Wendejahr in Ost und West

Eindrücke aus einem ungültigen Land

29:47 Minuten
Leipzig, April 1990
Leipzig, April 1990 © Spector Books / Gerhard Gäbler
Von Tobias Lehmkuhl · 02.10.2020
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1990 war ein Jahr voller Umbrüche und des Stillstands zugleich. Dies dokumentieren der Autor Martin Gross, der 1990 vom Westen in den Osten ging, und der Leipziger Fotograf Matthias Hoch, der sich 1990 vom Osten in den Westen aufmachte.
Ein Autor aus dem Westen erläuft und erschreibt sich eine Stadt im Osten und ein Fotograf aus dem Osten lebt eine Zeitlang im Westen und bildet seine "Neue Heimat" ab - um beider Eindrücke geht es in dieser Sendung.

Stillstand hier, glänzende Oberflächen dort

In seinem Buch "Das letzte Jahr" hat Martin Gross seine Erlebnisse des Wendejahres 1990 festgehalten. Er zeigt eine Gesellschaft, der trotz allem der Stillstand eingeschrieben zu sein scheint. "So stehen sie herum und wissen mit der ganzen Revolution nichts anzufangen als mit der Ausreise zu drohen", schreibt Gross im Januar 1990.
Ganz anders sehen die Bilder aus, die der Leipziger Fotograf Matthias Hoch 1990 im Westen gemacht hat. Aber auch die glänzende Oberfläche von Autos und Parkdecks zeugt davon, dass vieles in der "neuen Heimat" bis heute unverändert geblieben ist.

"Warum wollt ihr nichts Eigenes entwickeln?"

Martin Gross kam aus dem alternativ-linken Spektrum der Bundesrepublik. Wie er erzählt, wurde er ein bisschen "als Miesepeter" wahrgenommen, "der sagt: Warum wollt ihr das alles haben? Klar, natürlich, die Freiheit, unbedingt. Kein Einwand dagegen. Aber warum wollt ihr die ganzen Waren, die ganzen Produkte und den ganzen Konsum des Westens haben? Warum wollt ihr nicht was Eigenes entwickeln?"

Gross, 1952 im Schwarzwald geboren, zog 1990 aus Neugierde nach Dresden. Dort wollte er "das letzte Jahr" der DDR aus nächster Nähe miterleben.
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990© Spector Books / Matthias Hoch
Aber er war auch dabei, sich beruflich neu zu orientieren. Er hatte an der Uni gearbeitet, einen Roman geschrieben. Jetzt wollte er es als Journalist probieren und Reportagen schreiben. Was lag da näher, als in dieses Land im Umbruch zu reisen? Dort hatte er entfernte Verwandte, die ihm vielleicht ein paar Türen öffnen würden, auch wenn sie ihn als Miesepeter empfanden.
"Andererseits war ich der Privilegierte, das muss man auch dazu sagen. Zumindest bis zur Währungsunion war der offizielle Wechselkurs eins zu fünf, auf dem Schwarzmarkt eins zu zehn. Mit 500 DM konnte man da wirklich was auf den Tisch hauen. Das fiel mir auch auf, wie privilegiert man da lebte. Privilegiert natürlich auch in dem Sinn, dass man derjenige ist, der trotz aller Kritik am Westen sozusagen das System repräsentiert."

Mit der Wende begann die Weltwirtschaft

Gross kam mit vielen Dresdnern ins Gespräch – mit Staatsanwälten, Journalisten, Putzfrauen, auch mit Glücksrittern aus dem Westen. Beim Schreiben ging es ihm allerdings weniger um journalistische Wahrheit, sondern um um literarische Wahrhaftigkeit, erzählt er.
Jetzt, 30 Jahre später, pünktlich zum Jahrestag der Wiedervereinigung, liegt eine Neuausgabe von "Das letzte Jahr" vor. Und vieles darin klingt heute erstaunlich hellsichtig, ja geradezu prophetisch. So heißt es an einer Stelle:
"6. April 1990. Alle Welt glaubt, hier und heute erlebe man das Ende des Sozialismus. Offensichtlich erleben wir aber vor allem den ultimativen Beginn der Weltwirtschaft. Womöglich verdeckt das politische Drama einen viel weitreichenderen Skandal: dass es heute möglich ist, jedes Land über seinen Außenhandel aufzuknacken. Dass sich die DDR 'sozialistisch' nannte, erleichtert den Konzernen lediglich die Polemik."
Was vielen damals am dringlichsten schien: die Währungsunion, die wirtschaftliche Einheit, die leichte Verfügbarkeit von Waren.

Visafrei nach Hawaii

Auch der Leipziger Fotograf Matthias Hoch wechselte im Januar 1990 das Land: Von der DDR ging er für ein halbes Jahr in den Westen, nach Essen. Ein Stipendium gab ihm die Möglichkeit, die "Neue Heimat", wie er seine dort entstandene Fotoserie nannte, kennenzulernen.
"Bis zum Mauerfall, bis zum Dezember 1989, war da dieses große, stolze Gefühl: Wir haben es geschafft, unblutig. Wir sind am Ziel. Aber dann kam die bange Frage: wie weiter? Erst dann hat sich gezeigt, dass die Vorstellungen, die Wünsche, die Erwartungen extrem auseinandergingen."
Die einen wollten visafrei nach Hawaii, die anderen wünschten sich erstmal ein Telefon, einen Fernseher oder ein Auto oder eine Waschmaschine.

Der Westen als Sehnsuchtsort

Sein Bild vom Westen war ein Sehnsuchtsbild, sagt er. Sein Vater war evangelischer Kantor in der DDR. Weil Religion und Kirche in der DDR bestenfalls geduldet wurden, beschreibt er sein Heranwachsen als schwierig – am Rande der Gesellschaft.

Herausgegeben vom Leipziger Verleger Jan Wenzel, umfasst "Das Jahr 1990 freilegen" 600 großformatige Seiten mit Texten und Bildern aus dem Jahr der Wiedervereinigung. Das Jahr ist zwar nicht ganz so symbolisch aufgeladen wie das Jahr 1989. Allerdings vollzogen erst in diesem Jahr all die Veränderungen, die ihren Ursprung im Fall der Mauer hatten.
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990© Spector Books / Matthias Hoch
"Ich habe im November '88 mein Diplom verteidigt", erinnert sich Hoch. "Ein Jahr später waren alle Orte, die ich fotografiert habe, eigentlich Geschichte, weil sie sich jedenfalls optisch sehr verändert haben. Plötzlich gab es da Wahlwerbung, Sprayer, politische Plakate oder Aufrufe. Ein schöner Vergleich war immer der Leipziger Hauptbahnhof, diese große Halle. Als ich das erste Mal nach Frankfurt am Main kam, dachte ich: 'Das ist ja durchaus vergleichbar.' Aber dort werde ich ja begrüßt von Togal, von Daimler, von den ganzen Werbebotschaften. Davon war der Osten fast völlig frei."

Als wäre die Freiheit schon wieder verloren

Als Bürger der DDR hatte Matthias Hoch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes erhalten. Es bot ihm die Möglichkeit, ein Leben auf Probe zu führen, die Bundesrepublik kennenzulernen, ohne sich dafür von der DDR verabschieden zu müssen. Anders als die vielen Hunderttausend, die nach dem Mauerfall in den Westen gingen, hatte Hochs Aufbruch Richtung Ruhrgebiet nichts von einer Flucht an sich. Im Gegenteil, sehr bald wurde ihm klar, dass er nach Ende des Stipendiums wieder nach Leipzig zurückkehren würde.
In seinem halben Jahr im Westen hat Hoch erstaunlicherweise vor allem Bilder von Absperrungen und Hindernissen gemacht: von Autobahnen mit ihren Schallschutzwänden, von Zäunen, von Pfeilern, die den Blick begrenzen, von "Betreten verboten"-Schildern. Als wäre die Freiheit, von der man so lange geträumt hatte, hier, auf der anderen Seite, schon lange wieder verloren gegangen.

Kein Land im Aufbruch

Auf der anderen Seite zeigte sich für Martin Gross auch der Osten nicht als ein Land im Aufbruch. Im Grunde war die Euphorie des Jahres '89 mit dem großen Silvesterfeuerwerk verpufft, erinnert er sich:
"Das ist ja auch eine deprimierende Geschichte gewesen. Das war abzusehen, dass das einfach eine Übernahme werden wird, die allen Seiten Frust bereitet. Den DDR-Bürgern, weil die nicht ihr eigenes Leben gestalten, sondern es gestaltet kriegen, und weil alles wertlos wird, was sie gemacht haben."

Aber er sieht auch, dass es einen Aufbruch gar nicht geben würde, weil die Sache von Anfang an relativ klar war, wie er sagt: "Die absolute Mehrheit der Ostdeutschen wollte nicht unbedingt einen eigenen Weg entwickeln, sondern die wollten genau das haben, was drüben ist. 'Drüben' war das große Stichwort, und 'drüben' haben sie dann letztendlich auch gekriegt. Das sage ich mit einem gewissen Bedauern. Am DDR-System gab es zwar nichts, was für mich akzeptabel war. Aber es wäre auch nicht mein Weg gewesen, das BRD-System so platt zu übernehmen. Aber im Nachhinein sehe ich auch keine Alternative dazu."
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990
Matthias Hoch: aus der Serie Neue Heimat, 1990© Spector Books / Matthias Hoch

Veränderungen mitgestalten

Auch Matthias Hoch meint, dass die Menschen kaum eine Möglichkeit gehabt hätten, sich auf die Wiedervereinigung vorzubereiten. Das halbe Jahr in Westdeutschland habe ihm dagegen genau diese Möglichkeit gegeben:
"Ich hatte eine Idee, wie das Leben sein könnte und dass es relativ schwierig wird, sich als Künstler und Einzelkämpfer durchzuschlagen. Aber ich habe es angenommen, und es hat bis heute funktioniert."
Matthias Hoch hatte sein Netzwerk in Leipzig und wollte dorthin auch zurückkehren. Er widerstand der Versuchung, eine Stelle an der Universität Essen anzunehmen. Angebote, für westdeutsche Magazine zu fotografieren, schlug er aus. Er wollte die Veränderungen in seiner Stadt mitgestalten und seine Fotokunst ohne Kompromisse weiterentwickeln. Wenige Jahre später trat er zudem eine Stelle an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst an.
Martin Gross zog zurück in den Westen, ins beschauliche Bienenbüttel am Rand der Lüneburger Heide. Sein Buch fand zunächst keine Resonanz. Wie zuvor in den 80er-Jahren arbeitete er für Universitäten, ging nach Russland und Indien und organisierte wissenschaftliche Kooperationen.

Blicke über den Tellerrand

Begegnet sind sich die beiden nie. Doch in dem Band "Das Jahr 1990 freilegen", der zur Wiederentdeckung von Martin Gross’ "Das letzte Jahr" führte, finden sich Texte des einen und Bilder des anderen. Texte, die aus der Sicht des Wessis das letzte Jahr der DDR dokumentieren. Und Bilder, die aus der Sicht des Ossis die BRD porträtieren. Jenes Land, zu dem das eigene bald gehören würde.
Texte und Bilder, die ihren Ursprung auf der Straße haben, im Draußen- und Unterwegssein, in der genauen Beobachtung des öffentlichen Lebens.
Martin Gross und Matthias Hoch sind ihren Landesteilen treu geblieben.
Aber sie haben getan, was die wenigsten in dieser Konsequenz getan haben: über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut.
(DW)

Literatur:

Jan Wenzel et al. (Hg.): "Das Jahr 1990 freilegen"
Spector Books, Leipzig 2019
592 Seiten, 36 Euro

Martin Gross: "Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land"
Spector Books, Leipzig 2020
368 Seiten, 22 Euro

Sprecher*in: Katja Hensel und Marian Funk
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal

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