"Weil die Gedanken einen Rhythmus bekommen"

Detlef Wendler im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 30.07.2011
Der evangelische Pfarrer Detlef Wendler erklärt in seinem Buch "Vom Glück des Gehens" warum Meditation zu Fuß leichter ist als im Sitzen. Er habe in seiner praktischen Arbeit erfahren, dass viele Menschen so eine Alternative zu ihrem bisherigen Denken finden können.
Anne Françoise Weber: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wozu Klöster eigentlich einen Kreuzgang haben? Natürlich – zum Gehen oder, wie es altmodisch heißt, zum Wandeln, vorzugsweise meditierend. Während wir heute, wenn wir nicht sowieso mit Auto, Flugzeug, Bahn oder Fahrrad unterwegs sind, meist schnellen Schrittes von Punkt A nach Punkt B hasten, vergessen wir oft den Wert des Gehens an sich, das viel mehr ist als nur Fortbewegung.

Der evangelische Pfarrer und Klinikseelsorger Detlef Wendler hat ein Buch darüber geschrieben, es heißt: "Vom Glück des Gehens". Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn zunächst gefragt, wie er dazu kam, das Gehen als Meditationsform zu entdecken.

Detlef Wendler: Ich habe 26 Jahre Erfahrung in der Seelsorge, in der Psychiatrie, habe mit unzähligen Depressionskranken gesprochen und habe dabei die Entdeckung gemacht, dass Leute, die vorher einen Spaziergang im Park gemacht haben, bevor sie zu mir gekommen sind, anders zu mir kamen, also dass sie irgendwie ein bisschen freier, ein bisschen aktiver, ein bisschen aufgeschlossener waren, habe dann über diese Erfahrung mit anderen Therapeuten gesprochen, die das auch bestätigt haben, und habe dann angefangen, den Leuten nahezulegen, vor Gesprächen mit mir einfach im Park spazieren zu gehen.

Weber: Das heißt, das ist nicht nur was für religiöse Menschen?

Wendler: Nein, das ist nicht nur was für religiöse Menschen, das habe ich völlig abgesehen von der religiösen Ausrichtung der Leute bei allen gemacht. Ich habe dann, einen weiteren Schritt, den Leuten, den Klienten den Auftrag gegeben, wenn sie durch den Park gehen, mit allen Sinnen einfach da zu sein. Das heißt, nicht an ihre Grübelthemen zu denken, sondern zu sehen, was dort im Park zu sehen ist, zu hören, welche Geräusche es dort gibt, zu riechen, was für Gerüche dort sind, vielleicht auch etwas zu spüren, also das Sonnenlicht auf der Haut oder den Wind. Und das ging auch, da haben sich also fast alle drauf eingelassen, und sie kamen verändert zu mir.

In einem nächsten Schritt habe ich das dann insofern weiter ausgebaut, dass ich ganze Gruppen eingeladen habe zu einem meditativen Spaziergang durch den Park. Jeder geht dort in der Stille, ohne Zigaretten natürlich und ohne Handy, und soll mit allen Sinnen wirklich im Park da sein, er soll eine bestimmte Körperhaltung beim Gehen einhalten, und ich habe immer dazugesagt: Irgendetwas in diesem Park wird Sie ansprechen, wird für Sie ein Symbol Ihrer Heilung – und das ist in sehr vielen Fällen auf bewegende Weise gelungen, dass die Leute in ihrer inneren Stille etwas gefunden haben, was für sie zum Symbol der Heilung wird.

Zum Beispiel war eine Frau da, die sehr viel Angst hatte um ihre Schönheit und Probleme mit dem Älterwerden, und die dann so einen Baum entdeckte, der ganz unregelmäßig gewachsen war, verwunschen, also wie aus einem Märchen, und die auf einmal entdeckte für sich, dass Schönheit nicht davon abhängt, dass man so ein Ebenmaß hat, sondern dass es etwas mit der Ausstrahlung zu tun hat. Also dieser Baum wurde für sie zum Symbol ihrer Heilung und es war ihr Lieblingsbaum von da an.

Weber: In Ihrem Buch "Vom Glück des Gehens" nennen Sie dann auch verschiedene Meditationsworte, die sind zum Teil nicht religiös, zum Teil aber auch sehr christlich. Zum Beispiel gibt es auch die Worte "Christus Jesus", die man dann auf vier Schritte verteilt sagen kann. Das ist die Form des Herzensgebets, was auch Mönche zum Teil praktizieren.

Wie ist das, kann man sich das einfach so aussuchen, je nachdem, ob das einem zusagt, christlich zu meditieren, christlich zu gehen oder nicht christlich?

Wendler: Ja, man kann sich das aussuchen, natürlich. Für manche Leute ist das was sehr Positives, dieses "Christus Jesus", für manche ist es eher was Befremdendes und sie kommen eher zurecht mit so einem nicht christlichen Meditationswort wie "Heilsein" oder "Schalom". "Schalom" ist ja auch religiös, aber nicht unbedingt christlich. Das Meditationswort hilft, beim Gehen in der Konzentration zu bleiben, in dieser schwebenden Aufmerksamkeit, die die Meditation ausmacht.

Weber: Worum geht es Ihnen, wenn Sie Leute zum Gehen anleiten? Geht es Ihnen darum, dass sie besser bei sich sind, oder geht es Ihnen als Pfarrer eben doch darum, dass sie irgendwie näher bei Gott oder bei irgendeiner spirituellen Quelle sind?

Wendler: Mir geht es darum, dass es den Leuten besser geht, dass sie eine Alternative zu ihrem bisherigen Leben oder Denken finden, und das schließt beides ein: dass sie sich selber näher kommen und auch, dass sie Gott als der Urkraft des Lebens, wie ich öfter sage, näherkommen.

Weber: Und wenn nun jemand sagt, aber für mich gibt es keinen Gott als Urkraft des Lebens?

Wendler: Das ist kein Problem. Er wird nicht verpflichtet, an Gott in irgendeiner Weise zu glauben. Ich habe nur die Erfahrung gemacht: Viele Leute sind dann in solchen Gehmeditationen zu mir gekommen und haben gesagt, ich mache das aber nur mit, wenn ich nicht an Gott glauben muss. Natürlich muss er nicht an Gott glauben. Aber solche Leute erzählen dann trotzdem oft, dass sie erstaunt sind über diese Kraft des Lebens, die dort auch in einem solchen Krankenhauspark sichtbar wird.

Und dann frage ich sie am Ende einer solchen Gehmeditation manchmal, ja, wie nennen Sie denn diese Kraft, diese Energie, die Sie da erlebt haben? Also ich nenne Sie Gott, und wie nennen Sie die? Und dann gibt es manchmal interessante Gespräche darüber. Also nach meiner Erfahrung sind sehr, sehr viele Leute religiös, nicht unbedingt christlich, aber diffus religiös und auf der Suche nach Geborgenheit, auf der Suche nach einem religiösen Erlebnis. Und ich brauche eigentlich nur wertschätzend und offen den Klienten zuzuhören, was sie über ihre eigene Spiritualität erzählen, ich brauche nicht jemandem was von außen nahezubringen.

Weber: Meditation ist ja sehr in Mode, Yoga oder andere Formen, da sind die Kurse übervoll und es gibt immer mehr Schulen und so weiter. Sehen Sie das als Suche nach Entspannung in einer gestressten Gesellschaft, oder eben doch auch als Suche nach einer spirituellen Quelle?

Wendler: Also ich glaube, dass es beides ist, für den einen mehr Suche nach Entspannung, für den anderen mehr eine spirituelle Suche. Ich denke, manche nehmen das auch wie eine Art Leistungssport und so, und sagen dann auch, ich kann aber schon die komplizierte Übung oder ich kann schon so gut meditieren, dass ich meinen Herzschlag auf die Frequenz runterfahren kann. Und man steht dann staunend davor und sagt Ah und Oh, und erlebt eigentlich, dass für viele auch Yoga in Gefahr ist, so eine Art Leistungsdenken zu werden. Und gerade da stößt es mich ab.

Was ich unheimlich gut finde an Yoga, wo wir von der Kirche was lernen können, ist die Körperbezogenheit. Also wir haben ja in den Kirchen oft den Körper ignoriert oder vielleicht sogar ein bisschen argwöhnisch betrachtet, haben mehr vom Glauben geredet und nicht von der erfahrbaren Spiritualität, also von Gotteserfahrung. Und über Yoga kann man lernen, dass zum Gottvertrauen auch der Körper gehört.

Weber: Sie sagten jetzt gerade etwas gegen den Leistungsdruck. Das findet sich auch in Ihrem Buch wieder, auch wenn Sie über das Herzensgebet schreiben. Sie raten jetzt nicht dazu, so exzessiv zu meditieren, dass man den eigenen Herzschlag damit beeinflussen kann, wie das eben wohl manche tun, die dieses Herzensgebet sehr extrem praktizieren. Aber Leistungsdruck ist eine Sache, Radikalität im Glauben und in der Meditation ist was anderes.

Muss nicht eigentlich Glaube und Streben nach Gott irgendwie doch radikal sein, wenn man die Botschaft ernst nimmt?

Wendler: Ich meine nein, also ich meine, in dem Moment, wo es radikal wird, kippt es unversehens wieder aus dem Christlichen raus. Nach christlicher Auffassung ist Heilung immer Geschenk und nicht erreichbar durch Übungen, und in dem Moment, wo die Übungen so radikal werden, dass sie Leben beeinträchtigen, dass sie Leute eher enger machen, in dem Moment verlieren sie meiner Ansicht nach ihre Berechtigung.

Weber: Auch beim Herzensgebet, das ein Mönch praktiziert?

Wendler: Ja, wobei er natürlich letztendlich selber beurteilen muss, ob er diesen Punkt erreicht.

Weber: Wenn wir zurückkommen auf die Beliebtheit von Yoga, also eben, die Yogakurse sind voll, die Kirchen sind leider oft leer, was den Sonntagsgottesdienst angeht: Müssten die Kirchen – Sie haben schon gesagt, Sie könnten sich was von der Körperbetontheit abschneiden –, müssten die Kirchen mehr Meditationsangebote anbieten, oder ist dann die Gefahr, dass das so ein Angebot unter vielen anderen wird?

Wendler: Ich bin der Überzeugung, dass die Kirchen mehr Meditationsangebote anbieten müssten, und ich habe auch erlebt, dass sie sehr vieles schon anbieten. Es gibt überall Häuser der Stille, auf der evangelischen Seite, auf der katholischen Seite Klöster mit Meditationsangeboten. Es gibt auch eigentlich in allen Städten irgendwelche Meditationskurse, die von den Kirchen verantwortet werden. Das ganze kirchliche Angebot ist bunt und vielfältig, und es ist eigentlich mehr so der Blick von außen, der nur auf den Sonntagsgottesdienst guckt. Wenn man ein bisschen mehr drin ist, sieht man, wie viele andere Möglichkeiten es im Raum der Kirche gibt.

Weber: Beim letzten Evangelischen Kirchentag in Dresden gab es eine Veranstaltung über Spiritualität, bei der der Meditationslehrer und Guru Ravi Shankar und die Hamburger Pröbstin Ulrike Murmann miteinander diskutiert haben. Murmann hat da Shankars Meditationsansatz kritisiert: Shankar sagte, Meditation lasse sich mit allen Religionen verbinden und Murmann hat eben betont, christliche Spiritualität richtet sich immer am dreieinigen Gott aus und es sei keine innere Seelenschau und würde den Verstand nicht ausschalten.

Teilen Sie diese Meinung? Also ich finde, da hört man doch eine sehr starke Abgrenzung, die ich bei Ihnen eben nicht finde.

Wendler: Nein, diese Abgrenzung habe ich auch nicht, oder dass die Mehrheit der verschiedenen Richtungen fernöstlicher Meditation nun den Verstand ausschaltet, das glaube ich auch nicht. Ich glaube, dass viele Elemente, zum Beispiel von Yoga oder auch von Qigong, leicht in das Christentum zu integrieren sind, also ein achtsames Atmen zum Beispiel oder bestimmte Handhaltungen beim Gebet sind ohne Weiteres zu integrieren in das Christentum.

Ich habe gar nicht den Impuls, mich so abzugrenzen, sondern ich habe also eher den Impuls, auch von fernöstlicher Meditation zu lernen. Und ich meine auch, dass ich da was finde, was auch in der langen Tradition des Christentums immer da war, zum Beispiel eben in mönchischen Exerzitien. Die Gehmeditation gab es ja auch schon früher in den Klösterhöfen, wo dann die Leute das Brevier gelesen haben – gehend.

Weber: Gehend, und warum gehend?

Wendler: Meditation im Gehen ist leichter als im Sitzen.

Weber: Weil die Gedanken einen Rhythmus bekommen?

Wendler: Weil die Gedanken einen Rhythmus bekommen, also angefangen schon deswegen, weil manche Leute im Lotussitz Rückenprobleme kriegen, und weil auch die Konzentration im still Sitzen schwieriger ist. Im Gehen ist diese schwebende Aufmerksamkeit leichter, man kann mal dieses Blatt, mal jenes anschauen – man hat noch eine gewisse Abwechslung im Gehen, die man im Sitzen eigentlich auch nicht mehr hat.

Weber: Sie haben jetzt ein neues Buch geschrieben, das heißt "Vom Zauber des Schlafes". Warum der Schlaf, und hat Schlaf eigentlich auch was mit Meditation zu tun?

Wendler: Schlaf und Meditation haben ein gemeinsames Oberthema, und das heißt Loslassen. Mit dem Loslassen ist es so: Das ist eigentlich das große Problem unserer Zeit, dass wir das nicht genug können oder nicht genug üben. Es ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern es ist auch ein gesellschaftliches Problem: Wir werden eigentlich beeinflusst, festzuhalten, was aufzubauen, Ehre, Geld, Macht, und wir werden wenig dazu erzogen, eigene Vorlieben, eigene Wünsche auch loszulassen. Wer nicht loslassen kann, kann auch nicht gut schlafen, und deswegen bin ich auf dieses Schlafthema gekommen.

Übrigens ist ein Drittel aller Leute schlafgestört, und das hängt damit zusammen, dass sie in der Arbeit so wahnsinnig unter Druck sind, dass sie ihre Angst um den Arbeitsplatz nicht loslassen können oder andere Dinge. Sie haben auch oft nicht diese Rituale, die man zum Loslassen braucht, sozusagen jetzt ist Feierabend, jetzt stelle ich diesen Gedanken weg, morgen früh ist er wieder da. Und wenn ich das so schildere, dann merken Sie vielleicht schon, dass da eine Strukturähnlichkeit zur Meditation ist, Meditation ist ja auch Loslassen.

Weber: Vielen Dank, Detlef Wendler! Sie sind evangelischer Pfarrer, Klinikseelsorger und Autor des Buches "Vom Glück des Gehens", erschienen im Claudius Verlag, 136 Seiten, 12,80 Euro, und im September erscheint von Ihnen dann "Vom Zauber des Schlafes", ebenfalls im Claudius Verlag, und beide in der Reihe "Ein Weg zur Lebenskunst".

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