Wassili Grossman: "Stalingrad"

Widersprüchlich, pathetisch, mitreißend

06:34 Minuten
Cover des Buchs "Stalingrad" von Wassili Grossman.
© Ullstein

Wassili Grossman

Übersetzt von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe

StalingradClaassen, Berlin 2021

1280 Seiten

35,00 Euro

Von Martin Sander · 16.12.2021
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Wassili Grossmans "Stalingrad" gehört ungeachtet mancher Konformität zu den bedeutendsten Werken über den deutsch-sowjetischen Krieg. Es ist eine in ihrer epischen Breite beeindruckende Lektüre. Nun liegt erstmals eine deutsche Ausgabe vor.
Dieser Roman erzählt auf 1200 Seiten von der Schlacht, in der 1942/43 Hitlers Armee bezwungen und die Wende im Zweiten Weltkrieg herbeigeführt wurde. Wassili Grossmans „Stalingrad“ ist ein vielschichtiges, in seiner Erzählhaltung und seinen politischen Botschaften widersprüchliches Werk der sowjetrussischen Literatur.
Bei manchen Hauptfiguren, vor allem dem Politkommissar Krymow, schlägt einem das ganze Pathos der Sowjetideologie entgegen: der freie revolutionäre Mensch, Heimat, Schicksal und Humanismus. Hier und dort wird die Größe Stalins gerühmt.

Alltägliche Konflikte

Aber Grossman erzählt auch vom schwierigen Alltag und den widerstreitenden Empfindungen der weit verzweigten, den Roman beherrschenden Familie Schaposchnikow. Er zeichnet den Krieg im Erleben von Wissenschaftlern, Fabrikleitern, Künstlern, Arbeitern und Militärs nach. Der Autor vertieft sich in ihre Konflikte.
Auch die Deutschen kommen vor, gleich zu Beginn Hitler bei der Kriegsplanung mit Mussolini in Salzburg, dann die NS-hörigen Militärführer und Soldaten, aber auch schwankende Charaktere, deren Seelenleben Grossman ausleuchtet wie das vieler sowjetischer Protagonisten. 

Erster Band eines Zweiteilers

Die eigentliche Handlung von „Stalingrad“ setzt im Sommer 1942 ein, als die Bedrohung durch die herannahenden Deutschen in der Stadt unmittelbar spürbar wird. In Rückblenden wird das Leben in der Sowjetunion seit dem Überfall Hitlers am 22. Juni 1941 gespiegelt.
Der Roman endet im Spätherbst 1942, als die Rote Armee von der Verteidigung der Stadt zum Angriff übergeht, zur Einkesselung der Deutschen. Er endet ein wenig abrupt und das nicht ohne Grund. Denn „Stalingrad“ ist der erste Band eines Zweiteilers.

Grossman starb als Dissident

Den zweiten Teil, „Leben und Schicksal“, konnte der 1905 im ukrainischen Berditschew zur Welt gekommene Grossman zu Lebzeiten nicht veröffentlichen, er hatte sich vom sowjettreuen Autor zum Systemkritiker gewandelt. Er starb 1964 als Dissident in Moskau.
Fragmente von „Leben und Schicksal“ erschienen erstmals 1980 in der Schweiz, während „Stalingrad“ in der Sowjetunion in etlichen Buchausgaben und Zeitschriften verfügbar war. Die nun vorliegende deutsche Ausgabe greift auf diverse Fassungen des Werks zurück, mit dem Anspruch, die jeweils spannendsten und authentisch erscheinenden Fragmente zu einem neuen Ganzen zu fügen.

Kriegspathos und Gesellschaftskritik

Das ist gelungen. Im überaus reichhaltigen Personalbestand dieses Romans zieht vor allem das Leben der Hauptfiguren, der Schaposchnikows, ihrer Angehörigen und Freunde in den Bann.
Zugleich vermag das Nebeneinander von sowjetischem Kriegspathos und Gesellschaftskritik zu fesseln. Dass hier von einer Zeit der deutschen Übermacht erzählt wird, in der sich die darauffolgende Niederlage nur schwerlich abzeichnet, sorgt für zusätzliche Spannung.
„Stalingrad“ gehört ungeachtet mancher Konformität zu den bedeutendsten Werken über den deutsch-sowjetischen Krieg. Es ist eine in aller epischen Breite mitreißende Lektüre.
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