Warum Zivilisationen erfolgreich sind

Rezensiert von René Weiland · 02.06.2011
Um die Frage nach den Gründen der westlichen Vorherrschaft in der Welt, aber auch nach deren möglichem Ende zu beantworten, reicht es Ian Morris zufolge nicht, uns mit der neueren Geschichte zu befassen. Wir müssen in die Vorgeschichte hinabtauchen.
Mit dem Ende der letzten Eiszeit entstand auf dem eurasischen Festland, im Nahen und Mittleren Osten, die Region des so genannten "Fruchtbaren Halbmondes" als Kerngebiet späterer Ackerbau- und Viehzuchtkultur.

Erst rund 2000 Jahre später sollten sich im Fernen Osten, dem heutigen China, zwischen Gelbem Fluss und Jangtse unter klimatisch und territorial ähnlich günstigen Bedingungen Menschen dauerhaft niederlassen, Pflanzen und Tiere domestizieren, Werkzeuge und Schriftzeichen sowie rituelle Kultstätten für ihre Ahnen erschaffen.

Seither kamen im Osten und im Westen gesellschaftliche Entwicklungen den jeweiligen geographischen Voraussetzungen entsprechend unterschiedlich zügig in Gang.

"Gesellschaftliche Entwicklung ist das Bündel technischer, den Lebensunterhalt betreffender, organisatorischer und kultureller Leistungen, aufgrund derer Menschen sich ernähren, kleiden, unterbringen und reproduzieren. Oder anders: Gesellschaftliche Entwicklung ist das Bündel der Leistungen, die ihnen helfen, die Welt, in der sie leben, zu erklären, in ihren Gemeinschaften Streitigkeiten beizulegen, ihre Macht auf Kosten anderer Gemeinschaften auszudehnen und sich umgekehrt zu wehren, wenn andere das Gleiche versuchen."

Morris führt vier Merkmale an, die über eine erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung bestimmen: Energieausbeute, Kollektivierung, Nachrichtenwesen und militärische Stärke. Er zeichnet die gesellschaftliche Entwicklung über die Jahrtausende im Osten und Westen in einer Diagrammkurve nach. Danach hat der Westen, grob gesprochen, ab der letzten Erderwärmung um 14.000 bis ungefähr 500 vor unserer Zeitrechnung vorne gelegen.

Nach einer Zeit parallelen gesellschaftlichen Wachstums wird der Osten bis ins Mittelalter hinein gegenüber dem Westen, der sich geopolitisch mittlerweile gen Nordwesten nach Europa verlagert hat, die Führung übernehmen. Ab dem 14. Jahrhundert ändert sich wieder das Bild zugunsten des Westens. Im 18. Jahrhundert schließlich schnellt die Kurve im Westen hoch wie nie zuvor. Eine Aufwärtsbewegung, in der wir noch heute begriffen sind – bei einem, laut Ian Morris, zu erwartenden Gleichstand auf hohem Niveau von Ost und West gegen Ende dieses Jahrhunderts.


Gehen wir also auf eine neue "Achsenzeit" zu? So nämlich nannte der Philosoph Karl Jaspers in seinem kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlichten Buch "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" jenes Zeitalter vor rund 2500 Jahren, als Osten und Westen bei aller kulturellen Verschiedenheit intellektuell und moralisch auf derselben Höhe waren. Es war die Zeit der Tragiker und ersten Philosophen Griechenlands, der israelitischen Propheten sowie Konfuzius’ und Laotses in China. In dieser Zeit hat sich in gewisser Weise das uns noch heute bestimmende Bewusstsein von uns in der Welt herausgebildet – für Jaspers nicht zuletzt ein Indiz für die ursprüngliche Einheit der menschlichen Gattung überhaupt.

Ian Morris geht auf seine Weise durchaus zustimmend auf Jaspers’ Befund ein, wenn er die Gesellschaften in Ost und West zu jener Zeit gleichermaßen im Übergang von, wie er sagt, Low-end- zu High-end-Staaten begriffen sieht. Dass es nicht dabei blieb, dass hoch entwickelte gesellschaftliche Gebilde allüberall wieder zerfielen, hat teils mit äußeren katastrophalen Faktoren zu tun, teils mit der Logik der gesellschaftlichen Entwicklungen selbst. Ian Morris nennt es das "Paradox gesellschaftlicher Entwicklung".

Nicht nur, dass diese Wechselbeziehungen von Mensch und Umwelt an sich ein komplexes Geschehen darstellen, sie stellen selber Komplexität her. Das heißt, sie bringen selber neue Bedingungen hervor, auf die sie wiederum Antworten finden müssen. Bestimmten zunächst geographische Bedingungen über Möglichkeit und Rasanz der gesellschaftlichen Entwicklung, so wird deren Fortgang umgekehrt darüber bestimmen, welche Geographie nützlich ist – seien es die Steppen für die östlichen Reitervölker, seien es die Ozeane für die seefahrenden europäischen Nationen.

"Eine ansteigende gesellschaftliche Entwicklung erzeugt genau die Kräfte, die sie selbst untergraben. Menschen werden täglich mit solchen Widersprüchen konfrontiert und finden Lösungen dafür, aber von Zeit zu Zeit erzeugen die Widersprüche eine massive Decke, die nur durch wirklich grundlegende Veränderungen zu durchbrechen ist. Selten liegt auf der Hand, was zu tun ist, geschweige denn wie es zu tun ist, und wenn sich eine Gesellschaft dieser Obergrenze nähert, beginnt ein Wettrennen zwischen Entwicklung und Zusammenbruch."

Dieses Wettrennen wird, so Morris, im 21. Jahrhundert alles historisch Bekannte in den Schatten stellen. Alles wird darum gehen, ob wir es menschheitsgeschichtlich erstmalig schaffen, das Paradox unserer eigenen gesellschaftlichen Entwicklung auf eine Weise zu bewältigen, die weder zu globaler Zerstörung noch zur Selbstentwürdigung führt. Unterwegs zu dieser Singularität werden, wie Morris voraussagt, die geographischen Bedingungen sich nicht ein weiteres Mal verändern, sondern schlicht keine Rolle mehr spielen.

Einzig der Geschichtswissenschaft traut er dabei zu, uns bei der Vermeidung der auf uns wartenden Gefahren helfen zu können. Nicht zuletzt deswegen und auch aufgrund der Affinität des Autors zur Science Fiction sowie einer gewissen Unberührtheit von Philosophie geht von diesem buchstäblich beeindruckenden Buch ein Hauch von Hybris aus. Ihr wäre etwa mit Jaspers’ Credo zu begegnen, wonach geographische und geschichtliche Konstellationen zwar die Bedingungen unseres Daseins schaffen, das danach einsetzende Schöpfungswerk jedoch ein großes Geheimnis bleibt.

Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Campus Verlag. Frankfurt / New York, 2011
Cover - Ian Morris: "Wer regiert die Welt?
Cover - Ian Morris: "Wer regiert die Welt?© Campus-Verlag