Wende-Erinnerungen umgekehrt

Wessis im Osten sind zum Schweigen verurteilt

04:31 Minuten
Karikatur zwei aneinandergenähter Zwillinge mit einer Deutschlandfahne auf dem Bauch. Ein Arzt sagt ihnen: "Wenn das so weitergeht, muss ich euch wieder trennen."
Westdeutsche, die in den Wendejahren in den Osten zogen, seien bis heute zum Schweigen verurteilt, kritisiert Astrid von Friesen. © Picture Alliance / dieKLEINERT.de / Leopold Maurer
Eine Polemik von Astrid von Friesen · 29.12.2020
Audio herunterladen
Im Wendeerinnerungsjahr wurden die Berichte von Westdeutschen, die in den Osten zogen, wenig beachtet. Pauschal wurden sie als Glücksritter, Krisengewinnler und Schnäppchenjäger dargestellt. Das ärgert die Therapeutin Astrid von Friesen.
Betreiben wir heute einen Tabubruch: Zu allen Jahrestagen der politischen Wende 1990 werden Ostdeutsche zu ungezählten Aspekten interviewt. Doch selten ehemalige Westdeutsche, die vielleicht seit 30 wichtigen Jahren ihres Lebens im Osten arbeiteten und eine Existenz aufbauten. Dabei gäbe es viel zu erzählen, also persönliche Erfahrungen miteinander auszutauschen.
Ein Hochdeutsch sprechender Beamter aus Bonn – zum Beispiel – wollte 1990 in Leipzig Büroräume für den Wirtschaftsrat Deutschland anmieten. Die ruppige Antwort des Hausmeisters: "An Ausländer vermieten wir nicht!" Oder: In Freiberg wurde 1991 das Sächsische Oberbergamt neu gegründet, mit 130 neuen Stellen für hochqualifiziertes Personal. Mit der Folge, dass der Präsident erstzunehmende Morddrohungen erhielt – warum, wurde nie geklärt.

Unter dem Preisdruck litten auch die Wessis

Und dann der rasch um sich greifende Kapitalismus: Wegen der extremen Wohnungsnot und nicht vorhandener Hotels fand ein delegierter Westbeamter nur eine Loggia. Sechs Quadratmeter ohne Heizung, jedoch mit einer Monatsmiete von 1000 Westmark! Und in Greifswald kostete 1989 ein Pensionszimmer mit einer würdelosen Toilette und einem tröpfelnden Wasserhahn 250 Westmark. Damals der Preis für ein Luxushotelzimmer im Westen!
In einer Kleinstadt wollte ein Westdeutscher für seine Familie ein ehemaliges Franziskanerkloster in der Stadtmitte kaufen. Erst bei den fortgeschrittenen Vertragsverhandlungen mit der Stadt erfuhr er, dass er eine öffentliche Toilette auf dem Grundstück mit einer Planstelle für eine Toilettenfrau übernehmen solle. Er verzichtete, woraufhin das historische Gemäuer ebenso wie die Toilette 20 Jahre leer standen!
Natürlich kamen aus dem Westen auch Glücksritter, zwielichtige Gestalten und Karrieristen. Sie werden ewig zitiert. Aber es gab auch die Engagierten, die – wie manche aus meiner Familie – 1945 nach 700 Jahren aus Ostdeutschland vertrieben wurden, die trotz Enteignungen, trotz verzweifelter Flucht zurückkehrten. Nicht um einen alten Stand wiederherzustellen, sondern um dieses Land mit aufzubauen.

Höflichkeit als Unterwerfungsgeste

Es gab viele, die gutwillig über die oben zitierten Seltsamkeiten hinwegsahen, versuchten zu verstehen, die vieles taten, um die DDR-Bürger nicht zu beschämen. Dazu eine symptomatische Anekdote: Wir besuchten 1999 Freunde, die in Mecklenburg ihren Urlaub verbrachten. Beim Teetrinken auf der Terrasse kam ein Nachbar hinzu und erzählte nonstop zwei Stunden von seinen Erlebnissen als Lastwagenfahrer. Wir sechs Westdeutsche waren nicht in der Lage, diesem Redefluss Einhalt zu gebieten. Warum? Jeder hatte Scheu, als arrogant, als Besser-Wessi zu gelten. Also duldeten wir diesen Rede-Tsunami in schweigender Höflichkeit.
Über die Zugezogenen aus den alten Bundesländern zu sprechen, ist ein Tabu. Psychoanalytisch interpretiert: Da die Folgen der Diktatur vielfach abgewehrt wurden – ebenso wie das, was DDR-Bürger sich gegenseitig antaten –, wurde viel Böses auf die Wessis projiziert, und diese fühlten sich hilflos und unterschwellig stigmatisiert. Als seien sie alle Okkupanten, Kapitalisten, seien im Westen nicht erfolgreich gewesen, seien arrogant. Also Täter per se. Und solche fragt man dann nicht nach ihrem Leben, ihren Gefühlen oder lädt sie nach Hause ein.
Es wird nicht gefragt, wie sie zum Beispiel ihren Umzug von Bonn nach Dresden erlebt hätten. Überhaupt: aus welcher Motivation heraus sie in den Osten gezogen seien? Ich würde doch auch Bayern fragen, was sie nach Bremen verschlug?
Viele Ostdeutsche klagen über Diskriminierungen in Westdeutschland. Aber dürfte sich je ein Westdeutscher über erlittene Diskriminierungen und Ausgrenzungen beschweren? Oder müssen wir uns alle der wenig tröstlichen Überlieferung beugen, dass man in Hamburg erst in der vierten Generation und in Rom in der siebten Generation wirklich als einheimisch gilt?

Astrid von Friesen ist Diplompädagogin, Gestalt-, Trauma- und Paartherapeutin und Publizistin in Dresden, ehemalige Dozentin an der TU Freiberg, Lehrerfortbildnerin sowie Supervisorin.



© privat
Mehr zum Thema