Draußen in der Natur
Oft unspektakulär und irgendwie unzeitgemäß - trotzdem eine der beliebtesten Freizeit- und Urlaubsaktivitäten, auch bei jungen Leuten: das Wandern, etwa in den bayerischen Voralpen. © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Die Unkaputtbarkeit des Wanderns
04:31 Minuten

Der Mensch ist zum Gehen gemacht, doch in unserer modernen Welt vergisst er das oft. Bis er dann im Urlaub Wandern geht – und mit seinem Körper eine archaische Erfahrung macht.
Es war im späten Mai, alle hatten mit Frühling gerechnet. Stattdessen: minus 8 Grad, heftiger Wind und kaum Sicht auf 3500 Meter Höhe. Langsam stapft die Seilgemeinschaft in den Hohen Tauern in Österreich über den tief verschneiten Gletscher zum Gipfel des Großvenedigers hinauf. Der Atem geht schnell, die Muskeln brennen – Stunde um Stunde um Stunde. Am Ende wird die Wanderung fast den ganzen Tag gedauert haben.
Aber war das überhaupt noch Wandern? Oder bloß die narzisstische Befriedigung von falschem Ehrgeiz? Die Fortbewegung namens Wandern beginnt jenseits des Spaziergangs und endet, wo es im Gebirge ohne Kletterausrüstung nicht mehr weiter geht. Oder um es mit Wikipedia zu sagen: „Wandern ist eine Form weiten Gehens über mehrere Stunden.“ Also im Kern etwas vollkommen Unspektakuläres und geradezu Unzeitgemäßes – nicht nur verglichen mit Kitesurfen, Wingsuitfliegen, Downhillfahren und ähnlich angesagtem Nervenkitzel.
Hochtouren-Kurse für viel Geld
Trotzdem ist das weite Gehen über mehrere Stunden eine der beliebtesten Freizeit- und Urlaubsaktivitäten hierzulande – auch bei jungen Leuten. In unserer siebenköpfigen Seilgemeinschaft am Großvenediger waren vier Personen unter 30 Jahre alt – und haben für den Hochtouren-Kurs viel Geld ausgegeben.
Andere wandern in alten Turnschuhen zehn, zwölf Kilometer kostenlos durch die nächsten Wälder und Felder. Dritte machen's wie Hape Kerkeling – und sind dann mal wochenlang irgendwo auf dem Jakobsweg anzutreffen.
Wanderer unterscheiden sich, je nachdem, welche Route und Dauer, welche Geschwindigkeit und welchen Schwierigkeitsgrad sie wählen – aber sie sind alle darin gleich, dass sie Schritt um Schritt vorwärtsgehen. Und in dieser fundamentalen Einfachheit liegt wahrscheinlich der entscheidende Reiz.
Der Schriftsteller Christoph Ransmayr, nach Auskunft seines Freundes Reinhold Messner ein guter Tourengeher, hat angemerkt, dass Flugzeuge zwar die Reisezeiten rund um den Globus absurd verkürzt haben, die Entfernungen aber „nach wie vor ungeheuerlich sind“. „Vergessen wir nicht", betont Ransmayr, "dass eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und dass wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind.“
Ultra-Leicht-Rucksack und High-End-Trekkingstock
Aus dieser Perspektive sind noch die best-ausgerüsteten Wanderer des 21. Jahrhunderts mit ihren Proteinriegeln im Ultraleicht-Rucksack und faltbaren High-End-Trekkingstöcken in der Hand in den Spuren der ersten aufrecht gehenden Steppen-Bewohner unterwegs.
Hitze blieb Hitze, Erschöpfung Erschöpfung, Fußschmerz Fußschmerz, kühles Wasser die köstlichste Labsal - auch wenn das heutige Freizeitwandern nichts mehr von der einstigen Notwendigkeit des Gehens und Laufens hat. Oder vielleicht doch? Jedenfalls für manche?
Die ehemalige Ausnahme-Biathletin und ausgebildete Bergführerin Laura Dahlmeier meinte anlässlich ihrer Besteigung der fast 7000 Meter hohen Ama Dablam in Nepal, dass ihr die Anstrengung ein Gefühl von Lebendigkeit gibt, das sie anders nicht haben kann.
Der Philosoph Helmuth Plessner hätte das vermutlich gut verstanden. Laut Plessner gilt für den Menschen, dass er einerseits einen Körper hat und andererseits, mehr oder weniger unbewusst, stets dieser Körper ist – Plessner sprach von „Leib sein“. Wandern ist wohl die einfachste Art, beide Daseins-Modi ausführlich und zugleich zu erleben – in erster Linie aber das nachhaltige Bewusstsein, einen Körper zu haben.
Wandern lässt sich gut dosieren
Laura Dahlmeier ist das viel wert. Obwohl drei ihrer Freunde tödlich verunglückt sind, zieht es sie weiterhin in die Berge. Das entwertet keinesfalls die übersichtliche Flachland-Wanderung um den nächsten See. Eher im Gegenteil: Wandern lässt sich je nach Leistungskraft und -wunsch genau dosieren. Es gibt kaum niederschwelligere Aktivitäten.
Übrigens: Nach der Rückkehr vom Großvenediger gingen auf der Berghütte die Ansichten in unserer Gruppe auseinander. Die einen wollten eine solche Tour gern wieder erleben, die anderen lieber nicht. Aber niemand bedauerte es, dieses Mal den Gipfel erklommen zu haben. Und alle waren sich ihres entkräfteten Körpers so bewusst, dass sie nach dem Abendessen direkt ins Bett fielen – um schlafend nur noch Leib zu sein.