Wegweiser im digitalen Zeitalter

Kirsten Marschall im Gespräch mit Susanne Burg · 24.05.2012
4.500 Bibliothekare und Archivare diskutieren in Hamburg über die Rolle der Bibliotheken in Zeiten von Internet und Smartphone. Die meisten Büchereien hätten sich auf die neuen Herausforderungen eingestellt, aber oft fehle das Geld, sagt die Chefin des Bibliotheksverbandes, Kirsten Marschall.
Susanne Burg: Eines der zentralen Themen neben dem Urheberrecht ist es, wie die traditionsreiche Bildungseinrichtung Bibliothek in unserer Zeit der modernen Informationsgesellschaft bestehen kann. Ich bin jetzt telefonisch verbunden mit Kirsten Marschall, sie ist Vorsitzende des Berufsverbandes Information Bibliothek und spricht für alle öffentlichen Bibliotheken, also nicht für die Wissenschafts- und Uni-Bibliotheken, sondern die kommunalen. Guten Morgen, Frau Marschall!

Kirsten Marschall: Guten Morgen, Frau Burg!

Burg: Ja, es gibt eine gute Nachricht, die Nutzerzahlen von Bibliotheken sind in den letzten Jahren gleich geblieben, etwa 30 Prozent der Deutschen nutzen öffentliche Bibliotheken. Die schlechte Nachricht: Damit gehört Deutschland zum unteren Drittel. In Ländern wie Finnland, Schweden oder Dänemark gehen 70 Prozent der Menschen regelmäßig in die Bibliothek. Frau Marschall, warum gehen vergleichsweise so wenige Deutsche in öffentliche Bibliotheken?

Marschall: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, aber es hängt natürlich mit den Rahmenbedingungen zusammen. In Finnland zum Beispiel ist Bibliothek ganz normal, noch mehr in den Schulalltag, in die Bildungslandschaft eingebunden, und dort gibt es Programme, die das ganz selbstverständlich in den Gemeinden als Selbstverständlichkeit darstellen, dass da natürlich die Bibliothek wichtig ist. Und hier in Deutschland ist es natürlich so, dass einfach auch deutlich mehr an Kulturangebot ist und die Bibliothek nicht so sehr im Mittelpunkt steht. Ich glaube aber, dass wir sicher mehr Leute auch erreichen, zum Beispiel auch gerade Nutzer bedeutet ja, wer hat einen Bibliotheksausweis, und da hat natürlich durchaus mal eine Familie nur einen Ausweis und fünf Kinder nutzen ihn. Also, so schlecht ist es nicht, aber es hängt natürlich mit ganz vielen Rahmenbedingungen zusammen und auch immer noch mit dem Image der Bibliothek. In dem Moment, wo wir Kunden über die Schwelle bekommen und sie bei uns drin sind, sind die in der Regel begeistert und wir werden sie sozusagen ihr Leben lang nicht wieder los, was uns total freut. Aber es ist nicht ganz einfach zu vermitteln, dass Bibliothek sich gewandelt hat und eben heute viel mehr ist als das, was viele sich noch vorstellen.

Burg: Ja, mit Bibliotheken verbinden viele offensichtlich immer noch alte, staubige Räume. Woran liegt es, warum haben Bibliotheken ein Image-Problem?

Marschall: Das liegt zum einen wirklich daran, dass es natürlich früher auch Bibliotheken gab, die nicht schön waren, wo man ruhig sein musste, wo man sich irgendwo in die Ecke gesetzt hat und lesen konnte und das war’s auch, und das hängt natürlich aber auch ganz stark damit zusammen, dass Bibliothek in unserer Öffentlichkeit wenig vorkommt. Also, wenn Sie sich abends den Fernseher anmachen und Sie schauen Kultursendungen oder auch Familienserien oder auch diese neuen Dokumentationsdokumentationen, da wird berichtet über den Alltag von Feuerwehrleuten und von Ordnungshütern, die Strafzettel ausstellen und alles Mögliche, aber die Bibliothek kommt in der medialen Öffentlichkeit selten vor. Und wenn, dann sind das entweder Schließungen, spektakuläre Meldung, sodass man dann denkt, oh Gott, da wird wieder eine zugemacht, oder es sind eben … Es ist nicht der Alltag. Und das liegt, da ist natürlich etwas, was wir sehr schade finden. Ich wünschte mir, man würde abends mal einfach einen Bericht über Alltag in der Bibliothek sehen, ohne dass wir zum Beispiel Woche der Bibliothek oder Tag des Buches haben. Und es ist einfach so, dass wir in den letzten Jahren auch als Berufsgruppe zwar damit angefangen haben zu vermitteln, dass wir uns ändern, aber es ist noch nicht so angekommen. Viele Leute denken wirklich bei Bibliothek noch an dieses Erlebnis ihrer Kindheit, an staubige, enge Räume, die alle nicht schön eingerichtet waren. Und wenn sie dann drin sind und sagen, Mensch, ihr habt ja heute viel mehr, dann ist es gut. Aber wir können es noch nicht so gut transportieren.

Burg: Wie sehr haben sich denn Bibliotheken ans digitale Zeitalter angepasst?

Marschall: Also, Bibliotheken haben sich sehr ans digitale Zeitalter angepasst, weil es natürlich gar keine Frage mehr ist. Wir diskutieren in öffentlichen Bibliotheken gar nicht mehr die Frage: Wollen wir uns dem digitalen Zeitalter öffnen, wollen wir mit E-Books arbeiten, wollen wir mobile Kataloganwendung für Smartphones haben? Sondern wir diskutieren nur noch, wie können wir es umsetzen, denn unsere Kunden wünschen es sich. Ich kann mit Kunden heute nicht mehr diskutieren, wenn die sagen, warum kann ich eigentlich von unterwegs nicht auf Ihren Katalog zugreifen, dann kann ich denen nicht sagen, Kataloge sind komplizierte Wesen, die gepflegt werden müssen, und die Technik lässt es nicht zu. Das interessiert den Kunden gar nicht, sondern der Kunde möchte seinen normalen Alltag, so wie er alles andere nutzt, auch die Bibliothek nutzen. Und öffentliche Bibliotheken sind da sehr weit, wir bieten Datenbanken an, E-Learning, Portale, man kann uns 24 Stunden am Tag, selbst wenn die Bibliothek geschlossen ist, über unsere Portale erreichen und wir öffnen uns dieser modernen Welt und nutzen sie und sind natürlich auch in unserer Profession Wegweiser durch diesen Informationsdschungel und helfen auch, einfach zu gucken, was sind die guten Quellen, was kann ich nutzen, wie kann ich mich optimal in dieser digitalen Welt bewegen? Und das ist eine ganz elementare Aufgabe.

Burg: Deutsche Bibliotheken haben ein Image-Problem, das ist das Thema hier im Deutschlandradio Kultur anlässlich des 101. Bibliothekartages in Hamburg. Meine Gesprächspartnerin ist Kirsten Marschall, Vorsitzende des Berufsverbandes Information Bibliothek. Frau Marschall, lassen Sie uns trotzdem über Geld reden: Über die Hälfte aller Bibliotheken hat in den letzten zwei Jahren eine Mittelkürzung erfahren. Was heißt denn das dann konkret für den Betrieb einer Bibliothek?

Marschall: Ja, das ist ganz schrecklich, weil, wir haben ja so wie jedes andere Unternehmen feste Kosten. Das heißt, wir haben Räume, die haben wir gemietet, wir müssen also Miete bezahlen. Und wir können, wenn die Kosten gekürzt werden, nicht unserem Vermieter sagen, hör mal, ich zahl Dir jetzt nur noch zwei Drittel der Miete. Wir haben Personal, immer das größte Kostenvolumen, und dann gibt es wenige Möglichkeiten, wo man sparen kann. Und leider müssen immer mehr öffentliche Bibliotheken bei ihrem Medienetat sparen. Das heißt, ich kann nicht mehr alle neu erscheinenden Medien anschaffen. Dann kommt der Kunde rein, im ersten Jahr merkt man es vielleicht noch nicht so, aber im zweiten Jahr fragt der Kunde nach Neuerscheinungen und kriegt die Antwort, die haben wir nicht, die können wir uns nicht anschaffen. Oder man sagt auch, die sind noch nicht im Bestand. Dann geht der Kunde raus und sagt, da ist ja nichts Attraktives, das erzählt er im Freundeskreis, die nächsten, die vielleicht sagen, Mensch, das wollten wir uns immer schon mal angucken, kommen gar nicht und dann beginnt ein Teufelskreis, aus dem man schlecht wieder rauskommt. Denn das ist unser höchstes Gut, die Aktualität. Wir haben immer wieder Kunden in öffentlichen Bibliotheken, die fragen vorsichtig an, haben Sie denn den neuen Roman von dem und dem schon. Und wenn ich dann selber an der Info sitze und recherchiere, dann sage ich, den haben wir schon seit zwei Jahren, den werfen wir bald wieder raus, wenn er nicht mehr schön aussieht. Und viele Kunden denken aber immer noch, es braucht ein Jahr lang, bis wir neue Medien anschaffen. Und wenn die dann nicht mehr da sind, dann werden wir unattraktiv und dann gehen die Kunden und kommen nicht wieder. Und dann sagt die Stadt, ja, eure Nutzerzahlen sinken, dann braucht ihr nicht mehr so viel Geld. Und so kommt man aus dieser Schraube einfach nicht wieder raus.

Burg: Also auch das wieder ein Image-Problem, dass man dann wieder plötzlich dem Ruf gerecht wird, den man ja loswerden will, verstaubt zu sein.

Marschall: Genau, dann ist man plötzlich verstaubt und veraltet und kann sich bemühen, so viel, man will, und kann sagen, aber wir machen im Jahr … Zum Beispiel die Bücherhallen Hamburg, ein großstädtisches System öffentlicher Bibliotheken, bietet im Jahr über 9.000 Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche an, die erreichen aber eben dann nur die, die uns sowieso schon als Kunden besuchen. Und das ist wirklich schwer, dann zu sagen, hallo, aber wir haben ganz viel anderes. Also, das ist eine Entwicklung, die wirklich sehr, sehr traurig ist und wo wir mit allen Mitteln versuchen, dagegen anzugehen. Aber es ist eben, wie gesagt, wir haben auch Fixkosten, wo man nicht mal eben sagen kann, so, dann, die Hälfte der Mitarbeiter arbeitet nur noch halb, das geht natürlich überhaupt nicht. Deswegen versuchen wir sehr viel zu technisieren, um dann die freigesetzte Kraft der Mitarbeiter in den Service, in den Standard zu setzen und das so wieder aufzufangen.

Burg: Laut Statistik gibt es aber auch Bibliotheken, denen es finanziell besser geht als vor zwei Jahren. Woran liegt das, dass es manchen Bibliotheken gut geht, anderen schlecht?

Marschall: Das sind natürlich auch immer Gründe, das sind in der Regel dann auch Bibliotheken, die in Regionen liegen, denen es gut geht. Es gibt auch Stadtkämmerer, die sagen, bei mir geht ein ganz großer Anteil des Etats in die Bibliothek, weil die erkannt haben, dass Bibliothek natürlich heute auch eine vernetzte Institution ist. Wenn eine Bibliothek gut mit der Schule zusammenarbeitet, dann ist in der Schule ein höheres Bildungsniveau. Kinder, die in ihrer Kindheit, in ihrer Frühkindheit eine gute Erfahrung mit Bibliothek haben, gehen in ihrem Studium oder in ihrer Ausbildung selbstverständlich in eine Bibliothek, um sich dort auch Medien zu holen, Wissen zu holen. Die machen bessere Abschlüsse und das ist natürlich alles, das eine bedingt das andere. Und dann ist es so, dass dann eben auch in vielen Kommunen wirklich gesagt wird, okay, wir machen einen Etat und davon gehen wir nicht runter.

Burg: Man muss vielleicht auch erklären, dass Bibliotheken ja Tatsache von den Kommunen finanziert werden als freiwillige Leistung, nicht als Pflichtleistung. Insofern stehen die dann auch häufig ganz schnell zur Disposition, oder?

Marschall: Ja, natürlich. Das, wir erleben es gerade in Berlin, wo die Bibliotheken in die Stadtbezirke abgegeben wurden, und da steht dann der Stadtteilbürgermeister vor der Entscheidung: Wenn das Geld weniger wird, was kürze ich, wo kürze ich? Im Jugendheim, im Kita-Bereich, in den Bibliotheken? Und leider ist da dann ganz oft, dass immer noch die Bibliothek als Erstes in Erinnerung kommt und gesagt wird, okay, dann versuchen wir mal, ob wir vielleicht dort kürzen können. Und dann beginnt es wieder von vorne, dann werden Öffnungszeiten reduziert, weil man sagt, Personalstellen, die frei werden, werden nicht wieder neu besetzt, und dann haben wir wieder genau das, was wir am Anfang besprochen haben: Wir werden unattraktiv und die Kunden sagen, immer wenn ich Zeit habe, ist da zu. Und schon haben wir wieder Kunden, die wir verloren haben.

Burg: Es gibt aber auch eine Initiative für ein Bibliotheksgesetz, das besagt, dass öffentliche Bibliotheken zur Pflichtaufgabe werden und keine freiwillige Leistung sind. In Thüringen gibt es das schon seit 2008, in Hessen seit 2010, in andern Ländern wird verhandelt. Ist das denn ein Schritt in die richtige Richtung?

Marschall: Natürlich, das ist ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Schleswig-Holstein verhandelt auch sehr intensiv gerade, denn das bedeutet, dass die Bibliothek nicht jedes Mal wieder zur kompletten Disposition steht. Und es macht natürlich auch die Wertigkeit von Bibliotheksarbeit deutlich, wenn man sagt, wir entscheiden uns, per Gesetz zu regeln, wie viel Anteil unseres Etats in die Bibliothek geht. Das ist eine gute Initiative, ist aber ein langer, schwieriger Weg, dort allein schon Gesprächspartner zu finden. Und wir unterstützen als BIB dieses Initiative sehr und freuen uns auch, wenn unsere Landesgruppen – der Berufsverband arbeitet mit Landesgruppen –, und wenn die dort auf die Politiker zugehen und sagen, können wir das Thema mal ansprechen. Also, das ist ein wichtiges Thema, was uns in den nächsten Jahren sicher noch mehr auch bewegen wird.

Burg: Noch bis morgen findet in Hamburg der 101. Bibliothekartag statt. Über die Lage der Bibliotheken in Deutschland habe ich mit Kirsten Marschall gesprochen, Vorsitzende des Berufsverbands Information Bibliothek. Vielen Dank fürs Gespräch, Frau Marschall!

Marschall: Ich danke auch und wünsche einen schönen Tag!

Burg: Danke, Ihnen auch!

Marschall: Tschüss!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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