Weihnachten

Wenn alles perfekt sein soll – und dann eskaliert

Familie beim Weihnachtsessen
Die Ruhge vor dem Sturm: "Die Familie kommt zusammen, da gibt es ja genug Missverständnisse", sagt Alexander Osang. © imago / Westend61
Alexander Osang im Gespräch mit Frank Meyer · 20.12.2017
"Spiegel"-Reporter Alexander Osang schreibt schon seit langer Zeit jedes Jahr eine Weihnachtsgeschichte für die "Berliner Zeitung". Nun sind die besten in einem Buch erschienen. Seine Helden sind Mittelstandsbürger, die vor allem eine Frage quält: Wie geht es weiter?
Frank Meyer: Eine nackte Frau steht im Schnee vor einem Brandenburger Schloss. Da ist sie zu Gast, aber sie hat sich nach einem Gang in die Saune ausgeschlossen aus diesem Schloss, und das Einzige, was sie draußen im Schnee zum Anziehen findet, ist ein Müllsack. In diesem stinkenden Müllsack irrt sie durch das Dorf am Schloss, auf der Suche nach einem Obdach, und wird immer wieder abgewiesen. Von dieser Frau erzählt Alexander Osang in einer Weihnachtsgeschichte, die in seinem Buch "Winterschwimmer" jetzt zu lesen ist, und Alexander Osang ist hier im Studio. Seien Sie willkommen!
Alexander Osang: Hallo!
Meyer: Sie schreiben ja seit vielen Jahren immer zu Weihnachten so eine Geschichte für die "Berliner Zeitung", seit 1995, also schon eine lange Zeit. Jetzt sind 13 dieser Geschichten als Buch erschienen, eine neue gibt es dazu. Und diese Frau im Müllsack, diese neue Maria, am Ende findet sie doch eine offene Tür, will ich nicht verschweigen. Es gibt doch so einen Hoffnungsstreifen am Horizont, wie eigentlich in all diesen Geschichten, oder? Einen zarten Trost haben Sie immer für Ihre Figuren?

Genau. Es ist Weihnachten.

Osang: Genau. Es ist Weihnachten. Und ich bin ja in meinem anderen Leben irgendwie Reporter für den "Spiegel", und in der Realität findet man den oft leider nicht. Und da kann ich so ein bisschen meine romantische Ader, die ich eigentlich auch habe, erstaunlicherweise ausleben.
Und ich möchte am Ende irgendwie den Leuten, ich meine, die sitzen zu Weihnachten da, also mittlerweile ist es wohl so, erzählen mir zumindest einige Leser, dass es zu ihrer Weihnachtsroutine gehört, sich diese Geschichte vorzulesen. Und dann ist es doch schön, wenn am Ende man so ein bisschen mit einer leichten Hoffnung rauskommt. Ich meine, den Helden geht es ja allen nicht so gut in der Regel, aber am Ende finden sie doch irgendwie eine offene Tür.
Meyer: Und für Sie ist das auch neben Ihrer Praxis als Reporter für den "Spiegel" auch so ein Ausstieg aus dieser Berufsroutine, solche Geschichten zu schreiben?
Osang: Ja, ist es, glaube ich. Die Genres, mit denen ich im Journalismus beschäftigt bin, sind ja auch sozusagen die literarischsten, die überhaupt zur Verfügung stehen, also Porträt und Reportage. Aber klar ist das so, man steigt aus aus dem …
Oft finde ich natürlich sozusagen den Anstoß zu diesen Geschichten auch in Recherchen. Also ich treffe diese Helden irgendwie am Wegesrand oder zumindest die Bühne, auf der diese Geschichten spielen. Aber diese Freiheit, dieses Leben der Helden zu gestalten, die habe ich natürlich in meinem Beruf nicht. Und das ist schön. Und ich schreibe die auch immer in der Weihnachtszeit, und irgendwie ist das toll, macht das sehr viel Spaß.
Meyer: Und diese Leser, die Sie erwähnt haben, die offenbar ja warten auf die jährliche Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang, haben die auch einen Erwartungshorizont? Erwarten die eine bestimmte Geschichte von Ihnen?

Leser wollen unterhalten und berührt werden

Osang: Ja. Aber damit möchte ich mich ehrlich gesagt nicht beschäftigen. Da würde ich, glaube ich, durchdrehen. Nein, das hat schon sehr viel mehr mit mir selbst zu tun, und im besten Fall treffe ich irgendwelche Erwartungen oder so, aber damit kann ich mich jetzt wirklich nicht … Ich glaube schon, dass die irgendwie in gewisser Weise berührt werden wollen und unterhalten werden wollen. Aber das möchte ich sowieso ohnehin, wenn ich lese.
Meyer: Ihre Figuren, wenn man die sich anschaut, jetzt kann man die so gesammelt anschauen in diesen 14 Geschichten aus verschiedenen Jahren, die scheinen alle in so einem Hamsterrad zu stecken. Die strampeln sich ab wie blöd, um mitzuhalten, was ihre Chefs von ihnen erwarten, was die Frau erwartet, was die Familie erwartet, was Freunde so, die oft als Konkurrenten eigentlich auftreten, ihnen vorleben. Wieso stecken diese Figuren in so einem Hamsterrad bei Ihnen?
Osang: Gute Frage. Normalerweise, der Hobbypsychologe in Ihnen wird natürlich sagen, weil ich selbst in so einem Hamsterrad – es gibt übrigens auch einen Radiomoderator in einer ...
Meyer: Ich habe voller Schrecken gelesen …
Osang: Genau. Einer ist eben Radiomoderator, der ebenfalls im Hamsterrad irgendwie steckt. Man kann es vielleicht Hamsterrad nennen. Ich glaube, dass es eher Leute sind, die sozusagen in der späten Mitte ihres Lebens irgendwie angekommen sind und sich fragen, ob es das irgendwie war.
Die sind alle in meinem Alter, teilweise auch ein bisschen jünger natürlich, ich bin ja auch etwas älter geworden, während ich diese Geschichte schreibe, und fragen sich, war es das in meiner Ehe, war es das in meinem Beruf? Wo will ich eigentlich noch hin? Und sind irgendwie an so einem toten Punkt. Und klar ist Weihnachten oft auch so eine Bestandsaufnahme.

Wo will ich eigentlich hin?

Weihnachten ist eben auch so ein Glücksversprechen irgendwie. Man hat eben diese Folie, die gefällt mir ganz gut, diese Glitzerfolie, wir halten uns alle … Die Familie kommt zusammen, und da gibt es ja genug Missverständnisse, mit denen man irgendwie umgehen kann, und diese Dinge entladen sich oft in dieser ach so glücklichen Weihnachtszeit und auch in dieser toten Zeit zwischen den Jahren, wie man so sagt. Und das interessiert mich, und da sozusagen stellen sich die Helden in meinen Geschichten eben diese Fragen, also wo möchte ich eigentlich hin. Das ist so eine Art Bestandsaufnahme, und die fällt eben nicht immer so gut aus. Wenn man in einem bestimmten Alter ist, dann passieren diese Dinge eben.
Meyer: Aber interessant ist ja, dass gerade dieses supertraditionelle Fest Weihnachten, diese Zeit, wo man auch in die alten Bindungen zurückkehrt, Familie wiedersieht und so weiter, dass gerade bei Ihnen in diesen Geschichten es in dieser Zeit so einen Knacks gibt und sich auf einmal ein neuer Horizont öffnet. Eigentlich steht das ja so im Gegensatz zueinander.
Osang: Ach, na ja, Weihnachten ist natürlich auch, also wenn man es jetzt oder sagen wir mal, die christlichen Bilder, es ist natürlich auch ein Fest des Aufbruchs irgendwie. Insofern gab es da also auch einen Knacks für die Menschheit, weil wenn man es sozusagen im historischen Kontext sehen will, ja, klar.
Aber es ist doch auch irgendwie ein Fest der Hoffnung und auch der Enttäuschung und all diesen Dingen. Ja, es ist eine vermeintliche Ruhe, finde ich. So habe ich das auch immer empfunden. Ich hab ja lange im Ausland gelebt, bin dann Weihnachten entweder zurückgefahren nach Deutschland oder habe Besuch gekriegt aus Deutschland. Es war immer so eine Art Bestandsaufnahme, und es war immer so eine vermeintliche Ruhe, und das ist für mich sozusagen ein schöner Punkt, um in Geschichten einzusteigen.

Ostmentalität als Merkmal

Meyer: Es zieht sich noch so ein Thema durch durch mehrere dieser Geschichten. Die Frau im Müllsack, wenn wir die noch mal nehmen aus der Erzählung "Schneekönigin", die kommt aus dem Osten, ist jetzt Redakteurin bei einer Fernseh-Talkshow, auch so im mittleren Alter. Ihre Kolleginnen kommen offenbar zunehmend aus dem Westen und schicken sie auch immer wieder zurück in diese Ostmentalität. Das scheint so an ihr zu hängen oder zumindest als etwas, was sie unterscheidet.
Osang: Man kann es auch als Qualität sehen oder wie auch immer. Auf jeden Fall ist es so ein Merkmal.
Meyer: Also das ist eine Figur, die nicht so richtig ankommt in ihrer Westidentität oder ihrer neuen Identität?
Osang: Kann man bei ihr so sagen. Was aber die Frage war, ob es mir genauso geht wahrscheinlich – klar, das spielt in vielen Geschichten schon eine Rolle. Es gibt auch jemand, einen Immobilienmakler aus dem Osten, der im Prenzlauer Berg praktisch seine eigene Wohnung vermakelt, im Böözeviertel, wo ich auch wohne. Das hat natürlich sehr viel mit mir zu tun, wie immer. Sagen wir mal, meine literarische Arbeit irgendwie mit meinem Zustand zu tun haben. In meinem ersten Roman ging es ja auch um so jemanden, der Nachrichtensprecher wird im Westen, versucht, sich da anzupassen, bis er sozusagen gar nicht mehr weiß, wer er ist. Und mit diesem Umstand schlagen sich viele meiner Helden herum, mit dem schlage ich mich auch irgendwie herum.
Ich frage mich natürlich all diese Fragen, die sich damit verbinden. Es ist auch ein christliches Fest, das hat immer irgendwie mit Treue zu tun, mit Verrat zu tun. Verrat an seinen eigenen Idealen. Klingt jetzt alles so ein bisschen heavy, so ein bisschen schwer, aber natürlich sind das Fragen, die ich mir auch stelle.
Ich lebe eben auch in diesem Viertel. Also diese Helden sind auch so Mittelstandshelden oft. Die ziehen dann in so Viertel wie Prenzlauer Berg. Um sie herum verändert sich die Welt, sie fragen sich, wer sind wir eigentlich? Haben wir eigentlich noch mit den Leuten zu tun, mit denen wir einst aufgebrochen sind. Einerseits genießen sie es, einerseits suchen sie diese Viertel eben auch, weil dort Leute leben wie sie selbst, vermeintlich wie sie selbst, mit ähnlichen Ansprüchen.

Man kann es Hamsterrad nennen

Und so geht es mir natürlich auch. Mir geht es ganz ähnlich. Ich stelle mir diese Fragen, und deswegen hetze ich ja auch irgendwie durch mein Leben – man kann es Hamsterrad nennen. Aber klar, in diesen vermeintlichen Tagen der Besinnung stelle ich mir auch diese Fragen. Wer bin ich eigentlich sozusagen, wer sind meine Eltern, meine Kinder, irgendwie all diese Dinge. Wo geht da die Reise hin? Genau, es ist eine Bestandsaufnahme.
Meyer: Diese ... Sie haben gerade das Christliche noch mal angesprochen, klar, bei Weihnachten. Was man jetzt bei jemandem, der aus Ostberlin kommt, gar nicht so erwarten würde. Sie kommen richtig aus einem christlichen Kontext, einer katholischen Familie, mit allem, was dazugehört, auch Ministrant gewesen damals in Ostberlin. Das heißt, Weihnachten war für Sie auch in Ihrer Kindheit so das ganz große, bedeutsame Fest?
Osang: Es war natürlich sozusagen, wenn man gerade, die Katholiken, die feiern ja dann schon irgendwie mit einem bisschen mehr Pomp irgendwie Weihnachten. Es war schon so. Ich war auch im katholischen Kindergarten, im katholischen Schulhort, und da waren natürlich große Feste, und da spürte man die Erregung, und aber dennoch war ich irgendwie ein Kind, und vor allen Dingen ging es um Geschenke.
Aber klar, wir sind eben spät immer in diese Christmesse gegangen, und in meiner Erinnerung gab es eben auch unfassbar viel Schnee. Ja, da trübt die Erinnerung wahrscheinlich auch, und es war dunkel, und trotzdem habe ich an die Geschenke gedacht. Und klar, es gab natürlich haufenweise Gottesdienste, es waren mehr Leute in der Kirche. Meine Eltern waren jetzt nicht so die Superkatholiken, aber ich war schon in einem sehr katholischen Umfeld.
Das war ja schon seltsam genug in Ostberlin gerade. Ich bin auch im Prenzlauer Berg zur Schule gegangen. Für meine Klassenkameraden war ich irgendwie schon so ein etwas seltsamer Typ, der sich dann irgendwelche lustigen Gewänder anzieht. Und dann gab es sozusagen diese Kirchenrealität, und in der spielte das schon, dieses Weihnachtsfest echt eine große Rolle. Dazu kam, es gab Westgeschenke natürlich auch, weil es war ja nur ein Bistum irgendwie. Wir haben sehr viel Westzeug bekommen, auch als Ministranten, was auch ganz toll war, und zu Weihnachten wird ja auch eben viel geschenkt.
Meyer: Und wie viel ist da heute noch da von dieser auch durchdringenden katholischen Prägung des Festes? Westgeschenke vielleicht nicht mehr so.

Katholizismus: Natürlich hat man das in sich drin

Osang: Ich habe dann ja eine Frau aus Berlin-Lichtenberg geheiratet, die diese Prägung nicht mitbrachte, und insofern habe ich jetzt auch nicht katholische Heirat oder so. Meine Kinder sind auch nicht katholisch getauft worden. Aber natürlich hat man das in sich drin.
Katholik bleibt man, glaube ich, sein ganzes Leben, und dann geht es eben viel um diese Fragen, Schuld und Vergebung, Beichte. Und ich versuche, das irgendwie ... das lastet eben auch ganz schön viel auf einem selbst, und ich versuche, das von meinen Kindern fernzuhalten. Aber ich glaube, einiges von dem habe ich transportiert, auch in diese Weihnachtszeit hinein.
Meyer: Auch in dem Buch "Winterschwimmer" von Alexander Osang. Da sind seine gesammelten Weihnachtsgeschichten drin. Im Aufbau-Verlag ist das Buch erschienen, mit 240 Seiten, 20 Euro ist der Preis. Vielen Dank für den Besuch!
Osang: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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