Was leistet politische Literatur?

Moderation: Michael Gerwarth |
Was kann in Zeiten, in denen die Bestellerliste wochenlang von Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" angeführt wird, politische Literatur leisten? Über diese Frage diskutieren in der Lesart Spezial der Historiker Michael Stürmer und der Publizist Peter Merseburger.
Michael Gerwarth: Einen schönen guten Tag und herzlich willkommen. Heute geht es um politische Literatur, die ganz besonders im Zentrum der Betrachtungen dieses Jahres stand. Dazu habe ich zwei kompetente Gesprächspartner eingeladen. Bei mir im Studio sind der Publizist Peter Merseburger, gerade mit einer beeindruckenden Augstein-Biografie hervorgetreten, und der Historiker und Buchautor Michael Stürmer.
Herr Merseburger, was sollte aus Ihrer Sicht ein gutes politisches Buch leisten?

Peter Merseburger: Ein gutes politisches Buch soll natürlich – wenn es aktuell politisch ist – den Hintergrund zeigen, warum beispielsweise Frau Merkel dies oder jenes nach vorne stellt und gewisse Dinge nach hinten, also praktisch ein psychologisches Profil eines Handelnden zeigen. Das wäre meine Anforderung an politische Bücher, die es ja jetzt zuhauf über Akteure gibt, die noch leben.

Ich habe große Skepsis gegenüber Biografien zu lebenden Personen, weil ich glaube, da wird zu viel Rücksicht genommen oder der Autor muss zu viel Rücksicht nehmen. Deshalb erfahren Sie immer nur die halbe Wahrheit. Aber wenn Sie zu lebenden Personen heute ein Buch vorlegen, dann möchte ich ziemlich genau und analytisch wissen, warum, was diese Person macht, was der Hintergrund ist.

Gerwarth: Aber was wäre der Unterschied zwischen einer Tageszeitung, die auch politische Aufklärung im besten Sinne leisten sollte, und einem guten politischen Buch?

Merseburger: Ein gutes politisches Buch würde doch etwas ausführlicher, gründlicher und analytischer vorgehen. In der normalen Tageszeitung, in der Süddeutschen oder der WELT haben Sie vielleicht auf der Seite drei oder an anderer Stelle ein großes Porträt, aber das gesamte, vollkommenere Bild haben Sie natürlich immer im Buch.

Gerwarth: Herr Stürmer, mir scheint, mit Blick auf die Bestsellerlisten, die Wirklichkeit sieht absolut anders aus. Können Sie sich noch an eine Zeit erinnern als Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" nicht auf Platz 1 der Sachbücher war?

Michael Stürmer: Das ist eine gute Frage. Natürlich kann ich mich daran erinnern. Ich habe vor Kurzem über genau diese Bestsellerlisten etwas geschrieben und habe mir die Frage gestellt: Vor 20 Jahren und vor 40 Jahren, was haben die Bestsellerlisten uns nicht nur über die Vergangenheit gesagt, sondern über die Zukunft? Vor 40 Jahren braute sich ja das, was man 68er nennt, zusammen. Vor 20 Jahren braute sich das Ende der Sowjetunion und der DDR zusammen. Was haben die Bestsellerlisten, das heißt, Verlage und Autoren auf der einen Seite, Käufer und Leser auf der anderen Seite, eigentlich geahnt? Man kann sagen – nichts.

Merseburger: Ich darf noch ergänzen, was die Ökologie angeht. Wir denken gern an den Bericht des Club of Rome zurück. Da ging es aber nicht um atmosphärische Verschmutzung und Klimaerwärmung, sondern da ging es um das angebliche Aussterben der Ressourcen. Inzwischen wissen wir – die Saudis haben das gerade vorgerechnet –, dass bisher nur ein Zehntel oder ein Achtel des gesamten (Ölverbrauchs – wohl Ölaufkommen gemeint?) in der bisher vorhandenen Zeit, in der wir Öl verbrauchen, verbraucht worden ist.

Stürmer: Herr Merseburger, ich würde für den Club of Rome doch in Anspruch nehmen, die haben schon das Richtige geahnt. Sie haben es nicht punktgenau beschrieben, aber sie haben vor 1973, als der Ölpreis explodierte, nach dem Jom-Kippur-Krieg, sie uns alle doch dafür sensibilisiert, die Ressourcen sind endlich. Das ist wichtig. Raumschiff Erde.

Merseburger: Das gebe ich zu. Aber sie haben wahnsinnig übertrieben.

Stürmer: Ja, das gehört zum Journalismus dazu, das gehört überhaupt zur Politik dazu: Erst vereinfachen und dann übertreiben.

Gerwarth: Zum Journalismus gehört auch dazu, dass wir jetzt zielgerichtet wieder auf Bücher zu sprechen kommen. Herr Merseburger, Sie haben ja schon die Erinnerungen bekannter Politiker erwähnt. In diesem Jahr waren das etwa die Bücher von Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Helmut Kohl, Klaus Wowereit etc. pp. Laden solche Bücher nicht gerade zum lebhaften Widerspruch ein, weil manch ein Zeitzeuge ja sagt, also, ich habe diese oder jene Episode oder Epoche ganz anders erlebt?

Merseburger: Also, ich habe mit großem Vergnügen eine Kritik der Memoiren von Helmut Kohl gelesen und habe dabei festgestellt, dass der Kritiker oder die Kritikerin eigentlich erwartet, dass Kohl sich als Historiker betätigt. Aber er schildert eine subjektive Sicht dessen, was er gemacht hat. Ich glaube, das ist für künftige Historie gut. Geschichtsschreiber können auf dieses als Quelle zurückgreifen. Aber von einem Politiker, der vieles bewegt hat, zu erwarten, dass er nun sich wie ein Historiker kritisch gegenüber dem Eigenen, was er gemacht hat, verhält, das ist meiner Ansicht nach zu viel verlangt.

Gerwarth: Aber Herr Stürmer, wie ist das dann bei Joschka Fischer? Sein Buch über die rot-grünen Jahre, seine Erinnerungen, was haben die für Erkenntnisse vermittelt, die unbedingt zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden mussten?

Stürmer: Es sind ja nur die ersten zwei rot-grünen Jahre, die er beschrieben hat, ich nehme an, wir kriegen noch eine mehrbändige Nachlieferung. Was hat es uns vermittelt, was wir vorher nicht wussten? Nicht sehr viel, aber einiges doch. Zum Beispiel, dass der Kosovo-Krieg des Frühjahrs 1999 für Rot-Grün schon eine erhebliche Schwierigkeit darbot, wie überhaupt, das war der erste Krieg, den die NATO als NATO führte, ohne ausdrückliche UN-Ermächtigung.

Was er da sagt über die Hintergründe, über die Ängste auch, die in der Bundesregierung da waren, finde ich hochinteressant. Anderes darin hätte erst mal dringend einer vernünftigen Redaktion bedurft. Es ist weitschweifig, es ist geschwätzig, es ist manchmal aber auch von einer Banalität, die nicht mehr zu überbieten ist, wenn er also die ersten Besuche bei seinen Außenminister-Kollegen beschreibt – "und kamen wir überein, uns in Zukunft wieder zu sehen" – ja, Gottes Wunder. Also große Banalität. Aber es ist doch auch für das Innenleben der Grünen hochinteressant. Man fragt sich, wie der arme Joschka Fischer das überhaupt ausgehalten hat, mit diesen doch zum Teil sehr wilden, auch wild denkenden oder fühlenden Figuren zusammen zu sein. Es ist also das Martyrium des Heiligen Joschka.

Merseburger: Und er bringt es auf die schöne Formel: "Es war zum Mäusemelken", sich mit diesen Leuten auseinandersetzen zu müssen.

Gerwarth: Herr Merseburger, was wird denn von Rot-Grün bleiben? War es eine einmalige Konstellation in einer ganz bestimmten historischen Situation? Wäre – Herr Stürmer hat schon den Kosovo-Einsatz genannt, überhaupt den Einsatz der Bundeswehr, Ausstieg aus der Atomenergie – das alles nur unter Rot-Grün denkbar?

Merseburger: Der Ausstieg aus der Atomenergie als nationaler Alleingang in Europa ist natürlich nur unter Rot-Grün denkbar gewesen und ist natürlich bis heute problematisch.

Stürmer: Und, wenn ich ergänzen darf, bei einem Ölpreis 1998 von acht Dollar! Und heute sind wir weit über das 10-Fache!

Merseburger: Richtig. Also, darüber müsste man in einer Republik, die nicht hysterisch ist, rational diskutieren können. Leider ist das nicht der Fall.
Aber ich finde bei Rot-Grün ganz wichtig, dass es die rot-grüne Koalition war, die diese deutsche Beteiligung an dem ersten Kosovo-Krieg der NATO durchgesetzt hat. Stellen Sie sich mal vor, was passiert wäre, wenn das eine Regierung unter einem christdemokratischen Kanzler gemacht hätte, was dann – Rot-Grün mit einer Fundamental-Opposition, die Joschka Fischer ja schildert in seinem Buch – auf den Straßen geschehen wäre? Auch in der SPD war der Einsatz lange heftig umstritten. Dass diese Regierung sich dazu durchgerungen hat, ist meiner Ansicht nach eine historische Zäsur, die muss man ihr positiv auf die Liste schreiben.

Gerwarth: Herr Stürmer, Kohl, Schröder, Fischer – sie sind ja im Grunde alle nicht mehr aktiv, sie schreiben noch Bücher, geben ihren Parteifreunden aber weiterhin gute Ratschläge, die sind wiederum nicht besonders darüber begeistert. Ist das nun gut oder ist das schlecht?

Stürmer: Also, ich muss sagen, wenn sie ihren Parteifreunden auf Einladung gute Ratschläge geben, dann mag das hingehen. Wenn ein Bundeskanzler seine Nachfolgerin öffentlich sehr unsachlich und im Grunde schief kritisiert, ich meine Gerhard Schröder, noch dazu wegen Dingen, die in der Nation ja sehr ambivalente Gefühle erregen, nämlich die Frage der Werte in der internationalen Politik, nicht nur der Interessen, dann geht das ganz entschieden zu weit. Das ist ein Stil …

Merseburger: Vom ausländischen Boden aus auch.

Stürmer: Vom ausländischen Boden aus und das …

Gerwarth: Das hat Frau Merkel auch gemacht – übrigens.

Stürmer: Ja. Man muss da sehr genau hinschauen. In den USA gilt: Die Kontroverse endet am Strand und damit ist die Landesgrenze gemeint Das ist eine gute Regel und da gilt es, eine politische Zurückhaltung zu üben.
Man soll überhaupt nicht ungebetenen Rat geben. Das ist eine Lebensregel in allen Lagen. In der Politik ist es sehr gefährlich und es schafft nur Missstimmung.

Gerwarth: Ja, aber gut ist natürlich vor allem, Herr Merseburger, wenn man weiß, wer man ist und wo man herkommt. In diesem Jahr sind nämlich zahlreiche herausragende Bücher über Geschichte, über die Lehren aus der Geschichte erschienen: Preußen, Bismarck, Weimar, Holocaust, Nachkriegszeit. Wie würden Sie das werten? Ist das eine Art Nachholbedarf, Selbstvergewisserung oder steigendes Interesse an der eigenen nationalen Identität?

Merseburger: Also, bei Preußen und Craig kann man das ja nicht sagen, sondern das ist ein australischer Professor, der in Oxford lehrt und …

Gerwarth: Sie meinen Christopher Clark.

Merseburger: Ja, Clark, Entschuldigung.

Stürmer: Aber Craig hat auch sehr viel Kluges über Preußen geschrieben.

Merseburger: Ja, ich habe das eben leider verwechselt, Sie haben völlig recht.
Aber das ist nun ausgerechnet ein Angelsachse, der das Bild von Preußen zurechtrückt in eine Balance, wie es in unserem Land schwer zu finden ist. Ich finde das Buch gerade deshalb beachtlich und würde das immer empfehlen.

Nachholbedarf? Das weiß ich nicht. Meiner Ansicht nach arbeiten wir seit langem die Geschichte von Weimar und die Vorgeschichte, die Kaiserzeit und alle diese Dinge auf, aber dass nun ein Mann wie Fritz Stern kommt und praktisch über diese ganze Zeit, vom Kaiserreich, das er als Junge erlebt hat, bis heute, seine verschiedenen Deutschlandbilder zeigt, das ist schon, finde ich, eine beachtliche Geschichte.

Gerwarth: Da will ich aber mal ausdrücklich den Historiker Michael Stürmer fragen: Nehmen wir mal ruhig als Beispiel den Erfolg von Chris Clarks Preußenbuch: Ein in England lehrender Australier erklärt den erstaunten Deutschen preußische Geschichte. Ein in Oxford lehrender junger Deutscher veröffentlicht zuerst in englischer Sprache ein Buch über den Bismarck-Mythos der Weimarer Republik. Richard Evans schreibt eine Geschichte des Dritten Reiches. Mich führt das zu einer Fragestellung, die lauten könnte: Brauchen die deutschen Historiker sozusagen den Blick von außen, um sie noch mal zu inspirieren oder was ist das?

Stürmer: Da stellen Sie eine sehr wichtige Frage, ich würde sie sogar noch erweitern. Wie kommt es denn, dass die ganz großen Bücher über die ganz großen Themen, nämlich Hitler zum Beispiel, nicht aus der so genannten historischen Zunft, also der zwischen C2 und C4 besoldeten hauptamtlichen Damen und Herren, kommt, sondern erst von Allan Bullock, einem bedeutenden Briten, und dann von Joachim Fest, einem noch viel bedeutenderem Deutschen, der aber eben nicht ein Universitäts-Historiker in der normalen Laufbahn war, sondern ein Großbürger und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ein ganz großer Stilist. Wie kommt das?

Ja, man traut sich nicht an die Themen heran. Die deutsche Historiker-Zunft hat einen Diskurs geführt seit den 60er Jahren, der vielfach schief war, weil er die großen, bewegenden Kräfte der Geschichte nur noch allein und ausschließlich in soziologischen und ökonomischen Kategorien beschrieb, aber für Geografie, für Macht, für die Frage, gibt es das Böse als wirkende Kraft, für die Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt keinen Sinn hatte und im Grunde ja auch 1989 durch die Ereignisse, wo Geografie, Macht, Persönlichkeit eine enorme Rolle spielte, überhaupt nicht zu einer Revision gekommen ist. Das war so fest gefügt, das war so – ja, im Grunde auf einer Flucht vor den dramatischen Fragen, die die Geschichte aufwirft.

Gerwarth: Aber nachgefragt, Herr Stürmer. Das "Spannendste sind Biografien" hat Altkanzler Helmut Kohl kürzlich in Berlin gesagt: Was ist spannend an einer Hindenburg-Biografie von Wolfram Pyta, die kürzlich erschienen ist? Was können die Leser daraus für einen Nutzen ziehen bei den Turbulenzen am Ende der Weimarer Republik?

Stürmer: Ich glaube, die Hindenburg-Biografie ist lesenswert: Ich habe sie nicht gelesen, ich glaube, ich finde sie auch zu dick und zu mühsam und ich habe leider sehr fest gefügte Vorstellungen über Hindenburg, der als junger Leutnant in Versailles 1871 bei der Absperrung dabei war, das muss man sich mal klar machen, wie weit das zurückgeht, und der dann am Ende der Weimarer Republik halb vertrottelt und ohne jede Übersicht sich steuern ließ, überhaupt keine konservativen Instinkte mehr hatte, sondern diesen braunen Pöbel dann für die Zukunft hielt. Das war eine Infantilisierung eines schon 1913 – mit Recht – vom Kaiser in Pension geschickten alten Generals, also eine Farce und eine Tragödie in einem.

Gerwarth: Herr Merseburger, Sie haben die Hindenburg-Biografie für Lesart, das politische Buchmagazin von Deutschlandradio Kultur, rezensiert. Sie müssten doch jetzt energisch widersprechen?

Merseburger: Na ja, sicher muss ich da widersprechen, weil Pyta nun genau das machte, was Sie mit Recht ankreiden, dass ein bedeutungsloser Mensch plötzlich zu einem nationalen Symbol wird.
Er versucht dies eigentlich mit einem Charisma-Begriff, der nach Max Weber gar nicht möglich ist, nämlich so einer Art passivem Charisma. Das heißt, er wird als Projektionsfläche benutzt, weil er der einzige General war, der formell – eigentlich wissen wir, dass er es selber nicht war – diese schöne Idee eines Caen im Osten, und das war ja der Schlieffen-Plan im Westen, der das erreicht hat, und im Westen ging immer die Sache im Stellungskrieg unter und es wurde nie der große Schlieffen-Plan ausgeführt. Insofern war er irgendwo ein Held der Deutschen und die waren eines Helden dieser Art bedürftig. Das zeigt er sehr genau. Und er sagt auch nicht, dass Hindenburg vertrottelt war. Pyta behauptet, er hat genau gewusst, was er machte. Es war zum Schluss sogar so, dass er dem Hitler geglaubt hat, nicht aus Trottelei, sondern aus Überzeugung. Da kann man nun drüber streiten. Sie würden das bestreiten?

Stürmer: Das ist sozusagen ein sehr ernster Tatbestand, Hitler zu glauben. Wer sich informieren wollte, konnte wissen, was da kam.

Merseburger: Ja, er hat an Hitler bewundert, dass es ihm gelungen ist, die Nation zu einigen, natürlich immer abseits der Sozialdemokratie und den Marxisten etc., aber das war ja sowieso Hindenburgs konservative Idee.

Gerwarth: Herr Stürmer, auch die Nachkriegszeit rückt ja wieder stärker in den Blickpunkt. Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft, sein Klassiker mit dem wirklich überzeugenden Titel "Wohlstand für alle", ist in diesem Jahr wieder diskutiert worden, auch vor dem Hintergrund der Hauptsorge oder der die Deutschen sehr bewegenden Frage, was ist sozial gerecht?

Und das Leben eines Mannes wurde beleuchtet, der vielleicht wie kein anderer – Axel Springer ausgenommen vielleicht – die junge Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung publizistisch entscheidend begleitet hat. Ich rede von Rudolf Augstein. Wie gefällt Ihnen das Buch von Peter Merseburger?

Stürmer: Das Buch finde ich hochinteressant. Es kommen Figuren vor – schon deshalb finde ich es interessant –, die ich gekannt habe oder kenne. Es ist in der Tat auch die Entwicklung. Auch Rudolf Augstein war eine Projektionsfläche, Rudolf Augstein als links-liberale Projektionsfläche, der natürlich begann als ein frisch aus dem Krieg geretteter Leutnant mit entschieden nationalistischen Ansichten. Also für diese Verklärungen, sozusagen der neue Rousseau, dafür bestand überhaupt kein Anlass.

Der einzige Punkt, wo ich mit Peter Merseburger nicht ganz einverstanden bin, ist die Spiegel-Krise. Die Spiegel-Krise, das Duell Strauß – Augstein ist glänzend geschildert, differenziert, ja, so waren die beiden. Ich habe auch Strauß ganz gut gekannt. Aber der entscheidende Punkt: Es war eine Offiziersverschwörung aus dem Führungsstab der Bundeswehr gegen den Minister. Und das geht nicht. Das war alles andere als demokratisch. Der Minister hat dann unglaubliche Fehler begangen und darüber ist er gestürzt – mit Recht. Aber die ersten zwei, drei Akte dieses Dramas gingen voll an den Minister und gegen den Spiegel. Auch da, muss ich sagen, bewundernswert, wie Peter Merseburger auch die Schwächen von Augstein, den Opportunismus, das Sich-Wegdrücken, gezeigt hat. Erst hinterher wird er mit einer Woge der Begeisterung, an die ich mich sehr genau erinnere als junger Volontär beim Rundfunk, hochgehoben in geradezu himmlische Höhen.

Gerwarth: Herr Merseburger, Herr Stürmer war ja dann doch in seiner Gesamtbewertung sehr freundlich, aber ich finde, das ist jetzt eine großartige und sehr seltene Gelegenheit, einmal einem Kritiker zu sagen, was er nicht verstanden hat. Ergreifen Sie diese Chance!

Merseburger: Ich glaube, da kann ich nichts gegen sagen. Herr Stürmer hat mit Recht gesagt, ich habe ausführlich geschildert, wie der Spiegel am Anfang mit Respektlosigkeit und antiautoritärem Verhalten versucht hat, obrigkeitsstaatliches Denken abzubauen. Er hat mit Recht angemerkt, irgendwo ist Autorität auch mal nötig. Insofern könnten wir auch sagen, heute haben wir vielleicht zu wenig Autorität, vor allem, wenn ich unsere Regierung ansehe und unsere Kanzlerin. Aber das ist auch alles, was ich dazu anzumerken hätte.

Was die Offiziersverschwörung angeht, da haben Sie natürlich Recht, aber ich glaube, das wird ein bisschen bei mir deutlich. Es ging damals darum, dass das Heer eine andere Vorstellung hatte als die Luftwaffe. Das Heer hat natürlich gegen die Luftwaffenpläne, das waren atomare Bewaffnungspläne, Stellung bezogen. Das ist ganz deutlich, dass das innerhalb der Ermekeil-Kaserne, wo ja das Verteidigungsministerium damals noch saß, enorme Differenzen und Konfrontationen gab.

Gerwarth: Vielleicht ganz kurz noch zu diesem Thema, Herr Stürmer. In den Besprechungen tauchten ja schlagwortartig so Begriffe auf wie "Augstein Nationalist, Antisemit, Anti-Europäer", vor allen Dingen war er kein Freund Adenauers. Trifft das alles so den Kern oder sind das nur wüste Übertreibungen?

Merseburger: Das sind Zuspitzungen. Aber wenn irgendeine Persönlichkeit in der Geschichte der Bundesrepublik sozusagen den Kritiker berechtigt zuzuspitzen, dann Augstein. Er lebte davon, das hielt ihn jung, das hielt ihn aktiv, das machte ihn attraktiv. Das machte ihn auch reich. Das machte ihn für Frauen begehrenswert. Also, er verdient es eigentlich. Man würde ihm nicht gerecht, wenn man das alles mit so einer Eia-Popeia-Soße De mortuis nil nisi bene übergießen würde. Nein, nein, das ist genau der richtige Ton.

Gerwarth: Noch ein bemerkenswertes Phänomen dieses Jahres möchte ich gerne besprechen. Das ist nämlich die Rückkehr des Themas Religion in all ihren Facetten – Suhrkamp beispielsweise mit seinem neuen Verlag über doe Weltreligionen, aber auch Bücher, die sich wie Manfred Lütz mit seinem Buch "Gott. Eine kleine Geschichte des Größten" mit dem Verlust von Glauben auseinandersetzen. "Wie hältst du es mit der Religion?" fragte schon Goethes Faust, also die Gretchenfrage, und er meinte die christliche Religion. Wie halten es die Deutschen mit der Religion, Herr Stürmer? Ist das ein Auslaufmodell?

Stürmer: Nein, das ist überhaupt kein Auslaufmodell. Nur, es kommt nicht sozusagen via Konfirmandenstunde und braver katholischer Kommunion, es kommt als wilde Kraft daher. Und das überrascht …

Gerwarth: Die Kirchen sind leer, nicht?

Stürmer: Die Kirchen sind leer, das hat aber überhaupt nichts dazu zu sagen, dass nicht in der Religion ungeheure Kräfte stecken. Für welche andere Kraft würden sich denn Tausende von jungen Männern und Frauen selber zerstören als Selbstmordattentäter, wenn nicht für die Religion?

Zur mangelnden Vitalität der Europäer gehören nicht nur das Absinken der Religion und sozusagen ihre Einhegung. Das betreiben wir seit 300 Jahren, seit dem 30-jährigen Krieg. Im 30-jährigen Krieg sind im Namen der Religion absolut grauenvolle Taten verübt worden. Und danach werden die Pfarrer und Theologen in die Kirche geschickt und in die Seminare, und da haben sie zu bleiben, und deshalb eine Trennung von Staat und Religion. Der Staat nimmt die Religion gezähmt in Dienst, ein bisschen mehr in Russland, ein bisschen weniger bei uns. Die Religion ist eine der großen Potenzen der Geschichte immer gewesen. Und wer glaubt, das sei alles – auch das ist ein Fehler der Historiker seit den 50er und 60er Jahren – nur durch soziologische Kategorien im Wesen der Menschen und im Leben der Menschen determiniert ist, der irrt sich eben einfach. Wir haben die Religion sträflich vernachlässigt.

Gerwarth: Herr Merseburger, auf der anderen Seite, christlich-jüdische Religion hat doch seit Jahrhunderten Europa und das Abendland geprägt, das wird so gut wie niemand bestreiten. Jetzt hat der in London lehrende Efraim Karsh in seinem gleichnamigen Buch vor einem neuen Imperialismus im Namen Allahs gewarnt. Wovor müssen wir uns fürchten?

Merseburger: Na ja, das Problem, glaube ich, bei uns besteht – das sehen Sie ja, wenn Sie die Debatten über Moscheen und den Bau von Moscheen verfolgen – einerseits darin, dass Herr Stürmer mit Recht sagt, religiöse Momente und Elemente und Triebkräfte sind da, aber diejenigen, die religiös sind, gehen nicht unbedingt in die vorhandenen Kirchen, sondern das sind dann Außenseiterbewegungen. Denken Sie an die berühmte Sekte, der also unser Darsteller von Stauffenberg angehört.

Und gleichzeitig ist der Islam im Vormarsch, einfach, weil er auch bei uns im Lande mit soundso vielen Millionen Mohammedanern vertreten ist, die natürlich nun ihre Moscheen bauen wollen. Wir wehren uns nicht genügend dagegen. Im Grunde müsste man gegen volle Moscheen, die dann obendrein mit Minaretten versehen werden, die Minarette verkörpern ja irgendwo auch ein bisschen einen Machtanspruch, müsste man dann die Kirchen füllen, um sich im Grunde – wenn Sie wollen – religiös zu verteidigen. Und das ist leider bei uns heute nicht der Fall und ich sehe auch nicht, wie dies gemacht werden kann. Aber die Bürger spüren natürlich, wenn sie gegen einen Moschee-Bau protestieren, dass da etwas in unsere Gesellschaft kommt, was eigentlich bisher fremd war, und sie wehren sich dagegen. Aber sie tun nicht das, was man eigentlich machen müsste, sich religiös zu organisieren, um das abzuwehren.

Gerwarth: Herr Stürmer, ich erweitere das noch mal, Sie können gerne darauf antworten, aber ich wollte Sie auch gerne noch fragen, ob es eines Tages so etwas wie einen europäischen Islam geben könnte, eine westliche Variante, tief verwurzelt im europäischen Rechtssystem, wie es hier allenthalben hierzulande diskutiert wird. Was halten Sie davon?

Stürmer: Also, es gibt ja viele Varianten des Islam. Vielleicht gibt es irgendwann auch eine gemäßigte, von der Aufklärung mindestens berührte und insofern auch die dar getane enthüllte Wahrheit relativierende Spielart des Islam. Bisher ist das eigentlich kaum zu sehen.

Der Islam ist eben nicht wie die katholische Kirche. Da gibt es keinen Papst, sondern im Moment sind es die wildesten Strömungen, die rachsüchtigsten, gefährlichsten Strömungen, die im Grunde in den Vordergrund drängen, sehr, sehr militant sind. Und die Gemäßigten, die ja die große überwiegende Zahl stellen, haben leider nicht den Mut oder die Kraft oder auch die Einsicht, dass sie diese Debatte anfangen müssen, dass sie sozusagen sehr schnell zu Luther kommen müssen. Und auch weiter, die Entwicklung, die Reformation ist ja nicht stehen geblieben, sondern da gibt es eine Gegen-Reformation. Da gibt es ein starkes Eingehen auf die Luthersche Kritik und dann gibt es die Aufklärung, die vor den Kirchen auch nicht halt gemacht hat. Und dann gibt es die Erlebnisse des 20. Jahrhunderts mit den Ersatzreligionen. Das alles müsste – das geht sicherlich ganz stark von der mohammedanischen Seite aus, aber das muss auch von unserer Seite aus gehen – immer wieder zum Gespräch gemacht werden, in den Medien, in den Universitäten, in den Schulen. Finden wir dafür Partner, Gegenüber, oder ist der Islam sozusagen nicht diskussionsbereit, nicht dialogbereit?

Und ein Weiteres noch: Es ist eben keine Parallele. Die Kirche ist ein Gotteshaus. Punkt. Da wird zwar manchmal am Sonntag politischer Unsinn gepredigt, aber es ist letztlich ein Gotteshaus. Die Moschee ist beides, ein Gotteshaus und ein politischer Versammlungsort. Wenn wir das nicht begreifen und auch sozusagen in verfassungskonforme Formen bringen, dann sehe ich nicht, dass wir da gut zusammenleben.

Merseburger: Ganz kurz dazu, ich glaube, der preußische König hat das mit den Juden gemacht. Er hat die Juden praktisch gezwungen, so ähnliche Formen anzunehmen oder zu bilden wie die Kirchen, und hat ihnen sogar auferlegt, dass sie einen bestimmten Talar tragen, die Rabbis, usw. Ob man das mit dem Islam machen kann, weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, der Islam braucht erst eine Kirche und dann einen Reformator. Das ist eine lange, lange Wegstrecke.

Gerwarth: Auch diese Sendung wollen wir natürlich mit einer Buchempfehlung abschließen. Herr Stürmer, welchen Buchtipp halten Sie für uns bereit?

Stürmer: Mein Vorschlag ist Gerd Langguth über Angela Merkel, "Aufstieg zur Macht. Eine Biografie". Das Buch ist rausgekommen im Jahr 2005, als Angela Merkel in einem Wahlkampf ziemlich unglücklicher Art fast die Wahlen verlor und dann wie Phönix aus der Asche aus der Fast-Niederlage doch eine große Koalition zusammenbrachte, die bis heute gehalten hat und vermutlich einigermaßen bis zum Ende durchhalten wird, wenn auch jetzt die Zeichen des Zerfalls deutlich sind. Und das ist deshalb eine interessante Biografie, weil die Triebkräfte, aus denen Angela Merkel handelt, und sie ist eine sehr starke Persönlichkeit, das ist überhaupt keine Frage, sie ist vielleicht nicht princess charming und all diese Dinge, aber sie ist als Machtmensch, als Alphatier, durch nichts zu überbieten.

Gerwarth: Durch nichts zu überbieten, da bin ich ja gespannt, was Herr Merseburger empfiehlt.

Merseburger: Na, ich würde schon den Fritz Stern mit seinem Buch und seinen Erinnerungen empfehlen. Aber ich würde auch gern auf ein Buch vom letzten Jahr zurückgreifen, das ist von Joachim Fest und heißt "Ich nicht". Das zeigt aus meiner Sicht doch eine tolle Geschichte, die Geschichte einer Familie, die auch viele materielle Verluste in Kauf nimmt, um sich Hitler nicht auszuliefern und aus Überzeugung "nein" sagt. Das hat der Vater dem Sohn mitgegeben und manches an Fest wird für mich nach dieser Lektüre verständlicher als es vorher war.

Gerwarth: Dann setzen wir hier ein Ausrufezeichen. Das war Lesart Spezial, heute mit Peter Merseburger und Michael Stürmer als Gäste. Danke für Ihr Interesse, am Mikrofon verabschiedet sich Michael Gerwarth.