Von Tür zu Tür in Berlin-Kreuzberg

Parteien entdecken Zuwanderer als Wähler

08:35 Minuten
Hochhaus am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg.
Zuwanderer auch in Kreuzberg fühlen sich von den Parteien nicht vertreten. Kandidaten probieren trotzdem, sie auf die Wahlen anzusprechen. © picture alliance / Bildagentur-online / Schoening
Von Luise Sammann · 30.08.2021
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Bei Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte liegt die Wahlbeteiligung weit unter dem Durchschnitt. Sie fühlen sich von den Parteien nicht angesprochen. Das soll sich ändern. Parteien und Initiativen werden erfinderisch, um Zuwanderer anzusprechen.
Andreas Audretsch, Bundestagskandidat der Grünen und Andre Schulze, Vize-Fraktionsvorsitzender der Grünen in Berlin-Neukölln haben es an diesem Nachmittag nicht leicht. Viele der überwiegend arabisch- und türkischstämmigen Passanten nehmen die beiden jungen Männer in Jeans und Sakko nicht wahr – trotz des zum grünen Wahlkampfmobil umgebauten Lastenfahrrads.

"Ihr wollt nur Scheiß-Fahrradwege"

Zwischen Halal-Schlachter und Falafel-Imbiss verteilen die beiden Flyer. Die meisten davon landen im nächsten Mülleimer. Ein Taxifahrer schimpft: "Ihr Grüne wollt nur Scheiß-Fahrradwege machen. Das ist zum Kotzen."
Audretsch gibt sein Bestes. Er will die Anzahl der Autos in der Stadt reduzieren und argumentiert vergebens. Der Taxifahrer bleibt wütend: "Ihr müsst nur die Fahrräder weniger machen in Berlin. Weißt du wie die fahren? Die fahren wie verrückt, die Fahrradfahrer."

Der Taxifahrer zieht kopfschüttelnd weiter. Die Wahlkämpfer lächeln unbeirrt. Schließlich stehen sie ganz bewusst immer wieder auch an Orten wie der Neuköllner Karl-Marx-Straße, sagt Schulze. "Wir versuchen, gezielt auf Vereine, Moscheegemeinden oder migrantische Selbstorganisationen zuzugehen und mit denen ins Gespräch zu kommen."

Wahlkampf auf Kurdisch, Türkisch und Arabisch

Auch die anderen Parteien, die dieser Tage in Berlin Neukölln um Stimmen werben, geben sich sichtlich Mühe. Die Linke wirbt entlang der nahe gelegenen Sonnenallee auf Kurdisch, Türkisch und Arabisch für bezahlbare Wohnungen, Kitaplätze und faire Löhne.

Und bei der SPD haben viele Kandidatinnen und Kandidaten, die von Plakaten an Laternenpfählen lächeln, erkennbar selbst eine Zuwanderungsgeschichte. Ihr Potenzial in Bezirken wie Neukölln gewählt zu werden, ist womöglich noch zu großen Teilen unausgeschöpft, meint Achim Goerres. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen. "Deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund haben eine geringere Wahlbeteiligung, als Menschen ohne Migrationshintergrund."
In einer Untersuchung zur Bundestagswahl 2017 kamen seine Kollegen und er zu dem Schluss, dass die Wahlbeteiligung von Deutschtürken etwa zehn Prozent, die von Russlanddeutschen gar fast 20 Prozent unter der allgemeinen Wahlbeteiligung lag.

Wähler mit Migrationshintergrund

"Es gibt Bemühungen der Parteien, sich für Wähler mit Migrationshintergrund zu engagieren. CDU und AFD haben beispielsweise große Netzwerke gegründet, um Russlanddeutsche anzusprechen. Bei den Deutschtürken gibt es keine Netzwerke. Die SPD versucht aber durch einzelne Politiker, diese Gruppe mitzunehmen oder für sich zu halten."
Insgesamt allerdings seien die Bemühungen der Parteien noch nicht besonders ausgeprägt, so Goerres. Zu gering sei wohl die Hoffnung auf wahlentscheidende Erfolge.
Umso mehr Relevanz gewinnt das Thema dafür bei Initiativen und Vereinen von Menschen, die selbst eine Zuwanderungsgeschichte haben. Mit der mehrsprachigen Kampagne "Meine Stimme zählt" ruft der Zentralrat der Muslime die rund zwei Millionen stimmberechtigten muslimischen Bürger dazu auf, im "Superwahljahr 2021" zur Wahl zu gehen.

Mehrsprachige Wahlhilfe

Unter IchbinWalman.de – einem Wortspiel aus dem türkischen Alman und dem Wort Wahl – versucht auch der Sozialaktivist Ali Can Menschen mit einer mehrsprachigen Wahlhilfe zum Wählen zu mobilisieren. Vorbild für sein Projekt ist der Wahl-o-mat, den die Bundeszentrale für Politische Bildung bisher allein auf Deutsch anbietet.
Mit der Social-Media-Kampagne "Ich wähle – du auch?" bemüht sich auch die Initiative German Dream um Zuwanderer und ihre Nachkommen. Gründerin Düzen Tekkal, die sich auch in der CDU engagiert, versteht sie als Einladung, aber auch als Aufforderung, "die Gesellschaft mitzugestalten".
In der Kampagne heißt es: "Es kommt immer so rüber, als wäre deutsche Politik nur für Deutsche, also ohne Migrationshintergrund. Und das wollen wir gern ändern. Also: Wählen gehen! Es gibt keine Ausrede mehr."

"Ihr gehört dazu!"

Eine wichtige Botschaft, die man – ob nun als Einladung oder als Aufforderung – kaum oft genug wiederholen kann, glaubt auch Thomas Schimmel, der sich an der Hochschule Meißen mit dem Verhältnis von Staat und Minderheiten beschäftigt:
"Es ist wichtig, dass man sich ihnen zuwendet und sagt: 'Ihr gehört dazu, auch in eurer Andersartigkeit, mit eurer Sprache, eurer Religion, euren Festen. Und wir wünschen auch, dass ihr euch beteiligt an dem, was in unserer Gesellschaft passiert.'"
Solche Überzeugungsarbeit brauche allerdings vor allem das persönliche Gespräch, so Thomas Schimmel. Er hat über mehrere Jahre hinweg Dialogveranstaltungen zwischen Politik und Gläubigen in Berliner Moscheen begleitet. Auch in diesen Tagen finden solche Veranstaltungen wieder statt.

An Hunderten Türen geklingelt

"Ich glaube nicht, dass sich jemand von einem Youtube-Film überzeugen lässt", meint Schimmel. "Ich glaube, dass persönliche Ansprache nötig ist, dass wir in die Moscheen gehen, auch in die anderen Einrichtungen, in denen Migranten sich aufhalten. Das sind ja nicht nur die Moscheen, das sind Kulturvereine, Sportvereine, all diese Dinge. Da muss man hingehen."
Elif Eralp, Abgeordnetenhaus-Kandidatin für die Linke in Berlin-Kreuzberg, geht noch einen Schritt weiter. Sie setzt auf Haustürwahlkampf. Sie steht vor einem Block heruntergekommener Hochhäuser in der Nähe des Kottbusser Tor in Berlin. Hier liege der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund bei weit über 50 Prozent, so die Juristin.
Die Beteiligung bei den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus betrug 38,2 Prozent. Viel Potenzial für eine Partei wie die LINKE, die vor allem mit Mietendeckel und Chancengleichheit wirbt. An Hunderten Türen hat Elif Eralp in den letzten Wochen bereits persönlich geklingelt.

Die Leute sind überrascht

Sie erzählt: "Die Leute sind überrascht, dass jemand, der selbst kandidiert vor ihrer Tür steht. Ich glaube, es haben sich einfach noch nicht so viele Menschen mit ihnen befasst, mit ihnen gesprochen und sich die Probleme angehört."
Besonders ihr eigener türkisch-kurdischer Hintergrund sorge dafür, dass Menschen sie oft gleich zum Tee hereinbitten. Auch, wenn die 40-Jährige mit ihrem Jurastudium nicht unbedingt dem Durchschnitt der Bewohner am Kottbusser Tor entspricht, es entsteht der Eindruck, da steht "eine von uns" und die mischt ganz oben mit. Das mache viele stolz und gebe ihnen das Gefühl, dass ihre eigene Stimme oder die ihrer Kinder durchaus gehört werden könnte in Deutschland, so Eralp.
"Und deswegen ist es für sie etwas ganz Besonderes. Es zeigt ihnen, dass es möglich ist. Der Weg ist schwer und steinig, aber es gibt Menschen, die das geschafft haben. Das ist ein Vorbild für unsere Kinder, es gibt uns positive Motivation."
Im besten Fall werden so aus langjährigen Nichtwählerinnen beim anstehenden Urnengang zum ersten Mal Wählerinnen und Wähler.
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