Wehrmachtskinder in Finnland

Das Schweigen der Mütter

Schneesturm in Helsinki
Frauen mit Kindern von Wehrmachtssoldaten blieben nach deren Rückkehr nach Deutschland alleine zurück. © picture alliance / dpa / Lehtikuva Martti Kainulainen
Von Jenni Roth · 08.10.2014
Der Zweite Weltkrieg war bis zur Jahrtausendwende ein Tabu in Finnland. Über die einstige Waffenbrüderschaft mit Nazi-Deutschland durfte nicht gesprochen werden. Für die Kinder von Wehrmachtssoldaten hatte das oft lebenslange Folgen.
Ralli: "Er ist ja schon 1944 gefallen. Er hätte mich sonst sofort hier weggeholt. Ich bin immer noch die Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet, der sie abholt, in sein Schloss. "
Helli-Maija: "Die finnischen Männer hassten die Deutschen, weil sie ihnen die Frauen wegnahmen!"
Frans: "Ich hab 40 Jahre versucht, ihn zu finden. Über das Rote Kreuz, die Heilsarmee. Nichts. Und meine Mutter, nichts hab ich von ihr rausgekriegt, nicht einmal, als sie 90 war. Ich hab sie mit ihrer Geschichte begraben."
Maija: "Ich hab kapiert, dass etwas nicht stimmt, als das mit den Beschimpfungen der anderen Kinder losging. Die plapperten natürlich nach, was sie daheim aufschnappten: Deutschenbastard, Nazi. Natürlich wusste keiner von uns, was Nazi bedeutete. Aber ich spürte, das ist was Unanständiges."
Es ist halb sechs am Nachmittag in Kemijärvi, der nördlichsten Stadt Finnlands. Im Fernsehen läuft "Sturm der Liebe“. Für ihre Lieblingsserie hat Helli-Maija Peltoniemi es sich in ihrem Ohrensessel bequem gemacht. Sie hat die typisch hohen Wangenknochen der Samen. Trägt eine weiße Kurzhaarfrisur, ein zitronengelbes T-Shirt, helle Stoffhosen. Die 89-Jährige lebt allein: drei Zimmer, die obligatorische Sauna, eine Waschmaschine. Vor dem Balkon liegt still und tiefblau der Pöyliöjärvi-See.
Helli-Maija ist immer noch fit, nur die Augen sind nicht mehr so gut, die Untertitel auf dem Bildschirm kann sie nur schwer erkennen. Aber sie versteht auch so, worum es geht. Eine junge Frau, ein uneheliches Kind – das klingt fast wie ein Teil ihrer eigenen Geschichte.
Helli-Maija: "Als Maija geboren wurde, war ich gerade 19, keiner hat mich aufgeklärt! Dabei wussten in der Kaserne doch alle Bescheid! Kein Mensch sprach von Sex. Als ich dann schwanger war, hab ich das nicht verstanden. Aber Joksch war ganz begeistert, er hat sich unheimlich gefreut auf das Kind."
Lappland, 1941. Die Küchengehilfin Helli-Maija lernt den Oberfeldwebel Rudolf Joksch bei der Arbeit in der Kasernenkantine von Misi kennen, etwa 30 Kilometer von hier.
Die Deutschen waren so kultiviert! Alle sehr höflich und zuvorkommend. Und Joksch erst… Groß war er, und schön! Wir haben uns immer heimlich nachts getroffen. Und er hat Tangotanzen geliebt! Im Offizierscasino gab es diese geschlossenen Veranstaltungen, da nahmen die Soldaten ihre finnischen Freundinnen mit hin. Wenn ich jetzt die Musik im Radio oder so wieder höre, kommt die Erinnerung zurück… So ist das. Ich war danach 35 Jahre verheiratet mit einem Finnen, und er hat nicht einmal gesagt, dass er mich liebt. Von Joksch hab ich das jeden Tag gehört.
Auch beim Rest der Bevölkerung sind die Deutschen beliebt. Jobs bei der Wehrmacht sind bei Frauen aus ganz Finnland heiß begehrt. Es spricht sich herum, dass die deutschen Waffenbrüder stattliche Gehälter zahlen. Viele Deutsche quartieren sich bei den Einheimischen ein, zahlen zuverlässig ihre Mieten und machen sich mit Mitbringseln beliebt: Nylonstrümpfe, Obst – Dinge, die man hier oben nicht kennt oder hat.
Helli-Maija: "Nur die finnischen Männer an der Front haben die Deutschen gehasst, weil sie ihnen die Frauen weggenommen haben!"
Sprechen, solange noch Zeit ist
Drei Jahre sind die Deutschen in Lappland stationiert und Helli-Maija ist nur eine von vielen finnischen Frauen, die sich in einen Soldaten verlieben. Aber sie ist nur eine von wenigen Zeitzeuginnen, die noch lebt und – die über die Vergangenheit spricht.
Helli-Maija: "Ich erinnere mich an unser letztes Treffen. Joksch war im Krankenhaus in Oulu. Die Krankenschwester, das war Linda Hyttilä, die hat das für uns organisiert, so ein winziges Zimmer. Da standen wir. Haben geweint. Ich war hochschwanger. Und er erzählte, bald würden die Deutschen aus Lappland abgezogen und man werde auch ihn aus dem Krankenhaus wegbringen…"
Irja Wendisch: "Diese Brücke hier wurde im Krieg zerstört, als die Deutschen abgezogen sind, da wurden Munitionen angebracht, sie wurde gesprengt, so wie alle Häuser in der Stadt und in Umgebung… Oh jetzt aufpassen, es ist grün… Innenstadt total zerstört, nur zwei, drei Häuser übrig."
Die Autorin Irja Wendisch, groß, halblange blonde Haare, ist auf dem Weg in ihre Sommerhütte nahe der Provinzhauptstadt Rovaniemi, die im Lapplandkrieg 1944 restlos niedergebrannt wurde. Der blaurote Lack an ihrem "Hüttenauto" – Modell: Renault 4, ein Original aus den 80er-Jahren – blättert an manchen Stellen schon ab. Die Mittfünfzigerin lebt mit ihrem deutschen Mann in Berlin, verbringt aber jeden Sommer in ihrer Heimat im hohen Norden.
210.000 Deutsche in Lappland
Eine Zeitreise durch die endlose Tundra Lapplands. Vor dem Fenster flimmert das Weiß der Birken zwischen den Kiefernstämmen, die in Flechten gebettet sind wie auf silberfarbenen Kissen. Ein gelber Mittelstreifen teilt den Asphalt in zwei Hälften und verliert sich nach jedem Hügel aufs Neue im Horizont. 210.000 deutsche Soldaten waren hier in Lappland stationiert – in einer Region mit nur 180.000 Einwohnern.
Wendisch: "Wo wir jetzt sind, das ist Jokkavaara, eine Anhöhe direkt am Dorf. Da hinten fließt der Kemijoki, der längste Fluss Finnlands. Und das ist hier das Haus des Sportvereins, hier wurden Deutsche untergebracht, in Oikarainen war ein Rückzugsort für das Sturmbootkommando, ein Übungsort."
Irja Wendisch hat mehrere Bücher über die deutsch-finnische Waffenbruderschaft geschrieben.
"Meine Idee war ja, dass ich Leute suche, die als junge Soldaten in diesem Dorf stationiert waren. Die schwärmten alle von Finnland und Oikarainen: Die Landschaft und die Milch!"
Einspieler: Radionachrichten von 1942
"Bei erfolgreichen Vorstößen deutscher Truppen erlitt der Gegner hohe blutige Verluste. Im nördlichen Frontabschnitt scheiterten stärkere Angriffe der Sowjets. In Lappland nahmen deutsche Gebirgsjäger zusammen mit finnischen Verbänden einen stark ausgebauten feindlichen Stützpunkt und vernichteten 40 Kampfstände mit ihren Besatzungen.“
Knapp tausend Kilometer südlich von Rovaniemi, in Finnlands Hauptstadt Helsinki, ruhen in den engen Regalreihen der Bibliothek der "Nationalen Verteidigungsakademie", der finnischen Militäruniversität, die Zeugnisse aus der Kriegszeit. Pentti Airio wuchtet die gesammelten Ausgaben des Lappland-Kuriers von 1941 bis 44 auf den Tisch – die damalige "Zeitung für deutsche Soldaten in Nordfinnland“.
Pentti: "Deutsche und Finnen waren Waffenbrüder, nicht Alliierte. Man kann sich das vorstellen wie eine Liebesbeziehung: Es gibt offene Beziehungen, in denen beide getrennt wohnen und ihr eigenes Geld haben. Die nächste Stufe: Das Paar lebt zusammen, ist aber nicht auf dem Papier liiert. Und dann gibt es noch die offizielle Ehe. Das Verhältnis von Deutschen und Finnen war damals so etwas wie eine offene Beziehung mit gemeinsamer Wohnung."
Der Historiker und ehemalige Brigadegeneral beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Zweiten Weltkrieg in Finnland, mit der Freundschaft von Deutschen und Finnen – und wie beide Seiten am Ende zu Feinden werden.
Pentti: "Wenn man mal überlegt, die Männer kamen zum Beispiel aus Berlin, da ist der Tiergarten der größte Wald. Dann kommen sie nach Lappland, in diese Wildnis und Einsamkeit, in der es nur ungenaue Landkarten gab, aber dafür umso mehr Mücken – das machte denen Angst! Deshalb waren die Finnen gewissermaßen Fremdenführer. Anfangs hatten die ja nicht einmal eine Winterausrüstung, die froren. Aber sie hatten viel Schnaps – und den tauschten die Finnen gern gegen Wollmützen!"
Einspieler: Radionachrichten von 1942
"In Lappland wiesen deutsche Gebirgsjäger mehrere feindliche Angriffe ab und fügten dem Gegner schwere Verluste zu."
Ab Herbst 1944 ändert sich alles
Drei Jahre eint Deutsche und Finnen der gemeinsame Feind Sowjetunion. Doch dann kommt der Herbst 1944. Im September unterzeichnen Finnen und Russen in Moskau einen Sondervertrag. Von heute auf morgen steht alles unter neuen Vorzeichen: militärische Freunde werden zu Feinden, persönliche Beziehungen stehen ebenso in Frage wie die Zukunftspläne der Menschen.
Finnland rechnet jetzt damit, dass die Deutschen den Krieg verlieren werden. Als kleines Land geht es strategisch vor – und schließt ein Waffenstillstandsabkommen mit den Russen. Darin verlangt Stalin die Vertreibung der deutschen Truppen von finnischem Boden innerhalb von 14 Tagen. Doch die Straßen sind schlecht, die Frist ist zu kurz, die Forderung unrealistisch.
Pentti: "Die mussten ja nicht nur ihre Truppen abziehen, sondern das ganze Kriegsmaterial, das ging so schnell gar nicht. Bei Petsamo ließen die Deutschen 200.000 Flaschen Sekt und anderen Alkohol zurück. Die wussten schon, dass sie ihren Gegner so eine Weile aufhalten würden. Man kannte das von den Finnen, da waren die Truppen schon auch mal sturzbetrunken!"
Anfangs unterstützt die finnische Armee noch den Abzug der Deutschen, keine Seite will gegen die andere kämpfen. Doch der russische Druck auf die Finnen ist so stark, dass es schließlich doch zu Kampfhandlungen kommt.
Pentti: "Das war vor allem schwierig auf der persönlichen Ebene. Erst stehen sie gemeinsam an der Front, und jetzt sollten sie plötzlich gegeneinander kämpfen. Ein Bekannter, der dabei war, erzählte mir, dass sie sogar noch einen verletzten Deutschen heimlich auf die deutsche Seite brachten. Zwischenmenschlich war da kein Hass, zumindest anfangs. Aber politisch waren sie gezwungen – und so wurden die Finnen in den deutschen Augen zu Verrätern."
Die Deutschen zerstören ganze Dörfer, Straßen und Brücken. Auch Wohnhäuser gehen in Flammen auf – der Feind soll im nahen Winter kein Obdach finden. Denn Deutsche wie Finnen rechnen mit einem Vormarsch der Russen, die einheimische Bevölkerung wird aus Lappland nach Schweden und Norwegen evakuiert. Die Befürchtungen waren nicht unbegründet. Tatsächlich blieb Finnland das einzige Land in der Region, das als ehemaliger Gegner der nicht nicht als Teil des Ostblocks endete.
Drei einmütigen Jahren steht eine kurze Zeit der Feindschaft gegenüber – doch diese hat die finnische Gesellschaft nachhaltig geprägt. Der Lapplandkrieg machte die Freundschaften zu den Deutschen zum Tabu, und die finnischen Liebhaberinnen zu "Nazi-Huren". Die jungen Mütter unter ihnen verstecken in der Nachkriegszeit oft ihre Kinder oder verleugnen sie.
Heimatgefühle in Finnland
Am nächsten Morgen ist Helli-Maija früh wach – sie ist aufgeregt: Ihre Tochter Maija ist auf dem Weg zu ihr, gemeinsam mit der Enkelin. Und mit dem Besuch aus Deutschland kehrt immer auch ein Stück Vergangenheit zurück. Helli-Maijas Bruder ist schon unterwegs, um die beiden vom Bahnhof zu holen. Viel zu früh steht die alte Frau vor der Tür des Mehrfamilienhauses in Kemijärvi. Die Luft riecht nach Erdbeeren und nach Schilf. Dann biegt endlich der rostrote Golf ihres Bruders um die Ecke.
Helli-Maijas Tochter Maija ist bald 70 Jahre alt. Sie ist gezeichnet von einer Krebserkrankung, neben der Mutter wirkt sie fast zerbrechlich. Früher ist sie Marathon gelaufen, jetzt hat sie Walking-Stöcke dabei, um das Gleichgewicht zu halten. Ihre Tochter Sabine ist groß, die Haut sonnengebräunt. Ihr rotes Hemd leuchtet in der Sonne, aus dem Pagenkopf fallen ein paar widerspenstige Strähnen in die Stirn. Die 47-jährige Bine freut sich, ihre "Mummi", ihre Omi, wiederzusehen.
Bine: "Ist das schön, wieder hier zu sein! Es tut so gut, finnisch zu sprechen und zu hören, die Landschaft zu sehen. Ich werde immer ganz emotional, wenn ich hier bin…"
Helli-Maija schiebt ihre Gäste an den gedeckten Frühstückstisch: Eine große Kanne Kaffee, geräucherter Lachs, Butterkäse. Alle reden laut durcheinander. Schließlich sehen sie sich nur einmal im Jahr.
Maija: "Ich lebe jetzt schon so lange in Deutschland! Ich glaube, ich bin Deutsch inzwischen, ja, notgedrungen… Mein Mann Dieter kann auf Finnisch nur Kiitos, hyvää yötä... Aber wenn es Wettkämpfe gibt, bin ich immer für die Finnen!"
Fast 50 von 70 Jahren hat Maija inzwischen in Deutschland verbracht. Und weiß nicht mehr, wo sie hingehört. Wobei: So richtig hat sie es noch nie gewusst.
Maija: "Ich hatte schon immer das Gefühl, ich gehöre nirgendwo hin. Da war immer so eine unbestimmte Sehnsucht. Als ich 14, 15 war, wollte ich dann wissen, wer er war. Wer ich bin. Ich habe dann über das Rote Kreuz versucht, mehr zu erfahren. Aber da kam ich nicht weiter. Ich ging schon während der Schule für ein Praktikum nach Deutschland. Aber die Deutschen wussten von nichts."
Hast du denn nicht mit deiner Mutter darüber gesprochen?
Maija: "Nein, da gab es eine unsichtbare Schranke, das war schwer zu greifen. Ich habe gespürt, dass ich das Thema besser nicht anspreche."
Bine: "Meine Mutter hat lange nicht da drüber gesprochen, auch meine Oma nicht. Aber als wir dann angefangen haben zu reden, war Oma plötzlich stolz auf das, was sie erlebt und gelebt hat. Und meine Mutter merkte: Ich bin nicht die einzige, die als Kind so ausgegrenzt worden ist und nicht weiß, wer ihr Vater ist."
"Wir waren von Haus aus gebrandmarkt"
Raili: "Ich hab mir immer ausgemalt, wie er am Kamin sitzt, dunkle Locken hat er, und Pfeife raucht. Ich habe mir Luftschlösser gebaut, in der Fantasie meinen eigenen Vater gemacht, das hat mir Kraft gegeben. Sonst wäre ich verrückt geworden. Unsere Mütter waren deutsche Huren und wir waren Hurenkinder, von Haus aus gebrandmarkt."
Ein Café im Zentrum von Rovaniemi, in einem der lieblos dahingeworfenen 50er-Jahre-Würfel. Nach dem Krieg war keine Zeit, kein Raum für schöne Baukünste. Raili Heikkilä will nur ein Glas Wasser. Sie breitet Briefe und Fotos vor sich aus. Raili ist eines von etwa 800 deutsch-finnischen Wehrmachtskindern. Sie hat ein kantiges Gesicht, ihre Mundwinkel sind spöttisch, vielleicht verbittert, nach unten gezogen, die Haare waren einmal voll und dunkel, jetzt sind sie grau.
Raili: "Ich bin nicht Finnin, nie gewesen. Ich bin viel mehr wie er. Und er war ja auch ihre große Liebe! Sie war schon 33 damals, eine schöne Frau. Alle sagten, sie würde jeden kriegen… Aber sie hat nie wieder einen anderen gewollt oder Kinder gekriegt. Mein Vater war in Deutschland zwar verheiratet – aber meine Eltern waren schon richtig zusammen. Hier, dieses Foto von 1943: Da sind die beiden extra zusammen zum Fotografen! Sie sehen so glücklich aus!"
Neben Raili sitzt Frans Kantola, runde Brille, sehnige Statur. Gerade ist er von seinem Haus auf dem Land in eine Stadtwohnung gezogen – damit er schneller beim Supermarkt ist oder im Notfall beim Arzt.
Frans: "Ich wurde in Hamburg geboren, 1945 im Frühjahr. Meine Mutter war stur, sie ist meinem Vater einfach nachgereist – obwohl er in Deutschland verheiratet war! Ich erinnere mich nur, da war ich drei, wie wir im Winter mit der Pferdekutsche zurückkamen, an einem sonnigen Frosttag. Danach hat mich meine Mutter weggegeben, meine Tante adoptierte mich."
Frans erfuhr erst spät, dass er eigentlich Frans heißt: In Finnland war er immer nur Juhani – der deutsche Name wäre verräterisch gewesen. Heute, als alter Mann, besteht er auf seinem deutschen Namen.
Frans: "Dieses Ausgegrenztsein und das Nichtwissen – das macht schon was mit einem. Ich habe 40 Jahre versucht ihn zu finden. Über das Rote Kreuz, die Heilsarmee. Nichts. Und meine Mutter, nichts hab ich von ihr rausgekriegt, nicht einmal, als sie 90 war. Ich hab sie mit ihrer Geschichte begraben."
Frans lacht unbeholfen. Sagt, dass er versucht hat, bei seinen Kindern alles besser zu machen. Für sie da zu sein. Über Gefühle zu sprechen.
Raili: "Nachdem der Weltkrieg zu Ende war, hat unser persönlicher Krieg – das Schweigen – erst angefangen. Als ich anfing, nach meinem Vater zu suchen, kam eine Frau von der Heilsarmee zu uns. Meine Mutter wurde furchtbar böse, schmiss sie raus und schrie rum wie wild: ´Das ist das letzte Mal! Du hast kein Recht, ihn zu suchen!`Das war die Scham! Das war schlimm. Man konnte nicht darüber sprechen. Man durfte nicht. Im Nachhinein tut sie mir furchtbar leid. Sie hatte keine Freude im Leben, nur die Arbeit – und war allein mit ihrem Schmerz."
Wehrmachtskinder auf der Suche
Irja: "Ich bin überzeugt, dass sie sich so geschämt haben, dass sie die Scham für sich behalten mussten. Es war eine Schande, uneheliches Kind zu haben. Und eine doppelte und dreifache Schande, sich mit einem Deutschen eingelassen zu haben. Ich gehe davon aus, dass sie nicht mal miteinander geredet haben. Sonst hätten die Kinder auch mehr über Väter gewusst."
Die Autorin Irja Wendisch hat Wehrmachtskindern bei der Suche nach ihren deutschen Wurzeln geholfen und darüber geschrieben. Mit dem Buch rührte sie – im Jahr 2009 – an ein Tabu: Man sprach nicht über den Krieg, immer noch nicht. Über die Liebesbeziehungen schon gar nicht. Nicht in der Öffentlichkeit, und nicht im geschützten Kreis der Familie.
Ein alter Schützengraben im Wald um die Gemeinde Mäntyharju in Südostfinnland, ca. 200 Kilometer von der Hauptstadt Helsinki entfernt. Der Ort galt als geheimer Stützpunkt im 2. Weltkrieg um eine eventuelle sowjetische Invasion aufzuhalten, zu der es jedoch nie kam. Seitdem liegt der Graben vergessen und kaum noch zu erkennen mitten im Wald, drei Stunden von der nächsten Straße entfernt, und die Natur erobert sich ihn zurück.
Ein alter Schützengraben in der Nähe der Gemeinde Mäntyharju in Südostfinnland, ca. 200 Kilometer von der Hauptstadt Helsinki entfernt. Der Ort galt als geheimer Stützpunkt im 2. Weltkrieg, um eine eventuelle sowjetische Invasion aufzuhalten.© picture alliance / Foto: Fritz Schumann
Halt an einer Raststätte. Schummriges Licht, finnischer Tango knistert aus einer Jukebox. Der Tango ist in Finnland überall, spätestens seit der Musiker Toivo Kärki im Winterkrieg gegen Russland 1939/40 die ersten finnischen Tangos komponierte: Mit dem Tango gab er den Finnen eine Sprache, mit der sie alles Unausgesprochene sagen konnten. Für Worte ist dagegen bis heute oft kein Raum, eine Volksweisheit lautet: Der finnische Mann spricht nicht, und er küsst nicht.
Irja: "Jede Kultur hat ein anderes Schamgefühl, ´häpeä`. Man sagt ja über die Finnen, die schweigen in zwei Sprachen, das hat schon Brecht gesagt. Da ist viel Wahres dran. Viele sagten, gut, dass du drüber schreibst, wir haben so viel unter den Teppich gekehrt. Nach dem Krieg musste man schweigen, dass wir euphorisch den Pakt mit Deutschland geschlossen haben."
Das Schweigen hatte auch politische Gründe – man wollte nicht wahrhaben, dass man den Krieg verloren hatte und den Nachbarn Russland mit durchaus auch positiven Erinnerungen an die Deutschen nicht vergrätzen. Eine Selbstzensur, die Jahrzehnte lang hielt.
Bine: "Oma, ich hab dir was mitgebracht… Diese Seife, die du so liebst. …Da steht drauf: Sehr gut."
Bine drückt ihrer Großmutter eine Seife in die Hand und eine große Packung Schokolade. Geschenke aus Deutschland – auch das: immer noch eine bittersüße Erinnerung.
Helli-Maija: "Joksch hat mir immer was mitgebracht, wenn er in den Ferien zu Hause war. Einmal einen wunderschönen schokobraunen Anzug. Jooo! Seidenstrümpfe und Lederschuhe. Und er hat mir einen Verlobungsring geschenkt!"
Heute sagt Helli-Maija, sie habe immer ihren Stolz bewahrt, sich nie geschämt. Und doch verbrachte ihre Tochter die ersten Jahre bei ihren Großeltern.
Maija: "Jedenfalls, ich dachte anfangs immer, mein Opa sei mein Vater. Und als ich dann, in der ersten Klasse, in die Familie kam, dachte ich, toll, ich kriege auch einen richtigen Vater. Aber es gab nur Enttäuschungen. Ich war immer das fünfte Rad am Wagen. Und mit den Halbgeschwistern gab es immer nur Spannungen."
Helli-Maija: "Das war eine schwierige Situation. Eifersucht war ein großes Problem. Maija war immer das schwarze Schaf. Es hätte sie gar nicht geben dürfen..."
Maija, mit ihrem deutschen Vater, war eine Außenseiterin in der eigenen Familie. Und sie war es in der Schule, bei den Nachbarn. Ein kollektiver Gedächtnisschwund schien zu grassieren, keiner erinnerte sich mehr daran, wie gut man sich doch mit den Deutschen verstanden hatte. Schließlich hatte man hier oben, so weit fort von Auschwitz oder Birkenau, auch nichts gewusst von den Gräueltaten der Nazis: Nachrichten hatte es nur über die propagandasatte Presse und die wenigen Radiosender gegeben – in Lappland noch eine Neuheit; und die waren propagandistisch gegen den russischen Feind gerichtet.
Maija: "Ich habe kapiert, dass etwas nicht stimmt, als das mit den Beschimpfungen der anderen Kinder losging. Die plapperten natürlich nach, was sie daheim aufschnappten: Sakemanni, Nazi. Natürlich wusste keiner von uns, was Nazi bedeutete. Aber ich spürte, das ist was Unanständiges. Aber ich hab mich nicht unterkriegen lassen, ich hab mich gleich mit der Faust gewehrt!"
Helli-Maija: "Maija hat das Temperament ihres Vaters! Sie war immer anders als die andern!"
Warten und Hoffen
Helli-Maija ist stolz auf ihre Tochter, die das Leben lebt, das sie sich immer erträumt hat: Weit fort von der Einsamkeit Lapplands, mit einem deutschen Mann. Dabei hatte sie anfangs noch auf ihn gewartet. Ihm geschrieben. Aber die Post nahm ihre Briefe nicht mit. Und Joksch in Deutschland aufzuspüren, war für die junge Mutter undenkbar: Sie war damit beschäftigt, ihr tägliches Brot zu verdienen. Es gab keine Billigflüge, kein Internet, kaum Telefon – ein hermetischer Kreis des Schweigens.
Helli-Maija: "Und wer weiß, wie viel er mir geschrieben hat! Die finnische Post hat ja auch die Briefe aus Deutschland versteckt oder unterschlagen."
Nur einmal noch kam Post mit der Handschrift von Joksch, nur ein paar Zeilen: Er hatte Geld für seine Geliebte gesammelt und es der Krankenschwester in Oulu anvertraut. Die schickte ihr den Brief, nachdem sie 1945 aus der Evakuierungszeit in Schweden nach Kemijärvi zurückkehrte, von dem Geld kaufte Helli-Maija eine Milchkuh.
Helli-Maija: "Irgendwann habe ich aufgehört zu warten – und doch einen Finnen geheiratet. Ich war so blöd und hab alles verbrannt. Diesen Brief, alles was noch da war, auch die Fotos. Weil mein Mann so eifersüchtig war. Es war schon eine Erleichterung, als er starb. Bis dahin hatte ich ja gar keine Erlaubnis, mich zu erinnern."
Mittlerweile hat Helli-Maija – dank der Recherchen von Irja Wendisch – wenigstens eine Gewissheit: Joksch starb schon in den 50er-Jahren, eine eigene Familie hat er nie gehabt. Auch Raili und Frans in Rovaniemi sind am Ende ihrer Suche angelangt.
Frans: "Seit 2006 weiß ich, dass mein Vater zwei Schwestern hatte. Aber die wollen nichts mit mir zu tun haben. Und alle anderen sind mittlerweile gestorben, die Tante, der Onkel. Und seine Kinder habe ich nicht gefunden."
Raili: "Mein Vater ist schon 1944 gefallen. Er hätte mich sonst sofort hier weggeholt. Ich bin immer noch die Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet, der sie abholt, in sein Schloss. Meine Tochter sagt, Mama du kannst nichts ändern. Du musst das jetzt ruhen lassen. Das ist leicht gesagt. Er ist hier, im Herzen, die ganze Zeit."
Es scheint, als wollte jetzt eine ganze Nation im Zeitraffer nachholen, was sie Jahrzehnte versäumt hat: ihre Vergangenheit anzunehmen als Teil der eigenen Geschichte und Kultur. Der vor einigen Jahren gegründete "Verein der Wehrmachtskinder“ hat neben Raili und Frans vielen anderen Betroffenen bei der Suche nach ihren Wurzeln geholfen – und unterstützt heute auch Enkelkinder, ihre deutschen Vorfahren aufzuspüren.
Frans: "Ich glaube, erst jetzt ist die Zeit reif. Jetzt, nach 70 Jahren, kann man über den Krieg sprechen. Das ist eine Befreiung!"
Erstmals drängen Frauen in die Männerdomäne der finnischen Geschichtswissenschaft. Es gibt Dokumentar- und Spielfilme zum Thema, und es sind vor allem junge Schriftstellerinnen, die sich in Finnland mit dem Thema beschäftigen. Allen voran Katja Kettu aus Rovaniemi. Ihr Roman "Wildauge" stand wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten und basiert auf den Aufzeichnungen der eigenen Großmutter. Die junge Generation hat, endlich, eine neue Sprache für das Unaussprechliche gefunden.
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