"Vor Sonnenaufgang"

Hauptmanns Durchbruch auf der Freien Bühne

Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann auf einer undatierten Aufnahme.
Gleich das erste Stück war ein Volltreffer: Gerhart Hauptmann. © picture alliance / dpa
Von Almut Finck · 20.10.2014
Die Theaterzuschauer am 20. Oktober 1889 staunten nicht schlecht: Sie hatten "Vor Sonnenaufgang" gesehen, ein modernes und zeitkritisches Stück. Der Autor: Gerhart Hauptmann. Er wurde berühmt mit seinem Bühnenerstling.
Berlin, Kurfürstendamm, die Weinstube im Kempinski. Ein Abend im März 1889. Zehn junge Herren planen Großes. Es sind Theaterkritiker und Journalisten, auch der Verleger Samuel Fischer sitzt mit in der Runde. Und der 21-jährige Theodor Wolff, Nachwuchsredakteur beim Berliner Tageblatt. Gerade ist Wolff aus Paris zurück. Er hat dort den Wirbel um das Theatre Libre miterlebt, eine experimentierfreudige Amateurbühne, die aufregende neue Stücke spielt, Stücke naturalistischer Autoren wie Hendrik Ibsen oder Émile Zola.
Wenig Spektakuläres bieten dagegen die Berliner Bühnen. Das Gros der Inszenierungen ist brav, sterbenslangweilig oder dumm. Billige Salonstückchen, alberne Possen, fade Klassiker. Die Herren im Kempinski sind angeödet, sie wollen eine Reform des verschlafenen Theaterbetriebs. Doch die bornierte preußische Theaterzensur verbietet alles, was nach Experiment und Moderne riecht. Vorstellungen privater Vereine sind von der Zensur allerdings ausgenommen. Also gründen die Herren einen Theaterverein, genannt: Freie Bühne.
"Frei von engstirniger Zensur, von hohler Deklamation auf der Bühne, von Geschäftsinteressen. Frei für ein Theater, das das Leben und wirkliche Menschen zeigt."
Es geht den Reformern um die naturgetreue Nachahmung menschlicher Erfahrung. Naturalismus, das heißt ja: Abschied von einer gekünstelten Bühnensprache, Einzug von Lebendigkeit und Lebensnähe, Behandlung sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus.
Eine dem Suff verfallene Bauernfamilie
Im September 1889 findet mit dem Drama "Gespenster" von Hendrik Ibsen die erste Aufführung der Freien Bühne statt. Die Kritik nennt das düstere Stück über eine scheinbar heile gutbürgerliche Ehe, die in Wahrheit auf Betrug und Heuchelei gründet, abscheulich und verdorben. Ein Skandal aber bleibt aus. Den gibt es vier Wochen später, am 20. Oktober 1889, als ein Werk des 27-jährigen, gerade erst von Samuel Fischer entdeckten Gerhart Hauptmann Premiere hat. "Vor Sonnenaufgang" heißt der mutige Bühnenerstling des späteren Nobelpreisträgers und handelt von einer zwar reich gewordenen, aber moralisch degenerierten und dem Suff verfallenen Bauernfamilie. Klassenkämpferische, antimilitaristische und antikirchliche Parolen sind auch enthalten. Hier ein Ausschnitt aus einer Inszenierung des Bochumer Schauspielhauses im Jahre 2012:
"Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf. Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Krieg zu belohnen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und der Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker auszunutzen."
Wüste Schimpftiraden
Seltsamerweise zeigt sich die Berliner Theaterkritik 1889 von derart aufwieglerischen Worten kaum irritiert. Die Szene einer Geburt, welche, obwohl angekündigt, gar nicht stattfindet, erregt die Gemüter weitaus mehr. Ein Arzt, der im Publikum sitzt, schmettert seine mitgebrachte Geburtszange auf die Bühne und brüllt: "Ja, sind wir denn hier im Bordell?"
Für die Gründer der Freien Bühne hätte es nicht besser laufen können. Je wüster die Schimpftiraden in den konservativen Berliner Blättern, desto stärker der Zulauf des Theatervereins, sehr zum Ärger etwa des Journalisten Isidor Landau:
"Die Freie Bühne bewährt sich immer mehr als sinnreiche Einrichtung, dem überfeinerten Großstädter die Sonntage angenehm durchzuekeln. Nachdem Ibsen mit Gehirnerweichung und Wahnsinn den Anfang machte, war heute Gerhart Hauptmann der Sonntagsprediger, behandelte den Säuferwahnsinn. Was wollen sie uns noch vorsetzen?"
Noch mehr Ibsen. Dann Tolstoi. Und Hauptmann. Ihm gelingt mit "Vor Sonnenaufgang" der Durchbruch. Und das naturalistische Drama erobert Deutschlands Bühnen. Woraufhin der Verein Freie Bühne 1894 aufgelöst wird. Mitbegründer Otto Brahm:
"Die Freie Bühne ist tot, haben die Gegner triumphierend gerufen. Wir aber antworteten guten Mutes: sie starb am Erfolg."
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