Meinung

Wir dürfen feiern, wenn die Welt zugrunde geht

04:28 Minuten
Deko-Stern und Lichterketten auf dem Weihnachtsmarkt am Dom in Köln
Schönheit sei als Akt der Selbstbehauptung legitim, auch im Angesicht des Krieges, meint Sieglinde Geisel. Im Bild: Weihnachtsmarkt am Dom in Köln © picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt
Eine Glosse von Sieglinde Geisel · 21.12.2023
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Darf man Feste feiern im Angesicht des Leids anderer? In der Weihnachtszeit sei diese Frage besonders akut, meint Sieglinde Geisel. Sie kommt zu dem Schluss, dass wir trotzdem glücklich sein dürfen - unter einer Voraussetzung.
Die Feiertage kommen mit einem Glücksversprechen. Damit wird eine kognitive Dissonanz spürbar, die ich sonst nur diffus empfinde. Darf man Feste feiern im Angesicht des Leids anderer? Darf ich es mir privat gutgehen lassen, während andere kein Privatleben mehr haben, weil sie gerade bombardiert werden? Eine Frage aus der Mottenkiste der Moral: Auf der Welt wird es immer Menschen geben, die aus politischen Gründen leiden, das gehört zur Conditio humana.

Zeitgenossin sein heißt, nicht ignorant zu sein

Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Frage nach der Legitimität unseres privaten Glücks keine Allerweltsfrage mehr. Seit jenem 24. Februar sehe ich morgens auf dem Handy die russischen Luftangriffe der Nacht, und schon ist mir mein warmes Bett nicht mehr selbstverständlich. Seit dem 7. Oktober hat sich dieses existenzielle Unbehagen noch einmal verstärkt. Von der Klimakrise und all dem Leid, das sie noch bringen wird, ganz zu schweigen. Wie mir graut vor den 29 Grad, wie sie im Dezember in Spanien herrschen. Man könnte hinfahren über Weihnachten, um dem Berliner Dauergrau zu entgehen. Doch das wäre ein vergiftetes Glück, ich käme mir vor wie ein Kriegsgewinnler. Es wäre das richtige Leben im Falschen.
Natürlich ist niemandem gedient, wenn ich mir mein Glück versage. Auch das ist eine Binsenweisheit. Doch darum geht es nicht. Meine kognitive Dissonanz bezieht sich auf etwas anderes: Sie hat mit Zeitgenossenschaft zu tun. Zeitgenossin zu sein, bedeutet für mich, dass ich mich meiner Gegenwart stelle, dass ich nicht ignorant bin. Pathetisch gesprochen: Ich möchte nicht gleichgültig sein gegenüber den Menschen, mit denen ich diesen Planeten teile.

Ein Garten in einer zerbombten Stadt

Ich erinnere mich an einen Artikel, der in der Anfangszeit der Pandemie in den sozialen Medien eifrig geteilt wurde, weil er uns so wohltat. Darin wurde empfohlen, nun erst einmal für sich selbst zu sorgen. „Kaufen Sie ein, kochen Sie etwas Schönes, machen Sie es sich mit Ihren Liebsten gemütlich!“, so hieß es ungefähr. Mir fällt dazu ein Garten in Grosny ein, von dem Anna Politkowskaja in ihrem Buch über Tschetschenien berichtet. Vom Haus stand nur noch das Fundament, doch seine Besitzerin hatte in der Ruine einen Steingarten angelegt, mit Pflanzen, die sie in der zerstörten Stadt gefunden hatte. „Ich liebe Schönheit“, sagte sie dazu. Die Verteidigung der Schönheit war ein Akt der Selbstbehauptung. Diese Frau hatte sich mitten im Krieg einen Raum geschaffen, über den sie die Kontrolle hatte.

Sich mit der Welt verbunden fühlen, gerade jetzt

Je schlimmer die Welt, desto wichtiger scheint mir, dass wir uns solche Räume erschaffen. Wir dürfen feiern, wenn die Welt zugrunde geht, wir sollen es sogar. Es ist eine Frage des Bewusstseins: Es macht einen Unterschied, ob ich mich vom Elend der Welt bei meinem Feierabendbier nicht stören lassen will, oder ob ich mir aktiv ein Glück erschaffe, welches das Leid der anderen mit einbezieht. Die Kirche hat dafür die diskrete, schöne Form der Fürbitte gefunden: Man dankt für das eigene Glück und bittet zugleich um Segen für jene, die dieses Glück nicht haben.
In Zeiten wie diesen ist das eigene Glück nur möglich im Angesicht des Unglücks der anderen. In Zeiten des Kriegs ist das private Glück politisch: Es ist nur dann der Zeit gemäß, wenn man sich dabei mit der Welt verbunden fühlt.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen. Geisel ist Gründerin von „tell – Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ und schreibt dort regelmäßig.

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