Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus

Wie Kleinstparteien um jede Stimme kämpfen

09:00 Minuten
Blick auf zahlreiche Hochhäuser in Berlin.
Wohnungsknappheit und bezahlbare Mieten: Mit diesem Thema versuchen fast alle Parteien bei der Wahl in Berlin zu punkten. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Patrick Pleul
Von Daniela Siebert · 13.09.2021
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Zur Wahl für das Berliner Abgeordnetenhaus treten zahlreiche frisch gegründete Kleinstparteien an. Wegen der Pandemie wurde die Zulassung neuer Parteien zur Wahl erleichtert. Manche von ihnen haben gerade mal 50 Mitglieder.
Ein Lkw parkt quer auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Die Ladefläche ist die Bühne. Auf ihr spielt die Band Currao. An diesem Spätsommertag flanieren vor allem Touristen vorbei. "Wir freuen uns, es ist eine große Ehre. Wir spielen für die einzige Partei in Berlin, die für korrekte Bildung antritt. Das ist 'Bildet Berlin'. Nehmt Euch die Wahlprogramme!"

Ein paar Unterstützer jubeln

Auf der Bühne übernimmt jetzt Tamara Adamzik das Mikrofon, die stellvertretende Parteivorsitzende von "Bildet Berlin!", Listenplatz 2: "Wir wollen gemeinsam - wo sind sie denn, unsere Mitglieder? Mal die Hand heben! Wir wollen hier die Bildung auf Platz 1 in Berlin bringen. Schaffen wir das?"
Ein paar Unterstützer jubeln, doch die zufälligen Passanten können kaum erkennen, dass hier eine neue kleine Partei um den Einzug ins Abgeordnetenhaus kämpft.
Erst als Florian Bublys das Mikrofon übernimmt, werden die Botschaften eindeutiger. Der Gymnasiallehrer für Politik ist ebenfalls Spitzenkandidat und Vorsitzender der Partei:
"Wir verstehen Bildung als Bindung und Betreuung. Wir brauchen an den Kitas mehr Zeit für Betreuung, wir brauchen in der Schule, mehr Zeit für Bildung, wir brauchen einfach mehr pädagogisches Personal."

Kugelschreiber, Süßigkeiten, Handzettel

Ausgebildete Lehrkräfte statt Quereinsteiger, Verbeamtung aller Berliner Lehrkräfte, weniger Unterrichtsausfall, bessere Bezahlung für Erzieher - so lauten einige der Forderungen.
"Wir würden natürlich, wenn wir ins Abgeordnetenhaus einziehen, durchaus als Koalitionspartner zur Verfügung stehen, außer natürlich für die AfD", so Florian Bublys weiter.
Die Partei kommt derzeit gerade mal auf rund 50 Mitglieder. Eine Handvoll von ihnen verteilt jetzt vor der Lkw-Bühne gelbe Kugelschreiber mit Partei-Design und Süßigkeiten für Kinder. Außerdem einen Handzettel mit der Aufforderung, ihnen bei der Wahl die Zweitstimme zu geben.

Eine Initiative von Lehrkräften und Eltern

Allerdings sind die meisten Menschen hier vor dem Brandenburger Tor gar nicht wahlberechtigt. Das einheimische Wahlvolk trifft man eher woanders. Immerhin: Ein Berliner Rikschafahrer interessiert sich sehr für die Bildungsanliegen der Partei:
"Ich habe eine 12-jährige Tochter, die auf eine Schule geht, wo einiges im Argen liegt. Ich glaube 700, 800 Lehrer fehlen hier in der Stadt. Ick werd' mir das Programm noch mal durchlesen, wenn sie eins haben. Und dann werde ich da mein Kreuz machen."
Die Partei "Bildet Berlin!" ist noch blutjung. Sie ist erst Anfang des Jahres aus dem gleichnamigen Verein hervorgegangen, den es schon seit rund zehn Jahren gibt. Darin engagieren sich vor allem Lehrkräfte und Eltern.

Kampf um Aufmerksamkeit

Wahlkampf auf der Straße und über die sozialen Medien, dazu persönliche Gespräche - viel mehr Möglichkeiten hat die Kleinpartei mangels personeller und finanzieller Ressourcen nicht. "Aufmerksamkeit zu finden ist natürlich schwierig", sagt der Vorsitzende Florian Bublys.
"Aufmerksamkeit erhofft man sich natürlich auch durch Berichterstattung über eine solche Veranstaltung", so Bublys. "Wir haben aber auch ein ganz schickes Logo entwickelt, was in den sozialen Netzwerken tatsächlich gut ankommt. Also, wir setzen an ausgewählten Stellen eben Schwerpunkte. Dass wir aber nicht über die Mittel verfügen, wie die großen Parteien, ist durchaus ein Nachteil für kleine Parteien."

Deutlich mehr Parteien stehen zur Wahl

Gut ankommen, das ist relativ. Auf Twitter hat die Partei nicht mal 1000 Follower. An diesem Tag am Brandenburger Tor verweilt eine ältere Berlinerin lange vor der Bühne und hört aufmerksam zu. Kein Zufall, wie die Nachfrage zeigt, weil sie Enkelkinder hat und ihr Schwiegersohn in der Partei aktiv ist.
Auf der Ladefläche eines Lastwagens stehen ein Mann und eine Frau am Mikrofon.
Sie machen mobil für bessere Bildung: Eltern und Lehrkräfte engagieren sich bei der Kleinpartei "Bildet Berlin!".© Deutschlandradio / Daniela Siebert
Aber ob sie ihr Kreuz hier machen wird, ist noch offen: "Ich überlege es mir. Es ist ja immer die Schwierigkeit bei so kleinen Parteien, da muss man schon abwägen, ob das - in Anführungsstrichen - eine verlorene Stimme ist oder nicht."
Selbst im eigenen Sympathisantenumfeld haben es Kleinparteien also schwer. Insgesamt nehmen an den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 34 Parteien teil. Das sind deutlich mehr als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren, bei der nur 21 Parteien antraten.

Fünf-Prozent-Hürde bleibt

Die Landeswahlleitung hat wegen der erschwerten Umstände durch die Pandemiebedingungen die Zahl der Unterstützerunterschriften deutlich reduziert, die Parteien für ihre Kandidatur vorlegen müssen, wenn sie aktuell noch nicht im Abgeordnetenhaus vertreten sind.
Doch die größte Herausforderung bleibt: die Fünf-Prozent-Hürde. Auch ein weiterer Neuling unter den Berliner Kleinparteien steht jetzt vor dieser Aufgabe - die Mieterpartei:
"Ich bin die Nicole Lindner, mein Listenplatz ist der Platz 6, und eigentlich bin ich ehrenamtliche Aktivistin im Dauerberuf." Nicht zuletzt kämpft Lindner gegen Obdachlosigkeit. Die Frührentnerin tritt in ihrem Wahlkreis gegen die amtierende Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei an.

Mit Arbeit im Stadtparlament mehr bewegen

Auf die ist sie nicht gut zu sprechen: "Sie hält nicht das, was sie versprochen hat. Von einer linken Senatorin, die sich ganz besonders für Menschen ohne eigenes Zuhause einsetzt, erwarte ich ganz einfach, dass sie bei Obdachlosen, die im letzten Jahr ein leer stehendes Haus beschlagnahmt haben, sich sofort für diese Menschen einsetzt. Sie hätte sagen müssen: gerade in der Corona-Zeit sollen die da drin bleiben."
Generell sind Lindner und ihre Parteifreunde von der Wohnungs- und Mietenpolitik der regierenden Berliner Parteien - SPD, Linke und Grüne - enttäuscht. Die Spitzenkandidatin der Mieterpartei heißt Sabine Scheffer. Sie ist eine Journalistin aus Hessen, die seit zwölf Jahren in Berlin lebt.
"Die Initiativen in Berlin sind sehr stark, sehr kräftig, und haben unglaublich viel Energie", sagt Scheffer, "aber ab einem bestimmten Punkt ist es dann einfach nötig, im Parlament zu arbeiten."

Hoffen auf Stimmen der Enttäuschten

Steigende Mietpreise, zu wenige Mietwohnungen, zunehmende Umwandlung in Eigentumswohnungen, das Scheitern des Mietendeckels - das sind in diesem Jahr die Wahlkampfthemen fast aller Parteien, die zur Abgeordnetenhauswahl antreten.
Wut und Machtlosigkeit angesichts dieser ungelösten Probleme könnten auch andere Berliner und Berlinerinnen motivieren, ihnen die Stimme zu geben, hoffen die Vertreterinnen der Mieterpartei.
Allerdings haben sie für den Wahlkampf nur minimale Mittel zur Verfügung. Denn Geld bekommt die Kleinpartei derzeit nur von ihren knapp 50 Mitgliedern. Für Geld aus der Staatskasse muss die Partei bei der Abgeordnetenhauswahl mindestens ein Prozent der Stimmen bekommen. So bestimmt es das Parteiengesetz. Hinzu kommen dann auch 45 Cent für jeden Euro, der über Spenden und Mitgliedsbeiträge in die Parteikasse kam.

Wenig Geld für den Wahlkampf

Allerdings könne eine Kleinpartei selbst beim Überspringen dieser Ein-Prozent-Hürde, nicht unbedingt mit großen Summen rechnen, sagt der Politologe Professor Oskar Niedermayer:
"Das richtet sich dann nach den Stimmen, die sie erhalten hat, und es richtet sich vor allen Dingen - und das ist das Problematische gerade bei neuen kleinen Parteien -, es richtet sich auch nach den Eigeneinnahmen, die die Parteien haben. Staatliche Finanzierung darf nur allerhöchstens bis zu 50 Prozent der Gesamteinnahmen einer Partei ausmachen."
Etliche Mitglieder der Mieterpartei seien aber vom ohnehin schon geringen Jahresbeitrag in Höhe von 18 Euro befreit, weil sie sich den nicht leisten können, so Nicole Lindner. Und Spenden bekomme die kleine Partei bislang auch nur minimal.
Dass kaum Geld für teures Material und Design da ist, sieht man den Wahlplakaten und der Internetseite der Mieterpartei an. Spitzenkandidatin Scheffer sagt: "Andere Parteien hängen eben mal so 10.000 Plakate. Aber 10.000 Plakate haben wir natürlich längst nicht. Wenn wir hundert hängen können, dann haben wir schon viel erreicht."

Wandelnde Litfaßsäulen

Wahlkampf nachmittags vor dem S-Bahnhof Prenzlauer Allee. Nicole Lindner und Sabine Scheffer haben ihre Körper zu wandelnden Litfaßsäulen umfunktioniert und sich Wahlplakate umgehängt. Einer der Slogans darauf: "Die Miete muss zur Rente passen".
"Darf ich Euch einen Flyer mitgeben? Weil es einfach wichtig ist, dass uns nicht alle Kulturräume weggenommen werden, oder dass die Mieten nicht steigen."
Eine grauhaarige Dame mit schwerfälligem Schritt kommt vorbei. Sie stimmt den Wahlkämpfern zu: "Kultur und Freiflächen erhalten, statt überall Bürotürme hinzuzimmern, die bloß leer sind und bloß Kapitalanlagen sind. Und nochmal ein Loft und so eine Scheiße. Ick krieg' echt 'nen Hals, weil ick Enkelkinder hab, die wollen auch mal vernünftig wohnen."
Trotz der Übereinstimmung will die Frau die Grünen wählen und nicht die Mieterpartei.
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