Zwangsheirat

"Ich möchte den auf jeden Fall nicht"

34:50 Minuten
Foto eines analogen Fotos vom 12. Mai 1992: Eine ältere Frau gibt einer jüngeren die Hand und überreicht ihr ein Dokument. Beide tragen ein Kopftuch. Im Hintergrund ist jede Menge Kinderkleidung und Blumen zu sehen.
Hülya bekommt in der Koranschule ein Zertifikat. © Hülya Al
Marius Elfering im Gespräch mit Gesa Ufer · 05.11.2021
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Hülya wächst mit den strengen Regeln ihrer Mutter auf. Sie muss Kopftuch tragen, kommt auf die Koranschule, mit 17 soll sie verheiratet werden. Hülya löst sich von ihrer Mutter. Dann erfährt sie, dass ihre Schwester zwangsverheiratet werden soll.
Eine unbeschwerte Kindheit ist das, was Hülya Al in den 80er-Jahren in Rielingshausen erlebt, nicht. Der Druck, der auf dem Mädchen damals lastet, ist riesig. Schon früh verlangt ihre Mutter, dass sie den Großteil der anfallenden Hausarbeiten übernimmt: Es muss geputzt und gekocht werden, ihr kleiner Bruder muss gewickelt werden. Die Schule ist eher Nebensache, Hülya soll andere Prioritäten setzen und sie ist dabei meistens auf sich allein gestellt.
"Soweit es möglich ist, hat meine Mutter mich oft nicht in die Schule geschickt und gesagt, dass ich krank sei. Damit ich auf meine Geschwister achte. Auf Ausflüge durfte ich auch nicht mit."

Strenge und kontrollierende Mutter

Die Mutter ist streng, sie schreit. Wenn ihr was nicht gefällt, fliegt auch mal ein Hausschuh nach Hülya. Sie ist oft unzufrieden mit ihrer Tochter und gleichzeitig kontrolliert sie jeden ihrer Schritte.
All die Einschränkungen, die Verpflichtungen, begründet Hülyas Mutter damals damit, dass so eben das Leben von Mädchen auszusehen habe. Und häufig stützt sie sich dabei auch auf die Religion. Aus diesem Grund muss Hülya damals auch ein Kopftuch tragen, obwohl sie das nicht möchte.
Als Hülya elf Jahre alt ist, gibt ihre Mutter sie schließlich in eine Koranschule. Später dann, Hülya ist mittlerweile 17 Jahre alt, versucht sie, ihre Tochter zu verheiraten. Doch beide Male kann Hülya sich den Situationen entziehen und verfolgt immer stärker ihre eigenen Ziele. Sie emanzipiert sich von ihrer Mutter, macht ihr Abitur, studiert später sogar. Sie lebt ein freies Leben.
Doch dann erfährt sie, dass ihre kleine Schwester in der Türkei zwangsverheiratet werden soll. Hülya wird klar, wie frei sie mittlerweile in Stuttgart lebt und wie unfrei ihre Schwester in der Türkei leben würde. Sie weiß, dass sie etwas tun muss.
"Ich habe gesagt: Ich möchte ganz eindeutig wissen: 'Magst du den? Möchtest du den auch wirklich heiraten?' Da hat sie gesagt: 'Nein, ich möchte den auf jeden Fall nicht.'"
"Es wäre eine Zwangsheirat gewesen. Zwangsheirat bedeutet Zwangsvergewaltigung", sagt sie. Ihr Plan damals: Sie will ihre Schwester aus der Türkei entführen. Ein riskantes Vorhaben, bei dem Hülya viel aufs Spiel setzt.
Hülya Al, mit rotem Poncho und rosa Mütze, geht in einem Gebirge spazieren.
Hülya auf einer Urlaubsreise.© Hülya Al
Wenn Hülya Al heute, mehr als eineinhalb Jahrzehnte später, auf ihre Geschichte blickt, dann hat sich die Einschätzung ihrer damaligen Lebenssituation geändert. Sie glaubt nicht, dass all das, was ihre Mutter den Kindern angetan hat, religiös oder ausschließlich durch Traditionen begründet war. Sie glaubt: Ihre Mutter war überfordert mit ihren Kindern und suchte nach einem Ausweg, sich selbst Erleichterung zu verschaffen. Doch auch, wenn sich die Perspektive auf ihre Kindheit geändert hat, ganz vergessen wird Hülya das, was ihr widerfahren ist, nie: "Die Beziehung ist da gebrochen. Und das bleibt leider."
Bei Plus Eins erzählt Marius Elfering die Geschichte von Hülya Al – einer Frau, die viele Schritte gegangen ist, um sich selbst und ihren Geschwistern ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
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