Wahl in Serbien

"Die Menschen sind nicht stabil"

Moderation: Susanne Burghardt · 13.03.2014
Am Sonntag wird in Serbien gewählt und mit ziemlicher Sicherheit wird Alexander Vucic mit seiner "Serbischen Fortschrittspartei" die Mehrheit bekommen. Vucic beschuldigt die bis 2012 regierende "Demokratischen Partei", an allen Problemen im Land verantwortlich zu sein. So einfach sei das nicht, sagt die Künstlerin Borka Pavicevic, die auch das "Zentrum für kulturelle Dekontamination" leitet.
Susanne Burghardt: Sie sind die Leiterin des vor 20 Jahren in Belgrad gegründeten "Zentrums für kulturelle Dekontamination" - wie ist denn dieses Zentrum überhaupt zu seinem eigenartigen Namen gekommen?
Borka Pavicevic: Dieser Name entstand aus der Kriegssituation. Eins der Probleme hierzulande besteht darin, dass der Krieg nie offiziell existiert hat. Deshalb haben wir zum Beispiel eins unserer Projekte "Nenne es Krieg" genannt. Weil hier nie jemand den Krieg erklärt hat und auch niemand ihn beendet hat. Serbien befand sich offiziell nie in diesem Krieg. Nach 1991 und teilweise auch schon davor gab es viele Anti-Kriegs-Aktivitäten - Gruppen von Leuten, die gegen diesen Krieg vorgehen wollten. Eine Organisation nannte sich "Belgrader Kreis" und bestand vor allem aus unabhängigen Intellektuellen, ungefähr 200 Menschen, die gegen die Regierungspolitik und gegen all diese nationalistischen Bewegungen waren. Wir trafen uns, veröffentlichten Schriften, machten Straßenperformances und so weiter. Bis einer von uns sagte, wir brauchen ein Kulturzentrum. Also fingen wir an, nach Räumen dafür zu suchen.
"Erst wird man zum Verräter, dann zum Kommunisten, dann zum Jugoslawen erklärt"
Burghardt: Als Sie das Zentrum gegründet haben 1994, war Milosevic gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die nationale Euphorie hier in Serbien war sehr groß. War dieses Zentrum damals nicht eine wahnsinnige Provokation?
Pavicevic: Es war Krieg, Vukovar wurde bombardiert. Auch in Bosnien herrschte der Krieg. Das wurde hier üblicherweise als "Krise" bezeichnet. Ich war von diesem Ausdruck schockiert. International nannte man das, was hier Krise hieß: Belagerung von Sarajewo. Die vier Jahre Belagerung von Sarajewo waren ein enormes Trauma für alle von uns, die wir Freunde dort hatten, Menschen kannten, war es so schrecklich. Es war, als ob man die Stadt mit einer Mauer umgeben hat wie ein Lager, um zu verhindern, dass die Menschen herauskommen und nach Belgrad gehen. Während dieser Jahre waren wir aber doch aktiv. Leute aus Zagreb, Freunde von überall kamen hierher und erzählten, was bei ihnen vorgeht, bei den Kämpfen in den Städten. Ich war immer überzeugt davon, dass Verbindungen und Kontakte helfen, wenn die Leute reisen und Bescheid wissen, dass dann diese absolute nationale Euphorie eingedämmt werden kann. Das wiederholt sich heute teilweise beim Thema Anti-Korruption. Damals ging es um die Nation. Aus dieser kritischen Position heraus entstand sehr gute Kunst. Denn das passt ganz gut zusammen. Die Reaktion war, dass es nahezu unmöglich war, das "Zentrum für kulturelle Dekontamination" beim Namen zu nennen. Wenn man die Zeitung aufschlug, konnte man lesen: Liv Ullmann war gestern Abend in Belgrad. Aber keiner schrieb, wo sie dort genau gewesen ist, nämlich bei uns. Das war ein Ort, an dem sich die Menschen trafen, die Ausstellung über Sarajewo von 1995 zum Beispiel mit dem Titel "Lebendiges Sarajewo", "The living Sarajewo", entstand auch so, dass alle, die etwas aus Sarajewo hatten, das hierher brachten. Durch unsere Freunde dort und Beziehungen nach Sarajewo bekamen wir Theaterposter, Informationen, und alles, was in Sarajewo geschah, bis hin zu Lebensmitteln. Die Ausstellung war für eine Woche geplant, dauerte dann aber zwei Monate, weil die Leute hierher kamen, um sich gegenseitig zu treffen. Sie wussten ja nicht, wer noch lebte und wer tot war. Die offizielle Reaktion bestand auch darin, das Ganze zu ignorieren. Bis heute ist das Kulturzentrum nicht als autonome Institution kultureller Menschenrechte anerkannt. Es ist ja nicht vom Staat gegründet worden. Wir haben es selbst erschaffen. Als Milosevic schwächer wurde nach der NATO-Intervention, als klar war, dass er scheitern würde, schritt die Polizei bei uns ein. Daran konnte man gut die gesellschaftliche Entwicklung sehen. Ich könnte das für die letzten 20 Jahre aufschreiben. Erst wird man zum Verräter, dann zum Kommunisten, dann zum Jugoslawen, dann zu was auch immer erklärt. In diesem Kreislauf erkennt man den Übergang des Krieges zur Enteignung vorherigen Eigentums.
Burghardt: Gab es in dieser Zeit Momente, in denen Sie darüber nachdachten, Ihre Arbeit nicht fortzusetzen?
Pavicevic: Nein. Das Prinzip eines Begegnungsraums für die Menschen birgt immer die Notwendigkeit des nächsten Tages. Ich habe also nie gedacht, dass wir aufhören sollten. Es sind einige sehr bedeutende Ergebnisse daraus hervorgegangen. Der Tonmeister wurde Komponist, der Fotograf bekam seine eigene Ausstellung. Die Leute wuchsen mit diesem Zentrum, besonders während der schwierigeren Momente denkt man, dass man anwesend sein muss, dass man etwas tun muss. Man hat eine gewisse Verantwortung für die Leute um einen herum.
"Es ist ein Erfolg, hier am Leben zu bleiben"
Burghardt: Wenn Sie jetzt auf diese 20 Jahre Ihrer Arbeit hier zurückblicken, könnten Sie sagen, worüber Sie am glücklichsten sind, wo Sie sagen, das war vielleicht einer meiner größten Erfolge in dieser Zeit?
Pavicevic: Man denkt darüber nicht in einer Kategorie wie Erfolg nach. Ja, es ist ein Erfolg. Es ist ein Erfolg, hier am Leben zu bleiben. Aber gleichzeitig gab es schöne Momente, die diese Arbeit erstrahlen lassen: Der Respekt zwischen den Menschen. Es gibt in gewisser Weise immer noch diese Gemeinschaft, wenn ich das so sagen kann. Es ist natürlich eine andere Zeit jetzt, aber wenn Leute sich beteiligen wollen, können sie das tun. Aber der Satz, den ich nicht ausstehen kann, lautet "Ich bin müde, ich bin enttäuscht". Wir waren sehr aktiv gegen den Krieg und gegen den Nationalismus. Aber es stellt sich nun auch die Frage, wie wir den enormen Klassenveränderungen, den sozialen Veränderungen in der letzten Zeit gegenüberstehen. Eine neue Art von Krieg in Ländern wir unserem ist auch der Übergang von ehemals sozialistischem Eigentum in Privatbesitz. Das sehen wir jetzt sehr deutlich.
Burghardt: Borka Pavicevic hier im Deutschlandradio Kultur, sie leitet seit 1994 das Belgrader "Zentrum für kulturelle Dekontamination". Frau Pavicevic, was sind die Themen, die Sie heute beschäftigen hier. Sie haben es gerade schon angesprochen, soziale Unterschiede und soziale Gräben. Was sind die anderen Themen, mit denen sich Ihr Zentrum derzeit beschäftigt.
Pavicevic: Wenn man ein Land in Territorien aufteilt, schafft man eine Diskontinuität der Zeit. Diese Zerstörung geht viel tiefer, als wir rein physisch wahrnehmen können. Und die physischen Folgen sind schon grauenvoll. Man kann nicht einfach ein Haus zerstören und am nächsten Tag behaupten, es wäre nichts passiert. Wir sind uns hier bis heute nicht bewusst über die Folgen dieses Krieges, was alle Lebensbereiche betrifft, Mütter, Väter, Familienstreitigkeiten, Scheidungen, die Menschen, die Belgrad verlassen haben. Wo sind denn unsere Freunde? In Berlin, in Amsterdam, in Neuseeland. Wo sind unsere Kinder? Es betrifft die gesamte Gesellschaft. Man erlebt hier allgemein eine Segmentierung, ja eine Fragmentierung des Denkens. Wir müssen auch schaffen, dass unser Denken sich erholt, wieder gesund wird. Ich glaube, Brecht hat gesagt, dass man nicht denken soll, dass die Dinge, so wie sie jetzt sind, für immer bleiben werden. Es gibt einige Dinge, die in unserer Welt konstant sind. Die Themensetzungen ändern sich, aber die Tatsache, dass es sich um einen Treffpunkt handelt, bleibt. Ebenso, wie der Bezug zur Realität. Und gerade jetzt ist es sehr wichtig, einen Bezug zum realen Leben zu haben, da sich ansonsten all unsere Parteien und Institutionen außerhalb der Realität bewegen. Diese Tatsache erzeugt diese potenzielle Gewalt. Die Menschen sind nicht stabil, sie sind unsicher, sie sind nicht geerdet. Allein an dieses Magma zwischen Vergangenheit und Zukunft zu denken, macht ihr Leben so unbeständig. So, wie das Land, das Territorium einfach so zerschnitten wurde, gibt es auch hier keine Logik mehr. Man kann anstellen, was man will. Man nennt das auch Nihilismus, ein Nihilismus des Nicht-Erinnerns, eine Art Blasphemie. Menschen, die sich zu Beginn des Krieges im Zentrum des Landes befanden, verlassen uns jetzt in andere Länder Europas. Die Frage Europas beschäftigt uns auch. Der Übergang, die Frage der Gerechtigkeit, des Rechts. Unsere Arbeit hat durchaus Konsequenzen, und natürlich gibt es auch Veränderungen.
"Vieles passiert auch als Folge der Schwäche der Demokraten"
Burghardt: Am 16. März wird gewählt in Serbien. Derzeit heißt es, dass die Fortschrittspartei SNS von Vucic 42 Prozent der Stimmen bekommen könnte. Was halten Sie von dieser Partei und von Ihrem Vorsitzenden?
Pavicevic: Wenn Sie sich die deutsche Entnazifizierung unter Konrad Adenauer ansehen und all das, was bis 1968 passierte, dann können Sie in Deutschland schon einen großen Teil von dem verstehen, was hier vorgeht. Vieles passiert auch als Folge der Schwäche der Demokraten. Die Legitimation eines realistischen Verhaltens dem Kosovo gegenüber und die europäische Integration sind heute die beiden Hauptthemen. Meine Hauptsorge besteht darin, dass man mit einer realistischen Politik beginnt. Okay, das machen wir, diese Art der Vereinigung. Der rechte Flügel möchte immer bestimmen, befehlen, die Ordnung durchsetzen. Die Linke sollte dafür für die nötige Bildung sorgen. Aber die Demokraten waren eben nicht genug gebildet. Und dann gibt es da noch die Befehlsstruktur, wenn die Leute gehorchen und die Obrigkeit respektieren. Ich mag diese Selbstzensur nicht, ebenso wenig wie die öffentliche Angst dieser willigen Bevölkerung. Ich möchte der Mehrheit weiterhin kritisch gegenüberstehen. Kreativität und Autorenschaft sind etwas, das jedes Land wieder hochreißen kann, auch dieses Land. Keine gezielte Bewegung, sondern die Möglichkeit, wieder zu sein. Ich sehe, dass die Euphorie wiederkommt.
Kassel: Vor den Wahlen in Serbien ein Gespräch mit der Leiterin des "Zentrums für kulturelle Dekontamination", Borka Pavicevic, geführt von meiner Kollegin Susanne Burghardt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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