Wenn Kinder Kinder fertigmachen

Was tun gegen Mobbing?

Ein Kind sitzt auf dem hölzernen Fußboden, die Beine angewinkelt, das Gesicht in den Händen vergraben. Neben ihm steht der Schulranzen. Er wirft einen langen Schatten auf den Boden.
Wenn ein Kind plötzlich nicht mehr zur Schule möchte, könnte das ein Anzeichen für Mobbing sein. Aber auch in der eigenen Familie kann Mobbing vorkommen. © IMAGO / photothek / Thomas Trutschel
Von Laura Lucas · 08.08.2023
Ist ein Kind regelmäßig Mobbing ausgesetzt, kann das schwere Folgen für die Psyche haben. Manche Menschen leiden Jahre später noch an den Erfahrungen aus der Kindheit. Wie kann Mobbing verhindert werden? Und was, wenn es bereits zu spät ist?
60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen erfahren nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung in der Schule Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt. Ist ein Kind regelmäßig Mobbing ausgesetzt, kann das schwerwiegende Folgen für die Psyche haben. Angsterkrankungen, Depressionen, psychosomatische Störungen oder Essstörungen sind nur einige Beispiele. Manche Menschen leiden auch Jahre später noch an den Erfahrungen aus der Kindheit. Betroffene glauben häufig, selbst Schuld zu tragen für das, was sie erleben.
Plötzliche Verhaltensänderungen können ein Zeichen dafür sein, dass ein Kind feindseligem Verhalten ausgesetzt ist. Doch wie entsteht Mobbing? Was brauchen betroffene Kinder? Und wie kann Gewalt unter Kindern verhindert werden?

Was ist Mobbing?

Mobbing ist einer jener Begriffe, die nicht in wenigen Sätzen zu definieren sind. Das liegt zunächst daran, dass es vielfältige Formen von Mobbing gibt - von Beschimpfungen über Ausgrenzung oder Demütigung bis zu körperlichen Angriffen.
Ein gemobbtes Kind wird beispielsweise auf dem Schulhof nicht ins Spiel eingebunden und verbringt die Pausen alleine. Ein anderes wird im Sportunterricht nicht in die Mannschaft gewählt. Oder ihm werden Sachen weggenommen, es wird "Loser", "Brillenschlange" oder Schlimmeres genannt. Andere Kinder verdrehen die Augen, sobald es sich nur meldet. Vielleicht wird das Kind wie Luft behandelt. Vielleicht aber auch geschubst, geschlagen und getreten. Vielleicht bekommt ein Kind aber auch beleidigende Nachrichten aufs Smartphone. Oder es werden verunglimpfende Bilder herumgeschickt.
Mobbing ist aber auch deswegen schwierig zu definieren, weil es ein "gefühlter Prozess" ist, wie manche Fachleute sagen. "Nicht alle Kinder, die gemobbt werden, erleben das als Mobbing", sagt Daniela Allalouf, Selbstbehauptungstrainerin aus Berlin. Sie arbeitet mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Lehrkräften, um Mobbing vorzubeugen und zu beenden. Entscheidend sei, ob ein Kind leidet, sagt Allalouf.
Häufig liest man in Mobbing-Definitionen Formulierungen wie "über einen längeren Zeitraum", "regelmäßig" oder "wiederholt". Doch während das eine Kind bereits nach kurzer Zeit hohen Leidensdruck verspüren kann, trägt ein anderes auch über einen längeren Zeitraum keinen großen Schaden davon. Der Coach und Autor Daniel Duddek rät daher: "Bleiben Sie im Dialog mit Ihren Kindern und handeln Sie, wenn es nötig ist, und nicht erst dann, wenn irgendwelche Definitionen oder Standards greifen!"

Buchempfehlung:
"Sei stark wie ein Löwe - Wie Eltern ihre Kinder gegen Mobbing wappnen" von Daniel Duddek, erschienen im Rowohlt Taschenbuchverlag. Duddek ist ausgebildeter Erzieher und Coach. Er hat das Anti-Mobbing-Programm "Stark auch ohne Muckis" entwickelt.

Ein festes Kriterium für Mobbing gibt es aber: die Gruppendynamik. "Mobbing funktioniert wirklich nur dann, zum Beispiel in einer Klasse, wenn alle anderen, die nicht daran beteiligt sind, dem betroffenen Kind nicht helfen und nichts dagegen unternehmen", sagt Daniela Allalouf. Neben den Mobbern selbst, gebe es noch diejenigen, die wegschauen, diejenigen, die zuschauen und diejenigen, die mitmachen. Sie alle gemeinsam machten Mobbing überhaupt erst möglich, so Allalouf.

Wie entsteht Mobbing?

"Kinder wachsen mit einer Vielzahl von Respektlosigkeiten auf. Es ist logisch, dass sie sich untereinander auch respektlos verhalten." So schreibt es Daniel Duddek in seinem Buch. Oft würden Erwachsene Respekt von Kindern einfordern, seien aber umgekehrt nicht bereit, Kindern Respekt entgegenzubringen. Anders formuliert: Schädigendes Verhalten durch Erwachsene wird oft nicht als solches erkannt, sondern als Erziehung betrachtet. Dasselbe Verhalten unter Kindern aber wird als Mobbing bezeichnet.
"Kinder, die Mobbing erleben, suchen die Schuld häufig bei sich selbst", sagt die Selbstbehauptungstrainerin Daniela Allalouf. Dem sei aber überhaupt nicht so. Es könne jedem Kind passieren, dass es gemobbt wird. Dafür reiche ein beliebiges Merkmal aus, das auffällt. "Das findet man, wenn man möchte, bei jedem Kind." Wenn ein Kind dann noch etwas schüchtern oder stiller sei, sich nicht recht selbst behaupten könne, dann werde es eher ausgewählt, erklärt Daniela Allalouf.
Und wie sieht es andersherum aus? Kann auch jedes Kind zum Mobber werden? Trainerin Daniela Allalouf sagt: Ja. "Diese Struktur hat der Mensch in sich: dass er Defizite oder schlechte Gefühle abreagiert. Und es gibt ja auch den Kindern ein Machtgefühl, ein Gefühl von Stärke, jemand anderen herabzusetzen. Das ist auch eine Art, wie man sich künstlich größer und stark fühlen kann."
Hinter dem mobbenden Verhalten stecke meist der Wunsch nach Beachtung, so Daniela Allalouf. "Sind alle kindlichen Bedürfnisse nach Liebe, Aufmerksamkeit oder Bedeutung erfüllt; gibt es ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es mobbt. Aber eine Garantie ist das natürlich nicht."

Was eint uns als Menschen? Wir wünschen uns Zugehörigkeit und Aufmerksamkeit. Leider haben manche Kinder nicht gelernt, wie man sich diese auf positive Weise verschafft.

Daniel Duddek

Außerdem gibt Daniela Allalouf zu bedenken, dass ein Kind, das in dem einen Kontext gemobbt wird, in einem anderen Kontext auch selbst mobben könnte. Die Trennlinie zwischen Täter und Opfer ist dementsprechend nicht immer scharf. Fest steht: Wenn Kinder Kinder fertigmachen, brauchen beide Seiten Hilfe. Auch, wenn der Gedanke, einem mobbenden Kind ebenfalls Empathie entgegenzubringen, zunächst befremdlich sein mag.

Was tun, wenn mein Kind gemobbt wird?

Kindern sollte vermittelt werden, dass sie Erwachsene um Hilfe bitten, wenn sie gemobbt werden, sagt Daniela Allalouf. Entscheidend ist dabei, dass insbesondere Eltern ihren Kindern ihre Gefühle nicht absprechen und sie ernst nehmen. Das gilt allgemein und nicht erst, wenn ein Kind gemobbt wird. In seinem Buch "Sei stark wie ein Löwe" beschreibt Daniel Duddek, wie Erwachsene kindliche Gefühle häufig unbewusst bagatellisieren. Mache ein Kind häufig die Erfahrung, dass es nicht ernst genommen wird, so sinke die Bereitschaft, sich gegenüber Erwachsenen zu öffnen.

Hilfreiche Sätze nach Daniela Allalouf

  • Das hat nichts mit dir zu tun.
  • Du bist gut, so wie du bist.
  • Es ist nicht dein Fehler.

Fühlt sich ein Kind zu Hause gesehen, gehalten und getröstet, so kann es dort auftanken und seine Widerstandsfähigkeit stärken. In einem Anti-Mobbing-Training versuchen Coaches wie Allalouf oder Duddek den Kindern, die Mobbing erleben, zu vermitteln: "Der Mobber hat das Problem. Du bist nur die Leinwand." Darin liegt ein ganz entscheidender Schlüssel: Natürlich ist Mobbing nicht zu entschuldigen. Natürlich trifft das gemobbte Kind keinerlei Schuld. Und dennoch kann es mit seinem eigenen Verhalten dazu beitragen, dass das Mobbing aufhört.
"Gehe ich auf das Mobbing ein, gebe ich dem mobbenden Kind genau das, was es will: Aufmerksamkeit", erklärt Daniela Allalouf. Ein Kind könne jedoch üben, anders auf das Mobbing zu reagieren. Es könne sich selbst als den wichtigsten Menschen im eigenen Leben lieben und schätzen lernen.

Die "Kackhaufen-Übung"
In ihren Trainings vermittelt Daniela Allalouf Kindern, dass sie nicht alles annehmen müssen, was man ihnen entgegenbringt. Das gilt für Gegenstände wie für verletzende Worte. Veranschaulicht wird das durch einen Gummi-Kackhaufen. Niemand würde bereitwillig einen Haufen Kacke von jemand anders annehmen.

Ziel sei es, die Kinder zu stärken, damit sie nicht krank werden und an dem Mobbing kaputtgehen. Beispielsweise, indem sie lernen, ihre Energie und Aufmerksamkeit auf etwas Anderes, Schönes zu lenken. Oder indem sie lernen, mit ihrer Körpersprache Angstfreiheit und Stärke zu signalisieren. Oder auch, indem sie lernen, ihre Stimme gewaltfrei einzusetzen. Oft raten Eltern ihren Kindern mit den besten Absichten, sich zur Wehr zu setzen. Wird jedoch Mobbing mit Mobbing bekämpft, kann das eine Gewaltspirale in Gang setzen.

Was tun, wenn mein Kind mobbt?

Erfahren Lehrkräfte oder auch Eltern, dass ein Kind ein anderes mobbt, reagieren sie häufig mit Ausgrenzung. Dann wird etwa der Ausflug gestrichen, als Strafe für das Fehlverhalten. Das Täter-Kind aber fühlt sich dadurch erneut in seinen Bedürfnissen nach Zugehörigkeit, Gesehenwerden oder Sicherheit verletzt. Und niemandem ist wirklich geholfen.

Mein Kind mobbt. Und jetzt?

  • Zuhören
  • Das "Warum" verstehen
  • Ernst nehmen
  • Verständnis für das Opfer erzeugen
  • Alternativen aufzeigen
  • Bedürfnisse stillen

Was aber hilft, ist Reden. Im Anti-Mobbing-Programm nach Daniel Duddek gibt es eine Prämisse: Hinter dem Mobbing steckt ein Bedürfnis. Und: Kinder wählen die beste Option, die sie kennen. Auch wenn das Mobbing ist. Dementsprechend rät auch Daniela Allalouf mobbende Kinder ernstzunehmen in ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Beachtung oder Macht und Bedeutung. Ihnen zuzuhören, um zu verstehen, warum sie sich so schädigend verhalten.

Empathie bedeutet nicht Zustimmung. Ich muss das Verhalten meines Gegenübers nicht gutheißen, um seine Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen. Empathie heißt vielmehr, die Sichtweise des anderen nachzuvollziehen, auch wenn ich sie selbst falsch finde.

Daniel Duddek in "Sei stark wie ein Löwe"

Genauso wichtig ist aber, dass das Kind die Folgen seines Handelns begreift und versteht, welches Leid es in seinem Gegenüber auslöst. Hat es das verstanden, ist ein wichtiger Schritt geschafft. Das Mobbing hört damit aber noch nicht unbedingt auf. Was das Kind noch braucht, sind Alternativen.
"Es ist wichtig, dass das mobbende Kind lernt, was es für Stärken hat. Wo es seine Energie besser hinstecken kann. Auf welche positiven Arten es Aufmerksamkeit bekommen kann", sagt Daniela Allalouf. Sie empfiehlt, das Kind bei der Suche nach Strategien einzubeziehen. "Da kommen oft tolle Ideen von den Kindern selber."

Übung: Auf Hass mit Liebe reagieren
Eine der Lieblingsübungen von Daniela Allalouf erzeugt laut der Trainerin einen Überraschungseffekt und holt Kinder dort ab, wo ihr Bedürfnis liegt, geliebt zu werden. Beispiel: "Was? Du findest mich hässlich? Also, ich finde eigentlich, dass du ganz cool aussiehst." Die unerwartete Reaktion könne dem mobbenden Kind den Wind aus den Segeln nehmen. Eine Geling-Garantie gebe es aber auch bei dieser Übung nicht.

Und dann sind da ja noch die Kinder, die weggucken, zugucken oder gar mitmachen. Auch sie handeln aus einem Bedürfnis heraus: Sicherheit oder Zugehörigkeit, zum Beispiel. Das Ziel eines Anti-Mobbing-Coachings sei daher auch immer, die Gemeinschaft zu stärken.

Wenn wir all die Kinder, die weggucken oder zuschauen, dazu bringen können, zu verstehen, dass sie gemeinsam viel stärker sind als die wenigen, die Böses im Schilde führen, und dass sie dafür gar nicht so viel Mut brauchen, dann würden wir sehr viel gewinnen.

Daniela Allalouf

Auch hierfür gebe es eine Übung, erklärt Allalouf. Sie heißt "der Dahintersteher". "Es reicht, wenn ich mich nah hinter das gemobbte Kind stelle, dem mobbenden Kind in die Augen gucke und zeige: Ich kriege das hier mit. Wir alle kriegen das mit. Wir finden das nicht okay und wir stehen hinter dieser Person."

Wer hilft, wenn nichts mehr hilft?

Alle Prävention hilft nicht, wenn es bereits zu spät ist. Das gilt wohl insbesondere für Cybermobbing. Das Angebot "Klicksafe" bietet Tipps und Erste Hilfe. Bei strafbaren Inhalten im Netz aber auch bei körperlicher Gewalt, können Anwälte und Anwältinnen beraten.
Das Hilfetelefon für Kinder und Jugendliche "Nummer gegen Kummer" ist unter der 116 111 anonym und kostenlos zu erreichen. Es gibt auch eine Onlineberatung. Das Elterntelefon hat die Nummer: 0800 111 0 550.
Auch die Telefonseelsorge ist eine erste Anlaufstelle.
Das Projekt "Nach der Tat" der Werner Bonhoff Stiftung bietet den sogenannten "Online-Hilfe-Brief" an. Dieser kann anonym ausgefüllt werden. Die Stiftung nimmt daraufhin Kontakt mit der Schule des betroffenen Kindes auf. Lehrer und Schulen haben eine Fürsorgepflicht und müssen bei Mobbing aktiv werden.

Buchempfehlungen: drei Kinderbücher über Mobbing

  • "Wolf" von Saša Stanišić, mit Bildern von Regina Kehn, erschienen bei Carlsen
  • "Unsichtbar" von Eloy Moreno, erschienen bei S. Fischer
  • "Frerk, du Zwerg" von Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring, erschienen bei Hanser

Mehr zum Thema