Von Resonanz und Arroganz des "Westens"

Von Jürgen König |
"Endet das europäische Zeitalter?" Rundheraus bejahen oder auch verneinen mochte die Frage niemand, wenn auch keiner der Referenten den Sinn dieser Frage in Zweifel zog – was ja auch schon von einiger Aussagekraft war.
Es ist, wie es ist, meinte Wolfgang Reinhard von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Da es seit Karl dem Großen kein alleiniges europäisches Großreich gegeben habe, hätten sich die einzelnen Mächte - nach dem Rückzug der Chinesen als Großmacht im Indischen Ozean - geradezu gezwungen gesehen, auf Eroberungsreisen zu gehen.

Als die Kastilier eher zufällig als planmäßig 1492 über den Atlantik in eine andere Welt geraten waren, sahen sie sich technologisch, politisch und mental unterlegenen Steinzeitmenschen gegenüber, deren Unterwerfung zu den ersten riesigen Imperien in Übersee führte. In einem überaus komplizierten Langzeitprozess kam unter maßgebender Beteiligung der Briten infolge dieses gigantischen Zugewinns die vorübergehende welthistorische Überlegenheit Europas und dann seit dem späten 18.Jahrhundert die europäische Weltherrschaft in Asien und Afrika zustande. Der moderne Staat europäischen Ursprungs, die wirkungsvollste Organisation von Macht, die Menschen jemals erfunden haben, erreichte damals ihren Höhepunkt, dem die traditionellen Reiche im Rest der Welt einfach nicht mehr gewachsen waren.

Ja, die Europäer seien schuldig geworden, hätten gemordet und gestohlen, sich maßlos bereichert, aber eben neben Sklaverei, Ausbeutung und Kolonialismus auch das Denken der Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weltweit postuliert. Dass Europas Bedeutung im Weltgeschehen von heute abnehme, sage nichts darüber aus, dass europäisches Denken nicht nur während der letzten fünf Jahrhunderte sondern noch heute die gesamte Welt präge, führte der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg aus:

"Staat und Nation sind voraussetzungsreiche Hervorbringungen der europäischen Geschichte, sie sind sozusagen auf einen abstrakten Begriff gebrachte, in bestimmten Formen geronnene europäische Geschichte und nicht beliebig aus dieser Geschichte herauszulösen. Eine Welt, in der einerseits die politischen Kernpostulate der europäischen Aufklärung weltweit Resonanz gefunden, andererseits aber die faktischen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung keineswegs universalisiert haben, eine solche Welt ist von tektonischen Spannungen bestimmt. Ob es für diese Spannungen andere Lösungen, Auflösungen gibt als die, die Europa gefunden hat, ist eine der offenen Frage des 21. Jahrhunderts."

Zustimmung allenthalben; kein Nicht-Europäer im Saal; Kritik oder gar Protest aus postkolonialer Perspektive blieb aus. Den Begriff "Europa" weitete Jürgen Osterhammel von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aus zum Begriff des "Westens", der heute wie selbstverständlich benutzt werde, dabei sei er doch alles andere als eindeutig. Im Zweiten Weltkrieg entstanden, habe "der Westen" sich definiert gegenüber Russland, gegenüber dem Orient – mit gefährlicher Neigung zur Überheblichkeit:

"Der 'Westen' verlangt sein Gegenteil. Er grenzt sich von etwas anderem ab. Kein 'Westen' ohne einen 'Osten'. Das klingt trivial, aber ist es nicht bei Europa anders? Man kann über Europa endlos reden und schreiben, ohne sich im mindesten um Afrika oder Asien zu scheren. Der 'Westen' hingegen ist ein asymmetrischer Gegenbegriff, asymmetrisch, weil in dem Begriffskern die Vorstellung eigener Überlegenheit eingebaut ist. Der 'Nicht-Westen' wird stets als inferior gesehen; 'Westen' ist deshalb ein Begriff der Arroganz, wenn der Hochmut sauer wird, kippt er in Larmoyanz um, die andere Seite derselben Münze."

Doch auch die Rede vom "langsamen Niedergang" des "Westens" sei ein Klischee, fügt Jürgen Osterhammel hinzu, ein Klischee, das sich an alte Vorstellungen vom zyklischen Verlauf der Geschichte halte. Derlei Erosionen habe es gegeben, aber ebenso auch blitzartige Zusammenbrüche ganzer Zivilisationen und der Epochen, die sie prägten aufgrund von Epidemien, Naturkatastrophen, Revolutionen, Kriegen. Nichts von alledem aber sei vorherzusagen:

"Wir können kurz vor dem Ende des europäischen oder 'westlichen' Zeitalters stehen, ohne es zu wissen und ohne es zu ahnen."

Was aber könnte – gegebenenfalls – danach kommen?

Jürgen Osterhammel: "Es ist ein wenig einfältig, als selbstverständlich vorauszusetzen, dass immer irgendjemand die Welt beherrschen oder auch nur dominant prägen müsse. In Fortführung alter Lehren von der Abfolge der Weltreiche glauben viele Leute, auf ein europäisches Zeitalter – von einem amerikanischen ist auffällig selten die Rede – werde nunmehr zwangsläufig ein asiatisches folgen. Aber muss das so sein? Hat China, der im Moment einzige realistische Aufstiegskandidat, überhaupt die Absicht, eine außenpolitische und militärische Rolle der Weltführerschaft zu übernehmen? Will China seine Vorstellungen von richtiger Politik und einem guten Leben, sagen wir verkürzt, seine Ideen und Werte dem Rest der Welt aufdrängen oder gar aufzwingen? Sind wir auf dem Wege, alle Konfuzianer zu werden? Man darf daran zweifeln."

Wiederum Zustimmung im Saal, einzelne Kritikpunkte nur, doch in akademisch-kollegialer Manier vorgetragen. Kein "asiatisches Zeitalter" also, vielleicht auch kein "europäisches Zeitalter" mehr, vielleicht einfach: etwas Neues. Wolfgang Reinhard beschwört die Chancen, vor denen wir stehen:

"Durch ihre Aneignung des Englischen haben die anderen die Engländer ihrer Sprache enteignet. Genau das ist es, was mit dem kulturellen Erbe der europäischen Weltherrschaft auch sonst geschehen ist und weiter geschieht. Wir haben es den Anderen hinterlassen und sind dabei selbst enterbt worden, insofern wir außerhalb unserer eigenen Länder darüber nicht mehr verfügen können. Meine Damen und Herren, auch wir haben die Chance, uns das Erbe anderer Kulturen anzueignen und zwar in einem Ausmaß wie nie eine Kultur zuvor. Schließlich sind die Missionare der anderen Länder längst ausgeschwärmt, mitten unter uns - mit oder ohne Kopftuch. Meine Damen und Herren: Nutzen wir die Chance."
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