alina Wituchnowskaja – ebenfalls vergangene Woche in Moskau zu hören - waren in der Berliner Diskussionsrunde zum Fall Chodorkowskij zwar nicht zu vernehmen. Doch angeregt von den klugen Fragen des Moderators Jörg Hafkemeyer kamen hier zumindest unterschiedliche Positionen zu Wort.

Mit Ruslan Chasbulatow, der einst den Putsch gegen Jelzin angeführt hatte, saß dort ein entschiedener Gegner des heutigen oligarchischen Kapitalismus. Der Wirtschaftsprofessor präsentierte Fakten statt Meinungen. So erinnerte er daran, dass die Demokratie in Russland schon allein deswegen diskreditiert sei, weil der Lebensstandard der Bevölkerung heute viel, viel niedriger sei als noch vor 15 Jahren. 80% der Bevölkerung seien gegen Chodorkowskij, ob er nun zu Unrecht verurteilt sei oder nicht. Putin sei also nur ein Erfüllungsgehilfe der Wünsche seines Volkes.

Auch der Professor für Osteuropäische Geschichte, Hans Henning Schröder, blieb sachlich. Er führte an, dass in den letzten "demokratischen" Jahren die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung von 67 auf 58 Jahre gesunken sei. Demokratie sei in Russland kein Synonym für Freiheit, sondern für den Kampf ums Überleben. Ist die Lage also hoffnungslos, fasste Moderator Hafkemeyer abschließend zusammen, was kann man tun?

Hier aber blieben die Diskutanten vage. Robert Amsterdam beschwor Optimismus und appellierte an die Courage, auch des Westens, der mit deutlicher Kritik an Russland nicht geizen solle. Professor Schröder erinnerte daran, dass positive Veränderungen, wie im Fall der Ukraine, Georgiens und Kirgisiens, letztlich von innen, aus dem Land selbst kommen müssten. Und Ruslan Chasbulatow, der gebürtige Tschetschene, gestand, nach der kompletten Zerstörung seines Landes glaube er nur noch an die Rettung durch Gebete.
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