Weibliche Genitalverstümmelung

"Wie kommen die dazu, mir etwas wegzunehmen?"

34:33 Minuten
Schwarzweiße Familienaufnahme einer Familie von PoC
"Ich war sicher, ich muss mich positionieren: Was will ich? Welche Frau möchte ich werden?": Mariame Sow im Kreis ihrer Familie. © privat
Stephanie Kowalewski im Gespräch mit Sonja Koppitz · 28.08.2022
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Mariame Sow ist fünf Jahre alt, als ihre Klitoris amputiert wird. Tradition, sagen die Tanten. Doch in der Schule trifft Mariame Mädchen, die nicht beschnitten sind. Sie realisiert: Es geht auch anders – und nimmt ihr Leben in die eigene Hand.
Mariame Sow wurde in Senegal geboren. Die Tradition legt fest, dass sie bei ihrer Tante und nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwächst. Die Tradition verlangt auch, dass sie im Alter von fünf Jahren beschnitten wird. Female Genital Mutilation, kurz FGM, ist eine massive Körper- und Menschenrechtsverletzung. Doch Mariame erlebt es anders.

„Das Wort 'beschnitten' bedeutet bei uns etwas ganz anderes. Das ist wie: Ihr werdet bedeckt, geschützt. Dieses Ritual wurde so eingepackt, dass man das Gefühl hatte, das gehört dazu. Ich glaube, dieser psychologische Part von diesem Akt hat uns das Gefühl gegeben, die machen alles richtig.“

Mariame Sow

Mit einer Schere wird Mariame die Klitoris abgetrennt, anschließend muss sie sich zur Desinfektion unter brennenden Schmerzen in ein Salzbad setzen. Doch die Stimmung ist festlich, Cousinen und Schwestern werden ebenfalls beschnitten. Die Beschneiderin ist eine Frau aus der Nachbarschaft. Mariame denkt: “Das ist normal.”
Zwei Frauen, die sich im Arm halten und lachen
Gemeinsam gegen die grausame Praxis der Genitalverstümmelung: Mariame Sow und Tobe Levin.© privat

FGM ist kein Naturgesetz

Als Mariame einige Jahre später aufs Gymnasium kommt, lernt sie Mädchen einer anderen Volksgruppe kennen. Die Wolofs sind ebenfalls Muslime, doch Beschneidung ist bei ihnen geächtet. Mariame beginnt, Fragen zu stellen.

Da hat es wirklich gefunkt, dass ich dachte, wenn nur wir das erleben, dann muss ich verstehen warum. Ich war sicher, ich muss mich irgendwie positionieren: Was will ich? Welche Frau möchte ich werden? Will ich heiraten, Kinder haben, will ich in die Schule? Ich wusste, ich möchte über mein Leben bestimmen. Ich sah meine Cousinen, die nie irgendetwas entschieden haben.

Mariame Sow

Als Jugendliche organisiert Mariame bereits Veranstaltungen gegen Frühverheiratung und Zwangsehe. Sie beendet die Schule und nimmt ein Studium auf, zunächst in Dakar, später in Frankfurt am Main. Hier trifft sie Tobe Levin, eine bekannte Aktivistin, die sich gegen FGM engagiert.

Sie hat gesagt, es ist ein Frauenthema, aber, das geht nicht nur die Betroffenen etwas an, sondern wir alle müssen uns einbringen, damit das aufhört. Wow! Dann habe ich gesagt, hey, wo warst du die ganze Zeit? Ich war in kleinen Gruppen, aber ich hatte nicht den Eindruck, ich konnte da etwas bewirken.

Mariame Sow

Die Frauen gründen den Verein „Forward for Women“ und kämpfen gemeinsam gegen die grausame Praxis der Genitalverstümmelung. Mariame hat ihr Lebensthema gefunden. Hierzulande klärt sie unwissende ÄrztInnen, LehrerInnnen und PädagogInnen auf. Mariames Herangehensweise ist sanft, aber stetig. Sie stellt Fragen, bewertet nicht.

Eine Rekonstruktion ist möglich

2014 erfährt sie von einer völlig neuen Operationsmethode, die ein Chirurg am Luisenhospital in Aachen entwickelt hat. Für Mariame ist sofort klar: Wenn sie für eine Rekonstruktion infrage kommt, macht sie das auch.
Das Besondere an der Operationsmethode ist, dass dabei die verstümmelte Vulva und die herausgeschnittene Klitoris nicht nur ästhetisch wiederhergestellt werden, sondern auch die Nerven wieder funktionieren sollen. Das heißt, beschnittene Frauen können dann sogar wieder Orgasmen erleben. Aber darum geht es ihr gar nicht. Mariame sagt, es geht um so viel mehr.

Für mich persönlich hatte das mit Sexualität nichts zu tun. Natürlich, wenn danach der Sex anders ist, das ist ein Bonus. Ich hatte das Gefühl, irgendwas wurde mir genommen. Ohne dass ich ein Wort sagen durfte. Keiner hat mich gefragt. Für mich war es wichtig zu sagen: Ich habe es wieder genommen! Und ich fühlte mich besser. Ich fühle mich schöner. Ich fühle mich vollkommen. Und ich bin sehr zufrieden.

Mariame Sow

Bei “Plus Eins” erzählt die Journalistin Stephanie Kowalewski die Geschichte der senegalesischen Aktivistin Mariame Sow. Einer Frau, die sich nicht entmutigen lässt und neue, sanfte Wege findet, eine grausame Tradition zu durchbrechen.
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