Serbien wählt Vucic
In der serbischen Bevölkerung gibt es viele Sympathien für Russland. © Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Zwischen Moskau und Brüssel
26:00 Minuten

Serbien will der EU beitreten, pflegt aber gleichzeitig freundschaftliche Beziehungen zum „großen Bruder“ Russland. Der am Sonntag wiedergewählte Präsident Aleksandar Vučić weigert sich, Sanktionen gegen Moskau mitzutragen.
Vor der russischen Botschaft in Belgrad. Eine Menschentraube hat sich vor dem Zaun versammelt. Sie schwingen serbische und russische Fahnen und halten Plakate mit orthodoxen Heiligen hoch. Einige Männer tragen das „Z“ auf der Brust oder dem Arm, das Symbol für Russlands Angriffskrieg in der Ukraine.
„Serben, Russen. Brüder für immer“, rufen sie. Und: „Fuck, Fuck Nato-Pakt!“
Der Mann, der die Demonstranten anführt, trägt kurzgeschorene Haare, weiße Adidas-Turnschuhe und Lederjacke: Damnjan Knežević, 33, ein ehemaliger Basketballspieler, der eine ultrarechte serbische Organisation namens „Volkspatrouillen“ gegründet hat. Sie sind gegen die „Überfremdung“ durch Einwanderung, die Corona-Impfung und den EU-Beitritt. Russland ist in ihren Augen kein Aggressor, sondern die Nato, die Serbien vor 23 Jahren bombardiert hat.
Um 19 Uhr parkt Damnjan einen alten Fiat Panda am Straßenrand. Er lehnt eine Leiter an und steigt auf die Holzpalette am Dach:
„Ich werde mich nicht bei euch bedanken, dass ihr heute Abend gekommen seid. Es ist unsere Verpflichtung. Wir sind heute hier versammelt, um jenen Menschen zu danken, die in den 90er-Jahren unser Land beschützt haben. Die meiner Generation eine durchschnittliche Kindheit ermöglichten. Brüder und Väter – wir danken euch!“
Für Russland, gegen Sanktionen
Werktags seilt sich Knežević von Belgrads Hochhäusern ab und putzt die Glasfassaden. Er arbeitet als industrieller Alpinist. An einem Schreibtisch zu arbeiten, das sei nicht so sein Ding, lacht er. In der Vergangenheit wäre er am liebsten als Rettungshelfer im Donbass im Einsatz gewesen, auf Seite der pro-russischen Separatisten.
„2014 wollte ich in die Ukraine gehen. In den Donbass. Ich wollte als Rettungshelfer dorthin, aber natürlich wären Menschen wie ich auch am Schlachtfeld gewesen. Doch Serbien hat ein Gesetz verabschiedet, das Freiwillige, die sich einer Fremdenlegion in einem Krieg anschließen, strafrechtlich verfolgt. Viele meiner Freunde gingen in den Donbass. Als sie zurückkehrten, hatte das Konsequenzen für sie.“
Serbien, ein Balkanland mit rund sieben Millionen Einwohnern, ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat. Doch obwohl die EU den mit Abstand wichtigsten Handels- und Investitionspartner Serbiens stellt, ist ein Großteil der Bevölkerung pro-russisch eingestellt. Laut einer aktuellen Umfrage des Think-Tanks „European Council on Foreign Relations“ bezeichnet die Mehrheit der Bevölkerung Russland als wichtigsten Alliierten, der die Werte und Interessen Serbiens vertrete.
Die EU steht, hinter China und der Türkei, mit nur elf Prozent auf Platz vier. Regierungsnahe Boulevardmedien verherrlichen Putin und kritisieren die USA. Serbien ist das einzige Land in Europa, das keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Wenn es nach Damnjan geht, soll das auch so bleiben:
„Wir haben es bereits am 4. März angekündigt. Wenn Vučić Sanktionen verhängt, dann zünden wir Belgrad an. Wir wollen nicht, dass das passiert. Wir werden es niemals zulassen. Niemand, der Vučić wählt, will das. Jene, die Sanktionen wollen, sind ein statistischer Fehler. Die Unterstützer des Selenskyj-Regimes bekommen nicht einmal 100 Teilnehmer für ihre Proteste zusammen.“
Ablehnung der NATO
Damnjan war zehn Jahre alt, als die Nato Serbien bombardierte – eine Reaktion auf die an Kosovo-Albanern verübten Massaker. Die 2008 proklamierte Unabhängigkeit des Kosovo hat Serbien nie anerkannt. Russland, eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, blockiert die Staatswerdung des kleinen Landes. Das ist eine Erklärung, warum Moskau in Belgrad Sympathien genießt.
Die zweite Erklärung sind die Nato-Bombardements von 1999, die vor 23 Jahren den Krieg im Kosovo beendeten und in die Unabhängigkeit des mehrheitlich von Albanern bewohnten kleinen Landes mündeten.
„Ich und meine Generation wissen, was uns die NATO angetan hat. Dieses ganze System, das von der Europäischen Union und den USA geschaffen wurde, hat dazu beigetragen, dass junge Menschen in Serbien sie heute als Feinde betrachten.”

In die Eisenbahnbrücke von Grdelica, 300 Kilometer südlich von Belgrad, schlugen 1999 NATO-Bomben ein.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
In Grdelica, 300 Kilometer südlich von Belgrad, spannt sich eine Eisenbahnbrücke über einen Fluss. Vladimir, 72, kann von seinem kleinen Garten dorthin blicken. Er sitzt auf einer Bank, ein Mann mit Halbglatze, Jogginghose und Hauspantoffeln, vor ihm ein Glas selbst gebrannter Rakia, Serbiens berühmter Obstbrand.
“Ich bin 1950 geboren. Heute bin ich im Ruhestand und betreibe Landwirtschaft“, erzählt er. „Ich baue Obst an. Dort oben im Dorf habe ich mehrere Obstgärten: Äpfel, Birnen, Pflaumen. Ich brenne ein bisschen Rakia. Ich habe immer etwas zu tun. Ich habe auch mehrere Haselnussbäume. Ich ernte die Früchte, ich besprühe die Bäume. Das ist, was ich mache.”
Auch in Serbien waren Zivilisten Opfer
Ein Tag vor 23 Jahren hat Vladimirs Leben für immer verändert. Am Vormittag des 12. April 1999 schlugen Nato-Raketen in die Brücke ein. Laut Human Rights Watch kamen 20 Menschen ums Leben. Die genaue Anzahl der Opfer ist bis heute umstritten. Vladimirs Haus wurde komplett zerstört.
“An jenem Tag gab es keinen Bombenalarm und deswegen sagten wir: ‘Lass uns zum Dorf an der Brücke runtergehen.’ In dem Moment, als der Zug bombardiert wurde, war ich hier in meinem Haus, im Erdgeschoss. Zuerst war da diese vollkommene Stille. Wie ein Vakuum. Dann kam die Explosion. Die Türen und die Fenster – alles wurde zerstört.”
Heute hat Vladimir sein Haus wiederaufgebaut. Der gelernte Elektrotechniker hat jahrelang auf dem Bau in Westeuropa gearbeitet. Mit dem Geld aus der Schweiz hat er sich einen Opel Corsa gekauft. Aus Österreich bezieht er eine monatliche Rente von 70 Euro. Wie so viele Rentner in Serbien kommt er nur schwer über die Runden.
Anders als Damnjan in Belgrad hat sich Vladimir nicht zum glühenden Putin-Fan entwickelt. Aber er stellt eine Frage, die viele Serben umtreibt:
“Das mag ja alles seine Berechtigung gehabt haben. Aber es war nicht in Ordnung, dass unschuldige Menschen gestorben sind. Wenn sie eine militärische Einrichtung bombardiert hätten oder irgendetwas anderes, zum Beispiel die Armee. Aber sie wussten, dass sie im Zug Zivilisten treffen.”
Fehlende Geschichtsaufarbeitung
Die Frage, warum der Westen 1999 im Kosovo intervenierte, stellen in Serbien nur wenige. Die Aufarbeitung der serbischen Kriegsverbrechen gehört zu den größten politischen Herausforderungen für Präsident Vučić auf dem Weg in die EU.
Folgt man der Bahnstrecke weiter südlich, wird die Landschaft gebirgiger. Bald ragen die weißen Minarette von Moscheen in den Himmel. Hier, im Presevo-Tal, am Dreiländereck zwischen Kosovo, Serbien und Nordmazedonien, lebt die albanische Minderheit des Landes.
In einem Café gegenüber der Moschee sitzt Shaha, 28, eine Studentin, die ihren Master an einer türkischen Universität absolviert. Nach Belgrad zu gehen, war für sie keine Option.
„Viele Menschen ziehen nach Europa. Sie müssen studieren, sich irgendwo niederlassen, ihre Familien ernähren und ihre Karrieren fortsetzen“, sagt sie. „Es gibt hier viele kluge Studenten, die große Ambitionen haben. Warum sollten sie ihre Zeit an einem Ort verschwenden, an dem sie nicht einmal willkommen oder gewollt sind?“
Die albanische Minderheit blickt gen Kosovo
Shaha fühlt sich bis heute nicht zu Hause in Serbien. Vučić sei nicht ihr Präsident, sagt sie.
„Wenn man junge Leute in Presevo fragt, ob sie Teil des Kosovo sein wollen, dann würden sie definitiv Ja sagen. Wir fühlen uns dem Kosovo verbunden. Wir fahren dorthin zum Einkaufen und für unsere Ausbildung. Wir haben Familie dort. Uns verbindet etwas mit unseren albanischen Landsleuten im Kosovo.”

Ardita Sinani, die Bürgermeisterin von Presevo, beklagt sich über Diskriminierung durch die Regierung in Belgrad.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Im zweiten Stock des Rathauses, direkt im Zentrum, arbeitet Ardita Sinani, die Bürgermeisterin von Presevo. In der Vitrine ihres Büros steht eine kleine US-amerikanische Flagge, an der Wand eine gerahmte Urkunde eines Senators aus den Vereinigten Staaten.
„Wir haben viele Probleme. Neben soziökonomischen Schwierigkeiten erleben wir Diskriminierung durch die autoritäre Regierung in Belgrad. Wir werden nicht in die staatlichen Institutionen integriert“, so die Bürgermeisterin.
„All diese Probleme – das leise Verschwinden, die massive Migration, das Nicht-Akzeptieren unserer Diplome, das Verbot unserer nationalen Symbole und Flagge, die Einschränkung des Schulmaterials – all das zwingt unsere Jugend dazu, nach Europa auszuwandern.“
„Der letzte Moment, sich zu entscheiden“
Für die pro-russischen Proteste, die Damnjan in Belgrad organisiert, zeigt Sinani keinerlei Verständnis.
„Der Krieg in der Ukraine hat klargemacht: Serbien muss sich jetzt ganz klar positionieren, ob es pro-europäisch oder pro-russisch sein möchte. Es ist der letzte Moment für Serbien, um zu entscheiden, auf welcher Seite man stehen will.“
Sonntagmorgen: Gottesdienst in der Kathedrale von Niš, eine der größten, orthodoxen Kirchen Serbiens. Priester Dalibor, 35 – langer Bart, schwarze Kutte – führt durch den Garten und in das Gemeindezentrum. Der junge Mann strahlt Ruhe aus, spricht mit sanfter Stimme:
„Nach dem Ende des Kommunismus kehrten viele Menschen auf dem Balkan in die Kirche zurück. Das hatte auch mit dem aufkeimenden Nationalismus zu tun. Serben gingen in die orthodoxe Kirche, Kroaten in die katholische und Albaner in die Moschee. Da ging es mehr um ethnische Fragen als um den Glauben selbst.“
Über Politik will der Priester nicht sprechen. Aber seine Botschaft ist klar:
„Auf dem Balkan glauben viele Menschen, dass ein einziger Politiker oder Politik im Allgemeinen alles verändern kann. Das ist nicht so. Wir müssen uns verändern: Unsere Beziehungen zueinander, zu den Nachbarstaaten, zu ihren Kulturen, der Natur. Nur so können wir besser werden. Wenn du die Welt verändern willst, dann musst du dich verändern.“