Walter Scheidel: "Nach dem Krieg sind alle gleich"

Dramatische Mechanismen der Umverteilung

Buchcover "Nach dem Krieg sind alle gleich", im Hintergrund Kinder die nach dem Zweiten Weltkrieg einen sogenannten "Rosinenbomber" beobachten.
Das Cover des Sachbuchs "Nach dem Krieg sind alle gleich" © Theissen-Verlag / AP Archiv
Walter Scheidel im Gespräch mit Maike Albath  · 26.01.2019
In einer Geschichte der Ungleichheit beschreibt der Altertumswissenschaftler Walter Scheidel, wie Kriege und Revolutionen zu Umwälzungen führen, die auch die Eigentumsverhältnisse nachhaltig verändern. Es sei viel schwerer, die Schere zwischen Arm und Reich auf friedliche Weise ausgleichen.
Die Herausforderung für die heutige Politik sei, Ungleichheit auf friedliche Weise auszugleichen, sagte der Altertumswissenschaftler Walter Scheidel im Deutschlandfunk Kultur. Der Professor an der Universität Stanford verdeutlicht in seinem Buch "Nach dem Krieg sind alle gleich", dass es meist gewalttätige Umwälzungen waren, die große Ungleichheit beseitigten. Einen ähnlichen Effekt ohne diese negativen Begleiterscheinungen zu erzielen, dass sei sehr viel schwieriger, als sich das anhörte.

Suche nach neuen Modellen

"Heute wird oft darauf verwiesen, dass vor 50 Jahren Gesellschaften gleicher waren, als das heute der Fall ist", sagte Scheidel. "Das beruht in großem Umfang auf den Umwälzungen, die sich ergeben haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und diese Effekte jetzt zu replizieren, ohne gewaltsamen Eingriff, das ist wirklich sehr schwierig." Insofern müsse überlegt werden, welche neuen Modelle es heute im Kontext der Globalisierung gebe. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Maike Albath: Welche Kräfte umwälzende Veränderungen bewirken, ist heute in der "Lesart" unser Thema. Dass unsere modernen Gesellschaften auseinanderdriften, wird häufig mit der zunehmenden Ungleichheit begründet, mit der Schere zwischen Arm und Reich. Der Altertumswissenschaftler Walter Scheidel, Professor an der Universität Stanford, hat jetzt eine Geschichte der Ungleichheit vorgelegt. "Nach dem Krieg sind alle gleich" heißt sein knapp 700 seitiges Panorama. Wir haben ihn vor der Sendung in Kalifornien erreicht. Guten Tag, Herr Scheidel!
Walter Scheidel: Guten Tag!
Albath: Ihr Titel der deutschen Ausgabe klingt sehr provokant, so als sei der Krieg das einzige Mittel, die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Besitz zu verändern. Warum hat denn ausgerechnet ein Krieg diese Wirkung?
Scheidel: Es haben nicht alle Kriege diese Wirkung, es ist vor allem ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, wenn wir an den Ersten oder Zweiten Weltkrieg denken, dass ein ganzes Bündel von Faktoren zusammenkommt, die dann kollektiv diese Wirkung haben. Sehr hohe Steuersätze, Zerstörung von physischem Kapital, Unterbrechung von wirtschaftlichen Prozessen, aggressive Interventionen von Regierungen im ökonomischen Bereich, Inflation, Stärkung von Gewerkschaften, Vollbeschäftigung, alle diese Dinge spielen zusammen, um diesen Effekt zu bewirken, historisch gesehen.

Trend über Jahrhunderte

Albath: Sie setzen ja wirklich mit Beginn der Menschheitsgeschichte ein mit Ihrem Panorama. Wann begann das denn mit dieser ungleichen Verteilung von Ressourcen, gab es da eine bestimme Zäsur?
Scheidel: Das beginnt bereits nach dem Ende der letzten Eiszeit, also vor 10.000 oder 15.000 Jahren, als sich Menschen das erste Mal sesshaft machten und begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, und Institutionen entwickelten wie Erbrecht oder Privatbesitz. Und von da an können wir bereits in der Archäologie und später in historischen Quellen sehen, dass Vermögen immer ungleicher verteilt wird. Und das war wirklich ein Trend, der Jahrtausende lang angehalten hat – bis in die jüngere Vergangenheit.
Albath: Wieso haben sich denn die frühen Ackerbauern – oder diejenigen, die für sie schuften mussten, – nicht gewehrt gegen diese ungleiche Verteilung? Man würde ja denken, die waren doch viel mehr, die hätten doch etwas dagegen unternehmen können, um diese soziale Hierarchie auszuhebeln.
Scheidel: Das ist sicherlich der Fall, aber je mehr Leute es gab, umso stärker waren sie eingebunden in staatliche Institutionen. Sie mussten sich verteidigen gegen andere Gruppen, es gab einen Wettbewerb für den Zugang zu Ressourcen, zu Land und anderen Gütern. Und ganz langsam, aber sicher wurden Leute hineingesaugt in diesen Prozess, und wenn sie einmal drinnen waren, konnten sie nicht mehr so leicht heraus.
Goldschatz aus dem Grab des Liu He, Kaiser der westlichen Han-Dynastie
Die Han-Dynastie war eine Ära der Ungleichheit, wie auch der Goldschatz aus dem Grab des Kaisers Liu He dokumentiert. © dpa
Albath: Sie sprechen, Walter Scheidel, in Ihrem Buch von den Imperien der Ungleichheit. Und ein Beispiel ist die vierhundertjährige Han-Dynastie im alten China, die 206 vor Christus begann. Wie funktionierte da die Anhäufung von Macht und Reichtum?
Scheidel: Wenn man sich Imperien generell ansieht, sind die alle ähnlich strukturiert. Es gibt eine ganz kleine Oberschicht von Personen, die politische Macht ausüben und sich gleichzeitig ökonomische Ressourcen aneignen. Das ist mehr oder weniger dasselbe. Und je größer diese Staaten werden, je länger sie Bestand haben, umso stärker tritt diese Konzentration von Macht und Vermögen an der Spitze der Gesellschaft auf.
Das ist ein fast naturgegebenes Phänomen, weil eben die politische Macht so stark konzentriert ist, es gibt keine demokratischen Strukturen, militärische Macht ist ebenfalls an der Spitze der Gesellschaft konzentriert. Es ergibt sich daraus fast zwangsläufig, dass einige Familien, die besonders gut positioniert sind, die Zugang haben zu Staatsämtern, die Verbindungen haben, Allianzen schließen untereinander, auch Heiratsallianzen, im Laufe der Zeit immer reicher werden. Und wenn wir vernünftige Quellen haben, wie das in China der Fall ist nach dem Fall des römischen Reiches, können wir das sehr schön nachverfolgen, vollziehen, diesen Prozess.

Zurück in der Antike

Albath: Das heißt die Familien haben sich auch gegenseitig immer mit Posten versorgt und dadurch ihre Macht gefestigt. Aber wann begann es dann mit egalitären Modellen?
Scheidel: Egalitäre Modelle lassen sich zurückverfolgen bis in die Antike, wenn Sie an die griechischen Stadtstaaten denken, etwa Athen oder Sparta vor 2500 Jahren, die ja bereits zum Teil demokratische Institutionen entwickelt haben.
Aber auch diese Institutionen waren sehr stark verankert im militärischen Bereich. Die gab es eigentlich nur, weil diese Stadtstaaten ein Milizsystem hatten, wo alle erwachsenen männlichen Bürger auch bewaffnet waren und an Kriegshandlungen aktiv teilgenommen haben. Und daraus erwächst dann eben auch eine Demokratie, die dann ihrerseits diese Konzentration von Einkommen und Vermögen etwas abdämpft.
Albath: Ich erinnere mich an meine Lektüre von Hannah Arendt, "Vita activa" war das, und da geht es bei ihr darum, dass sie sagt, Besitz könne auch frei machen. Also, in dem Moment, in dem man Besitztümer hat, kann man über die Belange des Gemeinwohls nachdenken, weil man dann unkorrumpierbar sei. Ist das etwas, das auch mit Ihren Forschungen übereinstimmt?
Scheidel: Ich glaube, dass nur relativ wenige Leute so viel Besitz haben, dass sie sich diesen Luxus leisten können. Die meisten Leute in allen Gesellschaften müssen ja arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und sind schon dadurch größeren Machtstrukturen ausgesetzt. Das sind natürlich genau die Leute, die auf ihre Arbeit angewiesen sind und nicht auf ererbten oder anders erworbenen Besitz, die von der Ungleichheit negativ betroffen sind.
Also, insofern wäre das natürlich im Idealfall denkbar, wenn die Güter in einer Gesellschaft recht gleichmäßig aufgeteilt wären, würde es nicht nur die Ungleichheit reduzieren, sondern auch einen anderen Lebensstil ermöglichen, also theoretisch ist das sicher der Fall. Praktisch hat allerdings Privatbesitz historisch gesehen durchaus den Effekt, dass er die Ungleichheit fördert.

Unterschiede in Lateinamerika

Albath: Der Altertumswissenschaftler Walter Scheidel ist in der "Lesart" zu Gast. "Nach dem Krieg sind alle gleich" heißt seine Geschichte der Ungleichheit. Sie beleuchten die Zusammenhänge zwischen Krieg und der Entwicklung eines gerechteren Steuersystems. Es gibt aber auch den Blick auf Lateinamerika, wie sah es da aus?
Scheidel: Lateinamerika unterscheidet sich vom Rest der Welt grob gesprochen dadurch, dass es dort nie große Kriege oder Revolutionen gab. Im 20. Jahrhundert wurde Lateinamerika weitestgehend verschont vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, es gab ganz selten kommunistische Revolutionen wie in Kuba. Und dadurch haben sich bestehende Traditionen der Ungleichheit sehr viel stärker erhalten, als das in Europa oder in Ostasien der Fall war.
Die Kirche Santa Ritain Paraty am Wasser in Brasilien
Die Kolonialzeit prägt bis heute weite Teile Lateinamerikas. © dpa
Und in diesem Fall geht die Konzentration von Vermögen ja historisch sehr weit zurück, in die Kolonialzeit, dass es eine kleine Gruppe von Leuten gibt, die Großgrundbesitz haben, die auch den politischen Prozess oft sehr stark kontrollieren, und diese Strukturen haben sich in Lateinamerika viel stärker gehalten, als das in anderen Teilen der Welt der Fall war. Und das ist einer der Gründe dafür, dass heute noch die Ungleichheit in vielen lateinamerikanischen Ländern höher ist als in anderen Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung.

Millionen von Toten in Russland und China

Albath: Die Frage ist ja – und das ist so etwas, was sich bei mir beim Lesen des Buches so eingestellt hat –, ob es immer diese gewalttätigen Umwälzungen braucht, also Kriege oder auch Revolutionen, sie haben das Stichwort gerade genannt. Und in der Sowjetunion war die Umverteilung ja ein erklärtes Ziel. Hat diese Art der Nivellierung funktioniert?
Scheidel: Die hat sehr wohl funktioniert, wenn man sich die Statistiken ansieht, nur war sie natürlich gerade in Russland oder in China mit großer Brutalität verbunden, hat viele Millionen das Leben gekostet. Das ist nun ein Problem. Ich habe mir das systematisch angesehen und da stellt sich heraus, je friedfertiger politische Ansätze sind, desto weniger effektiv waren sie im Durchschnitt im Bezug auf die Reduzierung der Ungleichheit – was natürlich eine sehr pessimistische Wahrnehmung ist. Aber das wird durchaus von den historischen Daten unterstützt, diese Sichtweise.
Albath: Was ist mit Bildung, kann das helfen bei der Umverteilung von Ressourcen, ist das eine Möglichkeit, das auszugleichen?
Scheidel: Bildung ist sicherlich extrem wichtig. Wenn es die Massenausbildungssystem nicht gäbe, die wir heute haben vor allem in der westlichen Welt, wäre die Ungleichheit sicherlich noch höher, als das aktuell der Fall ist. Es ist allerdings sehr schwierig, durch Bildung allein eine dramatische Reduzierung bestehender Ungleichheit zu erreichen. Das heißt, heute, in heutigen Systemen, ist die Bildung eine Art Dämpfer, ein Mechanismus, der dazu beiträgt, die Ungleichheit im Zaum zu halten, aber historisch gesehen hatte sie keinen großen Einfluss auf bestehende Strukturen.

Nürnberg im Dreißigjährigen Krieg

Albath: Sie nennen, Herr Scheidel, in Ihrem Buch ein Beispiel, neben vielen, vielen anderen, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, nämlich das der Stadt Nürnberg während des Dreißigjährigen Krieges. Wie ist es mit Faktoren wie Krankheiten, die dann ja auch die Bevölkerung grundsätzlich verändern, und so einem Einschnitt wie dem Dreißigjährigen Krieg. Können Sie uns das noch mal an diesem Beispiel ein bisschen verdeutlichen?
Scheidel: Historisch gesehen, wenn man eben über das 20. Jahrhundert hinaus zurückgeht, waren das eigentlich zwei Faktoren, die Ungleichheit reduziert haben. Eines war der Zusammenbruch von staatlichen Systemen, wir haben das ja schon angesprochen. Und der andere Faktor waren Seuchen, ganz extreme Fälle von Epidemien wie die Pest im Spätmittelalter und dann wieder im 17. Jahrhundert, wie Sie gerade angesprochen haben in Nürnberg, wo oft so viele Menschen sterben, dass ein Arbeitskräftemangel entstand dadurch.
Der Tods des schwedischen Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632)
Der Historiker Walter Seidel widmet sich auch ausführlich dem Dreißigjährigen Krieg. © imago
Das hat die Löhne in die Höhe gestoßen, während Land und andere Formen von Kapital an Wert verloren haben. Das heißt, die Armen wurden weniger arm und die Reichen weniger reich, zumindest zeitweise, solange diese Seuchen aktiv waren. Und das sehen wir gerade am Beispiel von Nürnberg, das ist ein besonders extremes Beispiel: Es gab den Dreißigjährigen Krieg und Seuchen, es wurden alle Leute natürlich in Mitleidenschaft gezogen dadurch, aber die Reichen hatten schlicht und einfach mehr zu verlieren. Und das sehen wir gut dokumentiert in diesem Fall, dass nach dem Ende des Krieges und als die Seuchen abflauten, es gibt weniger Leute, aber unter diesen Überlebenden war gerade Vermögen weniger ungleich verteilt, als das zuvor der Fall war.

Herausforderungen für Heute

Albath: Wenn ich Ihnen jetzt zuhöre, Herr Scheidel, und darüber nachdenke, wie es um unsere zeitgenössische, moderne Gesellschaft bestellt ist, wie könnte man denn der ungleichen Verteilung von Besitz entgegenwirken heute, was heißt das für uns, was Sie in Ihrer Tour d`Horizon herausgefunden haben?
Scheidel: Sicherlich nicht nur Krieg oder Revolution oder Seuche oder Staatszusammenbruch, das wären etwas dramatische Mechanismen. Das heißt, die Herausforderung ist, Politik zu machen in einer Weise, die einen ähnlichen Effekt hat, ohne aber diese negativen Begleiterscheinungen. Und das ist sehr viel schwieriger, als sich das anhört, weil heute wird oft darauf verwiesen, dass vor 50 Jahren Gesellschaften gleicher waren, als das heute der Fall ist.
Das beruht in großem Umfang auf den Umwälzungen, die sich ergeben haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und diese Effekte jetzt zu replizieren, ohne gewaltsamen Eingriff, das ist wirklich sehr schwierig. Insofern müssten wir uns überlegen, welche neuartigen Modelle verfügbar sind in der heutigen Zeit, im Kontext der Globalisierung, der Automatisierung, der Alterung der Bevölkerung, alles Faktoren, die eigentlich einer höheren Ungleichheit Vorschub leisten, das macht es extra schwierig, sich dem entgegenzustellen.
Albath: Es gäbe ja die Mittel, die kennen wir ja auch, nämlich höhere Besteuerung von Einkommen oder höhere Erbschaftssteuern oder sogar das Verbot, etwas zu vererben, oder den Grundbesitz zu versteuern. Wenn Sie das aus der Warte des Historikers beurteilen, warum ist das so schwer durchsetzbar?
Scheidel: Wir haben lange Listen, wie gesagt, das alles würde funktionieren, auch die Gewerkschaften weiter zu stärken, alle diese Dinge verringern die Ungleichheit empirisch gesehen. Nur finden diese ganzen Maßnahmen ja in einem breiteren Kontext statt. Wenn Sie eine globalisierte Welt haben, wo Kapital sehr mobil ist, wird es schwieriger, solche Politik in einzelnen Ländern durchzusetzen. Insofern hat sich die Welt schon stark gewandelt gegenüber Verhältnissen noch vor ein oder zwei Generationen.
Albath: Herzlichen Dank, Walter Scheidel! Wir sprachen über sein Buch "Nach dem Krieg sind alle gleich – eine Geschichte der Ungleichheit", erschienen bei Theiss, 688 Seiten für 38 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Walter Scheidel: "Nach dem Krieg sind alle gleich. Eine Geschichte der Ungleichheit"
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer-Lippert
Theiss-Verlag, Stuttgart 2018
688 Seiten, 38 Euro

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