W.S. Merwin: "Nach den Libellen"

Ein Großmeister des amerikanischen Gedichts

Buchcover W.S. Merwin: "Nach den Libellen"
"Nach den Libellen" - erstmals sind Gedichte von W.S. Merwin auch auf Deutsch zu lesen. © Hanser / picture alliance
Von Nico Bleutge · 09.04.2018
Er zählt wohl zu den größten Dichtern der USA, zweimal wurde er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, nun ist eine Auswahl aus den Werken von W.S. Merwin erstmals auf Deutsch erschienen: Eine Verschmelzung von Natur und Poesie.
An der Nordküste von Maui wird die Landschaft zu einer Welt aus Wasser und Bäumen. Hier hat sich der amerikanische Dichter W.S. Merwin seinen eigenen Lebensort gebaut. Wo die Zuckerrohrhügel zum Meer hin abfallen, machte er über viele Jahre hinweg aus einer alten Ananas-Plantage einen gewaltigen Palmengarten. Ein fast paradiesisch anmutendes Gelände, das nicht nur etwas über Merwins Vorliebe für die Erscheinungen der Natur verrät, sondern das auch in seine Gedichte eingewandert ist: "Der Geschmack von Ferne und an den alten Bäumen / deren Namen man nur vage erinnert raschelt leicht das Laub."

Innehalten und Lauschen

Wie bei Walt Whitman, dem Großmeister des amerikanischen Langgedichts, wird Dichtung hier noch einmal zum Gesang, der die Erscheinungen der Natur feiert. Für seinen Vater, einen presbyterianischen Pfarrer, habe er schon als kleines Kind Hymnen geschrieben, hat Merwin einmal erzählt. Wobei er den hymnischen Ton schnell hinter sich ließ. Von vielen seiner Verse geht eine fast meditative Ruhe aus. Innehalten und dann lauschen, "lauschen ohne zu hören und vielleicht dann / hören ohne zu hören", so beschreibt Merwin den Zustand, der ihm für das Schreiben und Lesen so wichtig ist.
Vermutlich verdankt sich der ruhige Ton seiner Gedichte Merwins Neigung zum Buddhismus. Als er Mitte der 70er-Jahre nach Hawaii geht, studiert er dort Zen und beschäftigt sich intensiv mit chinesischer Literatur.
Hans Jürgen Balmes, der auch Übersetzer des Bandes ist, hat in seiner Auswahl eine schöne Spur durch die mehr als 20 Gedichtbände gezogen, die all diese Einflüsse zeigt. Enthalten sind auch zwei, drei Beispiele von Merwins Vietnamkriegslyrik – sie gehören nicht zu den stärksten Gedichten. Stark aber sind die Übersetzungen. Balmes tastet genau dem Merwinschen Rhythmus nach, seinem Spiel mit Zeilensprüngen und der Geschwindigkeit der Verse.

Zwischen Stille und Verschwinden

Die Adern auf einem Libellenflügel interessieren Merwin dabei ebenso wie die großen Bewegungen der Zeit und vor allem der Erinnerung. Mit sich selbst nicht eins zu sein, in einem emphatischen Sinne, immer auf der Suche nach den eigenen Momenten der Stille und des Verschwindens – vielleicht ist es diese Struktur, die Merwin noch mit über 90 Jahren im Schreiben hält. Dazu gehört auch, der Natur eine Sprache zu schenken, die daran erinnert, wie gefährdet Pflanzen und Tiere sind, wenn sie nur noch als Material betrachtet werden.
So verbindet sich die innere Suchbewegung mit einer äußeren. Das sprechende Ich wird dabei oft zu einem Du, das sich selbst (und uns, den Lesern) die Welt voller Staunen noch einmal erzählt. Manchmal, ganz selten nur, hat Merwin einen Hang zu pathetischen Tönen oder zu Schlusspointen, die dieser Suchbewegung nicht immer gerecht werden. Umso größer ist unser Leseglück, wenn wir ihm in seine langen Zeilen folgen und erleben können, wie er etwa "Hölderlin am Fluss" begegnet. Merwin, der auch ein großer Übersetzer ist, holt immer wieder andere Stimmen und Rhythmen in seine Verse. Dass er aus all diesen Überlagerungen einen ganz eigenen Ton hervorzaubert, ist das kleine Wunder seiner Gedichte.

W.S. Merwin: Nach den Libellen
Gedichte. Zweisprachig
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes
Carl Hanser Verlag, München 2018
144 Seiten, 19 Euro

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