Wandern für Hochsensible

Spezieller Blick für Schönheiten

05:07 Minuten
Silhouette eines singenden Zaunkoenigs auf einem Ast
Die Schönheit der Natur bewusst wahrnehmen, wie etwa einen Zaunkönig - das ist möglich bei HSP-Wanderungen. © IMAGO / Beautiful Sports
10.10.2021
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Nur wenige Kilometer läuft man bei HSP-Wanderungen, doch dabei geht es nicht um sportliche Leistungen, sondern um eine bewusste Wahrnehmung der Umwelt. Das Angebot richtet sich an hochsensible Menschen, die empfänglicher sind für Reize.
Die kleine Wandergruppe um Gerd Neumann hat es sich auf dem Deck der Fähre gemütlich gemacht, die nur rund 20 Minuten von der Ablegestelle Großer Wannsee zum Berliner Ortsteil Kladow braucht. Während der Fahrt zieht das imposante Strandbad Wannsee vorbei, etwas entfernt ist die Pfaueninsel zu sehen, schon legt die Fähre wieder an. Kurz darauf begrüßt Gerd die Teilnehmer der Wanderung nun offiziell:
"Herzlich willkommen auf unserer Wandertour zum Gutspark Neukladow. Mit unserem speziellen Blick haben wir die Chance, noch mehr Schönheiten auszuloten, als es vielleicht anderen möglich ist. Und dass wir das nutzen können zum Auftanken vom Alltag."

20 Prozent sind hochsensibel

HSP-Wanderungen, also Wanderungen für Hochsensible Personen, wie die heute zum Gutshof Neukladow, sind spezielle Touren, sagt Gerd, der selbst hochsensibel ist. Seit einigen Jahren bietet er die Wanderungen an. Ein Glücksfall für Anna und Walburga:
"Das Besondere ist, dass ich merke, mein Kopf wird frei, und diese Wanderungen sind so vielfältig. Landschaften, Seen, Ausblicke, die sind ganz fein abgestimmt auf alle Bedürfnisse, die ich habe."
"Das Tolle an HSP-Wanderungen ist, dass es Menschen sind, mit denen man zum Beispiel auch sehr gut schweigen kann. Und das ist eben bei Leuten als HSP-Gruppe mehr möglich als sonst, dass man sehr viel stärker den Eindruck der Natur auf sich wirken lassen kann."
Rund 20 Prozent der Bevölkerung sind hochsensibel, das bedeutet, diese Menschen haben eine starke innere Wahrnehmung, sie erleben ihre Umwelt detailreicher, erfahren aber auch Leistungsdruck und Stress stärker. Jetzt, als Gerd der Gruppe bedeutet stehen zu bleiben, um dem Gesang eines Zaunkönigs zuzuhören, ist die andere Konzentration der Wanderer spürbar.
"Was wir jetzt erlebt haben, mit dem Zaunkönig, dass wir ihn nicht nur gehört, sondern auch gesehen haben, das ist eben überwiegend nur deshalb möglich, weil wir in kleinen Gruppen wandern. Und das ist eben mein Konzept. Ich wandere bis maximal zehn Personen. Dann sind so kleine Naturgeschenke immer möglich."

Intensiver Austausch unter Gleichgesinnten

"Inzwischen verbinde ich damit Entspannung in der Natur in einer besonderen Situation."
Ralf ist seit vier Jahren bei den HSP-Wanderungen dabei.
"Es ist eine besondere Erfahrung mit Gruppenmitgliedern, die so ähnlich innerlich gestrickt sind wie ich selbst. Und das hat eine Qualität. Das hat ein Weilchen gedauert, bis ich das erkannt habe."
Immer wieder bleiben die Teilnehmer der insgesamt nur sechs Kilometer langen Wanderung stehen. Kenntnisreich benennt Gerd Vögel, Schmetterlinge, Käfer, das Licht, die laue Temperatur wird ausgelotet. Doch in der Tiefe, sagt Björn, gehe es darum, sich mit Leuten von gleicher Art, gleicher Veranlagung zu treffen.
"Um sich dann intensiver austauschen zu können, und das dann in diesem Rahmen, ergänzt um diese Eindrücke, das ist, denke ich, eine unschlagbare Kombination."

Im Alltag Momente der Schönheit finden

Gerd unterbricht immer wieder, erzählt etwa vom Leben der Lyrikerin Mascha Kaleko am Mascha-Kaleko-Weg, oder über die Geschichte des Krankenhauses Havelhöhe. Dann ist das Wanderziel erreicht, Kaffee und Kuchen gibt es im idyllischen Gutshaus Neukladow. Eine Stunde später ist der Ausgangspunkt der Wanderung – die Fähre zurück über den Wannsee – erreicht.
Gerd verabschiedet alle, und hält dabei auch fest, was den HSP-Blick ausmacht, was HSP-Wanderungen bringen. Wie etwa das intensive Zurückfühlen an einen Ort, mit dem man "vielleicht auch im Alltag Momente der Schönheit finden kann, wo man nicht glaubt, dass sie da sind."
Walburga fügt an: "Man macht mit sich selbst die Erfahrung, dass man Eindrücke insgesamt sehr viel intensiver wahrnimmt, die ankommen. Und dazu ist da bei den HSP-Wanderungen einfach die Atmosphäre da, weil die Leute, die mit einem wandern, wissen, wovon die Rede ist. Man muss sich darüber nicht extra verständigen, man muss sich nicht erklären. Und das schätze ich sehr."

Was ist Hochsensibilität und wie wirkt sie sich aus?
Sportwissenschaftler Oliver Stoll im Gespräch über ein noch wenig erforschtes und umstrittenes Gebiet. [ AUDIO ]

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