Wege aus der Armutsfalle

Rezensiert von Ralf Altenhof · 08.06.2008
Eine Milliarde Menschen sind nach Ansicht von Jeffrey D. Sachs weltweit in der Armutsfalle gefangen. In seinem Buch "Wohlstand für alle" plädiert der Entwicklungsökonom für den intensiven Einsatz neuer Technologien und ein verstärktes Wirtschaftswachstum. Das schade auch der Artenvielfalt keineswegs, ist sich Sachs sicher.
Jeffrey D. Sachs stand Anfang des Jahrzehnts dem Millenniumsprojekt der Vereinten Nationen vor, das eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft propagiert. Heute berät er, der inzwischen das Earth Institute an der Columbia University in New York leitet, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon über die Millenniums-Entwicklungsziele, wozu die Beseitigung der extremen Armut und der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft gehören.

In seinem neuen Buch widmet er sich der "globalen Wirtschaftspolitik in Zeiten der ökologischen und sozialen Krise". Darin sieht der Autor als die größten Gefahren der Menschheit: den Klimawandel, das Artensterben, ein zu starker Bevölkerungsanstieg und die extreme Armut, unter der ein Sechstel der Weltbevölkerung leidet. Um diese Probleme zu lösen, bedarf es Sachs zufolge einer neuen internationalen Kooperation.

Im Gegensatz zu manchen Umweltschützern, die eine Senkung des Konsums und des Einkommens der reichen Länder fordern, setzt Sachs auf die Nachhaltigkeit neuer Technologien. Auf diese Weise könnten Einkommensanstieg und Umweltschutz Hand in Hand gehen. Die weit verbreitete, einseitige Kritik am Wirtschaftswachstum teilt der Verfasser nicht:

"Insgesamt kann man sagen, dass die Weltwirtschaft bis 2050 deutlich wachsen wird, auch wenn wir das genaue Volumen nicht prognostizieren können. Die Menschheit kann vom Wirtschaftswachstum enorm profitieren, allerdings müssen wir die 'Nebenwirkungen’ wie beispielsweise Umweltschäden in den Griff bekommen".


Den Artenreichtum zu erhalten, erachtet Sachs als lebensnotwendig. Im Zuge des Klimawandels könnten bis zur Hälfte aller Spezies aussterben. Zu den Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt rechnet der Autor unter anderem die Ausweisung von geschützten Lebensräumen, etwa Nationalparks, die Einschränkung der Entwaldung und das Verbot der Schleppnetzfischerei. Weshalb Sachs auch auf eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität setzt, begründet er folgendermaßen:

"Eine intensive Landwirtschaft wird häufig als größter Feind der biologischen Vielfalt betrachtet, und schlechte landwirtschaftliche Verfahren können in der Tat die Umwelt zerstören. Grundsätzlich ist eine hochproduktive Landwirtschaft jedoch unverzichtbar für die Bewahrung der Biodiversität, da weniger Anbaufläche zur Versorgung der Bevölkerung benötigt wird, wenn der Ertrag pro Hektar größer ist."

Das Bevölkerungswachstum ist besorgniserregend, weil die Ressourcen der Erde endlich sind und der rasche Bevölkerungsanstieg in den ärmsten Ländern deren ökonomische Entwicklung behindert. Deshalb plädiert Sachs dafür, die Weltbevölkerung, die derzeit 6,6 Milliarden Menschen umfasst, bis zur Mitte des Jahrhunderts vor allem durch freiwillige Geburtenkontrolle bei acht Milliarden Menschen zu stabilisieren.

Laut Sachs klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Der Entwicklungsökonom sieht eine Milliarde Menschen in der Armutsfalle gefangen - ohne Chance, am Wirtschaftswachstum teilzuhaben, wenn alles beim Alten bleibt. Einen Ausweg aus dieser Zwickmühle bietet die technologische Unterstützung der Ärmsten der Armen.

"Die extreme Armut verhindert den Zugang zu lebensnotwendigen, ja sogar lebensrettenden Technologien, und ohne diese Technologien sind sie unproduktiv und damit zu weiterer Armut verurteilt. Dieser Teufelskreis lässt sich durchbrechen, indem man den armen Ländern öffentliche Gelder für die Technologien zur Verfügung stellt, die sie sich selbst nicht leisten können. Dank der Technik steigt ihre Produktivität, dadurch wächst ihr Einkommen, sie können Geld sparen und investieren - der Teufelskreis ist durchbrochen."

Das Urteil über Sachs' Darstellung fällt dennoch ambivalent aus. Der Autor fasst einerseits viele Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammen, sodass der Leser einen guten Überblick erhält. Andererseits bedeutet Sachs' Vorgehen, dass längst Bekanntes - etwa die Folgen des Klimawandels: vom Anstieg des Meeresspiegels bis zu vermehrten Naturkatastrophen - breitgetreten wird.

Zu Recht befürwortet Sachs die Entwicklungshilfe. Zum richtigen Zeitpunkt und im angemessenen Umfang eingesetzt, stellt sie ein wichtiges Instrument dar. Sie unterliegt aber, was nicht übersehen werden darf, dem abnehmenden Ertragszuwachs. Das heißt, eine weitere Steigerung bewirkt immer weniger. Deshalb ist der "Mythos der Selbsthilfe", den Sachs beschwört, wenig überzeugend. Um den Entwicklungsfallen zu entkommen, müssen sich die Ärmsten der Armen in der Tat zunächst einmal selbst helfen. Erst dann - in einem zweiten Schritt - bedürfen sie unserer Unterstützung.

Dem Verfasser ist auch in seinem Plädoyer für eine verbesserte globale Zusammenarbeit beizupflichten. Eine Lösung der Umweltprobleme oder einen Ausweg aus der Armutsfalle kann es nur auf der Basis einer weltweiten Kooperation geben. Ob allerdings die Idee konkurrierender Nationalstaaten der Vergangenheit angehört, wie Sachs vermutet, muss man bezweifeln. Selbst in Europa, wo die Integration am weitesten fortgeschritten ist, gibt es keinerlei Anzeichen für ein Ende der Nationalstaaten.

Sachs ist ebenso weit entfernt von marktradikalen Verfechtern, die davon überzeugt sind, der Markt könne alle Probleme lösen, wie von antikapitalistischen Kritikern, die in der kapitalistischen Produktionsweise den Kern aller Übel sehen. Er bezieht eine Position der Mitte. Vielleicht ist das ja der Ort, von wo aus die Probleme am ehesten einer Lösung zugeführt werden können. An den Kosten dürfte das Vorhaben jedenfalls nicht scheitern.

"Der Übergang zu nachhaltigen Energien wird wahrscheinlich weniger als 1 Prozent des Einkommens der reichen Welt kosten und deutlich weniger in den Ländern mit geringerem Einkommen. Der Schutz der Biodiversität erfordert vielleicht 35 Milliarden Dollar oder 0,1 Prozent des Einkommens der reichen Länder. Die Forschung für eine nachhaltige Entwicklung in den Bereichen Energie, Gesundheit, Landwirtschaft, Klima und Wasser lässt sich mit 70 Milliarden Dollar im Jahr finanzieren, also etwa 0,2 Prozent des Bruttosozialprodukts der Industriestaaten.

Die extreme Armut könnte mit 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der reichen Länder beseitigt werden, ein Betrag, der lange versprochen, aber nie bereitgestellt wurde. Die Beträge (...) wirken im Verhältnis zu unserem Einkommen sehr bescheiden, vor allem, wenn man sie mit dem Gewinn für das Allgemeinwohl vergleicht."


Jeffrey D. Sachs: Wohlstand für viele.
Globale Wirtschaftspolitik in Zeiten der ökologischen und sozialen Krise

Aus dem Amerikanischen Englisch von Helmut Dierlamm, Stephan Gebauer u. Heike Schlatterer
Siedler Verlag, München 2008