Weihnachtsappell an die Bundesregierung

"Da geht es nur um Minimalforderungen"

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Eine Frau und Kinder laufen im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der Insel Lesbos zwischen weißen Zelten entlang. (Aufnahme vom 14. Oktober)
Flüchtlinge auf Lesbos nach dem Brand in Moria: Die humanitäre Katastrophe an den Grenzen Europas sei selbstgemacht, betont Rahel Jaeggi. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Panagiotis Balaskas
Rahel Jaeggi im Gespräch mit Axel Rahmlow · 18.12.2020
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Bundestagabgeordnete fordern die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus griechischen Lagern zu Weihnachten. Die Aktion sei "objektiv zynisch", sagt die Philosophin Rahel Jaeggi. Solidarität mit geflüchteten Menschen gehe über bloßes Mitleid hinaus.
Auf den griechischen Inseln leben laut den Vereinten Nationen insgesamt 41.200 Geflüchtete, Stand Januar 2020. Seit dem Brand im Lager Moria auf der Insel Lesbos Anfang September hat Deutschland etwa 1.300 Geflüchtete aufgenommen – insgesamt sollen 2.750 Schutzbedürftige aus Griechenland nach Deutschland kommen dürfen.
Nicht genug, sagen fast 250 Bundestagsabgeordnete in einem Appell, den sie an die Bundesregierung richten. Luise Amtsberg von den Grünen sagte dazu im Bundestag: "Die griechischen Inseln sind mittlerweile zum Symbol einer gescheiterten Asylpolitik geworden."

Ein unangebrachter Weihnachtsappell?

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner fordern, dass sich die Bundesregierung für eine europäische Lösung für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzt. Die Journalistin und Schriftstellerin Elke Schmitter findet den Appell kurz vor Weihnachten unangebracht. Sie sagte im Deutschlandfunk Kultur:
"Diese Verquickung, die es auch in diesem Appell wieder gibt von Politik und Humanität, ist in sich zynisch, auch wenn es die Akteure selber so nicht empfinden mögen."
Die deutsche Politik habe Lösungen in der Asylpolitik seit Jahren verschleppt, so Schmitter.

"Objektiv zynisch"

"Zynisch" sei zwar eine harsche Einschätzung einer an sich begrüßenswerten Initiative, sagt Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. "Subjektiv von den Motiven der Beteiligten her ist es sicherlich nicht zynisch gemeint. Aber ich würde Frau Schmitter zustimmen, dass es objektiv zynisch ist."
Auch sie betont, dass es sich um ein Problem handle, dass man seit Jahrzehnten aussitze. "Es muss immer erst brennen, wie es in Moria gebrannt hat, eine Seuche ausbrechen oder eben es ist Weihnachten und da sind unsere Herzen für einen Moment lang vielleicht empfänglich", so die Philosophin.
"Es ist zynisch, dass beispielsweise nicht schon zu Beginn der Coronapandemie die Lager einfach komplett geräumt worden sind. Man hätte ja eine ganz einfache Lösung gehabt: die Leute erst mal in den leer stehenden Hotels unterzubringen, statt sie im Schlamm leben und auch sterben zu lassen."
Man spreche über diese Brennpunkte immer so, als seien es Ausnahmen oder als handele es sich um eine Art von Naturkatastrophen. Aber, so Jaeggi, "das Problem sind die strukturellen Ursachen der weltweiten Fluchtbewegung. Das Problem ist das Selbstgemachte dieser humanitären Katastrophe an den Grenzen Europas."

Solidarität statt Mitleid

Solidarität mit geflüchteten Menschen gehe hinaus über Mitleid mit ihnen. "Da geht es ja tatsächlich erst mal nur um Minimalforderungen", sagt Jaeggi in Bezug auf den aktuellen Appell. "Da geht es um etwas, was sich aus dem Selbstverständnis demokratischer Rechtsstaaten, die irgendwie den Menschenrechten verpflichtet sind, sehr selbstverständlich und dringend ableitet: dass man humanitäre Katastrophen bekämpft."
Auch Flüchtlingsaktivisten forderten häufig Solidarität statt Mitleid ein, sagt Jaeggi. Es gehe dabei um symmetrische statt asymmetrische Verhältnisse. Konkret bedeute das, "dass man nicht nur einseitig hilft, sondern die Handlungsfähigkeit der Akteure stärkt. Dass man versucht, mit ihnen zu handeln, nicht nur für sie zu handeln."
(jfr)
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