Weit und breit kein Gott

Rezensiert von Ulrich Baron · 08.08.2010
Mit seiner Kulturgeschichte liegt François Walter im Trend der Katastrophen-Literatur. Experten und unser Glaube an ihre Allwissenheit haben die religiöse Bewältigung großer Unglücke verdrängt. Kritische Skepsis ist aber angebracht.
Nichts führt den Fortschritt der Spezies Homo sapiens so dramatisch und paradox vor Augen wie die steigende Zahl von Katastrophenopfern. Hätte das Erdbeben von Haiti einige Jahrhunderte früher stattgefunden, so hätte es weniger Tote gegeben. Mit der Zahl von Menschen, die in Gefahrenzonen leben aber wächst auch das Risiko, dass viele Menschen von Beben, Überschwemmungen, Dürren, Vulkanausbrüchen oder Lawinen erfasst werden.

Zur unmittelbaren Bedrohung kommt die mittelbare, in der sich die Zwiespältigkeit unserer kulturellen Evolution offenbart. Die meisten Haitianer wurden nicht von Schlammlawinen oder umstürzenden Bäumen erschlagen, sondern von den Trümmern der Häuser, die sie vor den Unbilden der Natur hätten schützen sollen.

So durchdringen sich Natur- und Kulturgeschichte. Hatte man lange geglaubt, der Mensch könne sich über die Natur erheben, so hat er sich diese vielmehr zur Umwelt gemacht, in der sich jede Umweltsünde rächt. Der Genfer Historiker François Walter warnt in seiner Kulturgeschichte der Katastrophen davor, einen linearen Fortschritt zu unterstellen, der vom Aberglauben und Glauben zum rationalen Umgang mit natürlichen Risiken führe.

"Es ist eine unzulässige Einschränkung, Vernunft und Aberglauben als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze zu begreifen und lediglich einzuräumen, dass ,in Krisenzeiten irrationale Reaktionen’ wieder aufleben könnten. … Beide überlagern einander und vervielfachen somit die Hypothesen, welche allesamt Quellen darstellen, die den Gesellschaften zur Verfügung stehen, die mit der Notwendigkeit die Welt zu verstehen und zu erklären, konfrontiert sind."

Religion kann die Erklärung von Katastrophen mit nachträglicher Sinngebung verbinden. Verheerende Naturereignisse und Kriege wurden als göttliche Strafen oder Mahnungen gedeutet. Selbst mit der Opferung Unschuldiger konnte Gott so das Gute befördern. Die Wissenschaft aber versprach, Bedrohungen abzuschätzen und Schäden vermeiden oder abwenden zu können. Religion hilft bei der Katastrophenbewältigung, Wissenschaft bei deren Abwehr. Das scheint für die Wissenschaft zu sprechen, hat aber einen Pferdefuß, der sich noch zeigen wird.

Weil Walters Darstellung in der quellenreichen Zeit des Buchdrucks und der Glaubensspaltung beginnt, zeigt sie zunächst auch die Gegensätze zwischen den Konfessionen. In katholischen Ländern wurden Seuchen und Maikäferplagen als Teufelswerk interpretiert, zu deren Abwehr man die Schutzheiligen anrief, während man einen strafenden Gott durch Bußfertigkeit zu besänftigen suchte.

Demgegenüber sahen sich Protestanten einer abstrakteren Vorsehung unterworfen. Deren Folgen ließen sich oft schwerlich mit dem Glauben vereinbaren, in der besten aller Welten zu leben. Indem er ihnen die Schutzheiligen nahm, habe der Protestantismus die Menschen für Endzeiterwartungen empfänglich gemacht.

"Da der Rückgriff auf Sicherheit gewährende Fürsprecher eingeschränkt ist, tendieren ängstliche Gemüter stärker dazu, ,Lösungsversuche nach apokalyptischem Muster’ in Betracht zu ziehen."

So führe die Verbannung des Heiligen dazu, dass mit unterdrückten Ängsten und Hoffnungen auch die Sehnsucht nach einer reinigenden Katharsis geschürt wurde. Der Ausdruck "Apokalypse" meinte ursprünglich "Offenbarung" – Enthüllung des göttlichen Heilsplans, wie ihn Johannes auf Patmos bildermächtig beschrieben hat. Seine vier apokalyptischen Reiter haben die Säkularisierung ebenso gut überstanden wie die Geschichte von der Sintflut, die noch manchem Weltuntergangszenario in Literatur und Film als Vorbild dient.

Doch die Religion musste ihre Deutungshoheit immer weiter an die Wissenschaft abtreten. Und die Rolle der Schutzheiligen wurde von Experten übernommen.

Buchstäblich welterschütternde Ereignisse wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 wurden noch als Gottesstrafen interpretiert, doch es gab schon Zweifel an deren Treffsicherheit. Was sollte man zudem vom Blitzstrahl des göttlichen Zorns halten, wenn sich dieser durch Metallstäbe und etwas Draht ablenken ließ? "Lissabon und der Blitzableiter", hat Walter ein Kapitel überschrieben, das die Konkurrenz von religiöser Deutungstradition und technischer Innovation aufzeigt.

Was mit natürlichen Mitteln vermeidbar war, schien keiner religiösen Interpretation mehr zu bedürfen. So lange dabei alles gut ging.

Walter zeigt, wie der Begriff des Risikos den der Sünde verdrängte. Hier wurde der Pferdefuß von Wissenschaft und Technik spürbar. Mit der Abschätzung von Risiken und ihrer Minderung durch Versicherungen und Katastrophenschutz habe sich entwickelt, was er mit einer Formulierung Ulrich Becks als "Risikogesellschaft" bezeichnet. Zu deren Mängeln gehöre es, dass es ihr nicht mehr möglich sei, bedrohliche Situationen äußerlichen Ursachen zuzuschreiben:

"Es gebe keine Welt außerhalb der Gesellschaft. Selbst die Natur werde unter sie subsumiert, und zwar so, dass ,kein Reservat’ mehr existiere, in das man die ,Kollateralschäden’ unserer Handlungen abwälzen könnte. Die Risiken seien von der Gesellschaft selbst gemacht."

Walter referiert dazu die selbst gemachten Technikkatastrophen des 20. Jahrhunderts wie den verheerenden Chemieunfall im indischen Bhopal oder den GAU in Tschernobyl; ebenso Weltkriege und Holocaust. Und die noch immer bestehende Gefahr einer atomaren Selbstvernichtung der Menschheit.

Heute kommt man mit vier apokalyptischen Reitern nicht mehr aus: Waldsterben, Aids, Ozonloch, Rinderwahn, Vogelgrippe, Klimawandel heißen deren Nachfolger. Man begegne auch ihnen mit dem Entwurf apokalyptischer Szenarien, die begrenzte Ereignisse als Vorboten einer drohenden Weltkatastrophe deuten. Und je transparenter die Risiken seien, desto vielversprechender sei der Markt, unterstreicht Walter, spricht von einer Hochkonjunktur des Alarmismus. Man zahlt keinen Ablass mehr für seine Sünden, sondern betreibt Risikovorsorge, weil man sich vor Gefahren fürchte, die einem drohen könnten:

"Man schwankt unablässig zwischen Risiko und Gefahr, wobei Ersteres vorhersehbar und quantifizierbar ist, und das Zweite, weniger durchsichtig, einer ökonomischen Ausbeutung das Feld bereitet. Wie der Soziologe Ulrich Beck schreibt, ist die Risikoforschung wie ein Bazillus, der von der Risikoforschung gespeist wird, die sich immer weiter in Richtung Unsicherheit ausdehnt, für deren Begrenzung sie eigentlich zuständig sein sollte."

Und weit und breit ist kein Gott mehr in Sicht, dessen unerfindlichen Ratschlüssen man die Verantwortung für die wieder zunehmende Unsicherheit aufbürden könnte. Was uns bleibt, so könnte man nach Lektüre von Walters Buch ironisch sagen, sind dessen weltliche Nachfolger, sind Experten und unser Glaube an ihre Allwissenheit, Allmacht und Güte. Oder doch lieber kritische Skepsis gegenüber weltlichen Heilsversprechungen, die mit der einen Hand drohende Katastrophen und mit der anderen das Himmelreich auf Erden an die Wand malen.

François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert.
aus dem Französischen übersetzt von Doris Butz-Striebel und Trésy Lejoly, Reclam Verlag, Stuttgart 2010
385 Seiten, 29,90 Euro
Cover von François Walter: "Katastrophen"
Cover von François Walter: "Katastrophen"© Reclam Verlag
Mehr zum Thema