Vor 100 Jahren

Der Erste Weltkrieg beginnt

Eine große Menschenmenge nimmt zu Beginn des 1. Weltkrieges an einem Gottesdienst am Bismarckdenkmal in Berlin teil. (undatiertes Archivbild)
Eine große Menschenmenge nimmt zu Beginn des 1. Weltkrieges an einem Gottesdienst am Bismarckdenkmal in Berlin teil. © picture-alliance / dpa
Von Bernd Ulrich · 01.08.2014
Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg. In einer raschen Folge von Kriegserklärungen und Mobilmachungen weitete sich ab dem 1. August zum Weltkrieg, was gut einen Monat zuvor, am 28. Juni, mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo und dem lokalen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien begonnen hatte.
Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!/ Heil Kaiser, dir!
Die so genannte Kaiserhymne gehörte, neben der inoffiziellen Nationalhymne "Die Wacht am Rhein", zu den populärsten Liedern und Melodien vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 gaben sie die Begleitmusik für die allmähliche Verwandlung der deutschen und österreichischen Nationen in mehr oder weniger kampfbereite Kriegsgesellschaften. Zu spüren bekam dies auch der neunjährige Elias Canetti. Er wohnte, wie er es in seinem autobiographischen Bericht einer Jugend "Die gerettete Zunge" beschreibt, am 1. August 1914, eben erst mit seiner Mutter und den Geschwistern aus England zurückgekehrt, in Baden bei Wien einem Kurkonzert bei. Es wurde plötzlich unterbrochen, und der Kapellmeister verkündete:
"Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Die Kapelle stimmte die österreichische Kaiserhymne an, gefolgt von der deutschen Hymne ‚Heil dir im Siegerkranz'. Es war, was mir, mit anderen Worten, von England als ‚God save the King' vertraut war. Ich weiß nicht, ob es aus alter Gewohnheit war, vielleicht auch aus Trotz, ich sang, so laut ich konnte, die englischen Worte mit und meine kleinen Brüder, in ihrer Ahnungslosigkeit, taten mir's mit ihren dünnen Stimmchen nach."(Zitat Elias Canetti)
Die Reaktion des patriotisch gestimmten Publikums ließ nicht lange auf sich warten:
"Plötzlich sah ich wutverzerrte Gesichter um mich und Arme und Hände, die auf mich losschlugen. Selbst meine kleinen Brüder bekamen etwas von den Schlägen ab. Aber was mich viel mehr beeindruckte, waren die haßverzerrten Gesichter." (Zitat Elias Canetti)
Solche Ereignisse spielten sich vor allem in den ersten Augusttagen, da ab dem 1. August eine Kriegserklärung rasch der nächsten folgte, in allen beteiligten europäischen Hauptstädten ab, aber auch in kleineren Kommunen oder auf dem Land. Von der Einswerdung mit dem „Vaterlande" war in diesen Tagen viel die Rede.

"Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen: er konnte Held werden", so der zunächst kriegsbegeisterte Stefan Zweig im Rückblick.
Ganz so war es nicht immer, wie die Sozialpolitikerin und Pazifistin Anna Haag später zu berichten wusste. Sie besuchte, frisch verheiratet, Anfang August 1914 ihren "liebsten Menschen", den Mathematiker und Philosophen Albert Haag, in der Kaserne:
"Ach Gott, wie erbarmungswürdig sah er aus! Eine viel zu weite Uniform schlotterte um seine zarte Gestalt. Zwar waren seine Hosen hineingespitzt in ein paar Riesenstiefel. Etwas, das dem jungen Mann vermutlich ein martialisches, ein gefährliches, kriegerisches, ein heldisches Aussehen verleihen sollte. Was aber an ihm wie an vielen anderen äußerst komisch wirkte. Er sah aus wie eine Karikatur."
Doch – ob "Karikatur" oder nicht – die zumeist jungen Männer waren gemeinhin bereit zu kämpfen; und auch das Regiment von Albert Haag wurde kurz darauf im ersten Gefecht nahezu vollständig vernichtet.
Wie konnte es soweit kommen? Gewiss, eine Hauptverantwortung für die Herbeiführung des Krieges traf das deutsche Kaiserreich und die österreichische Doppelmonarchie.
Doch dem Hauptvertreter dieser These, dem Historiker Fritz Fischer, war auch klar, wie er 1975 in einem Rundfunkgespräch ausführte:
"Dass damals Krieg in der Luft lag, dass in allen Völkern stark nationalistische, wenn nicht sogar kriegerische Traditionen lebten, dass viele, wenn nicht alle zum Krieg bereit waren – das ist also eine allgemeine europäische Mentalität, die sich für den Beginn dieses Jahrhunderts nicht leugnen lässt."
Die zumindest unter den europäischen Bevölkerungen weit verbreitete Unkenntnis über die Dauer und das Ausmaß des industriellen Maschinenkrieges verband sich unheilvoll mit dem, was der Historiker Peter Graf Kielmannsegg kürzlich als "gemeineuropäischen Fatalismus" in der Politik und in den Generalstäben charakterisiert hat:
"Der Frieden war niemandem unter den Regierenden so viel wert, dass er einen wirklichen Preis für ihn zu zahlen bereit gewesen wäre. Jede Seite schob die Verantwortung für den Frieden der anderen zu. Sie sollte den Preis zahlen, und tat sie es nicht, dann musste eben Krieg sein."
Die Unfähigkeit zum Frieden kostete weltweit über neun Millionen Soldaten und über sieben Millionen Zivilisten das Leben.
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