Von Manipulateuren und Massennmördern

Rezensiert von Roman Neumann · 20.05.2013
Dieser Studienband zur Konferenz von 1942, bei der die Nationalsozialisten die "Endlösung der Judenfrage in Europa" beschlossen, resümiert den Forschungsstand. Neu und wichtig sind vor allem zahlreiche Äußerungen Adolf Eichmanns nach seiner Flucht aus Deutschland.
Das Kernstück ist fraglos das Einleitungskapitel "Dokumente und Überlieferung", das überzeugt, wie es den historischen Kontext durchdringt. Es lohnt sich daher außerordentlich, seine vier Beiträge einer kurzen Analyse zu unterziehen.

Norbert Kampe, Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz", gibt einen Überblick über die Dokumente, die im Vorfeld, während der Wannsee-Konferenz sowie als erste Reaktionen auf sie von Belang sind.

Neu und wichtig sind vor allem zahlreiche Äußerungen Adolf Eichmanns nach seiner Flucht aus Deutschland. Auch heute noch schockiert die eiskalte "Kreativität" seiner bürokratischen Mordarbeit. Sie straft seine späteren Aussagen vor dem Jerusalemer Gericht lügen, er sei doch nur ein subalterner Vollzieher höherer Befehle gewesen.

Christian Mentel, Redakteur des Internet-Portals "Zeitgeschichte online", befasst sich eingehend mit jenen Geschichtsdarstellungen, die abwehrend auf die Protokolle der Wannsee-Konferenz reagierten, sie inhaltlich nicht akzeptieren wollten, als sie nach und nach bekannt wurden.

Adolf Eichmann brüstete sich als spiritus rector des Völkermordes
Unter dem bezeichnenden Titel "Eichmanns Erzählungen" eröffnet die Philosophin Bettine Stangneth Einblicke in dessen Gedankenwelt. Perfide passte er sein Reden dem jeweiligen Umfeld an. Hatte sich Eichmann noch in Argentinien im Kreise geflohener SS-Leute, der sogenannten "Sassen-Runde", gebrüstet, nach seinem Chef Reinhard Heydrich der eigentliche spiritus rector des Völkermordes an den Juden gewesen zu sein, so war er später vor Gericht bestrebt, seine Rolle herunterzuspielen, um der Todesstrafe zu entgegen.

"Bei Menschen, die das Manipulieren aus der Praxis eines Massenmordes vor aller Augen erlernt haben, ist wissenschaftliche Sorgfalt in der Quellenkritik allein nicht genug. Sie fordern das stetig bewusste Umgehen mit den Methoden des Denkens selbst. (...) Genau das ist allerdings auch ein guter Grund, Eichmanns Äußerungen nicht einfach komplett zu verwerfen. (...) Es ist die Auseinandersetzung mit den Lügnern und Manipulateuren, die uns noch die Anfälligkeit unserer Erkenntnismethoden erkennen lässt." (S.149)

Michael Wildt geht der Frage nach, ob man von einer nationalsozialistischen Moral sprechen könne, da Adolf Eichmann doch Immanuel Kant und dessen Kategorischen Imperativ für sich in Anspruch genommen habe. Den NS-Tätern attestiert der Historiker an der Humboldt-Universität Berlin eine Art von "partikularer Moral", mit der sie wohlfeil mörderisches Denken und Handeln legitimierten, wobei er betroffen feststellt:

"Juden wurden nicht umgebracht, weil sie Juden waren, sondern weil es angeblich Notwendigkeiten gab, die zu einem solchen Vorgehen zwangen.
Gerade an solcher Apologetik ist abzulesen, wie sehr die Täter von Sorge umtrieben waren, die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, Kultur und Trieb, Zivilisation und Barbarei getilgt zu haben." (S.166)


Das zweite Kapitel "Die Besprechung und der historische Kontext" ist leider weniger gut lesbar. Dort verspricht beispielsweise Edouard Husson, die Rolle Reinhard Heydrichs neu zu interpretieren. Man kann geteilter Meinung sein, ob ihm dies gelingt. Eine seiner Hauptthesen allerdings dürfte nach wie vor unbestritten sein:

"Erst mit der Planung des Russland-Feldzuges fand die mörderische Absicht des Regimes gegenüber allen europäischen Juden ihren definitiven Ausdruck, nämlich in der 'Endlösung der Judenfrage in Europa'; es sollte hier kurz hervorgehoben werden, wie wichtig für diese Konkretisierung der oft vage formulierten Mordabsichten Hitlers die unermüdliche Schreibtisch- und Feldarbeit Himmlers und Heydrichs war, die aus einer mörderischen Utopie Realität machte". (S.203)

Das dritte Kapitel widmet sich den "Teilnehmer(n) und Institutionen". Es ist in seiner gesamten Breite stark modelliert, intellektuell ziemlich anspruchsvoll und gleichermaßen einleuchtend dargeboten.

Cover - Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942
Cover - Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942© Böhlau Verlag
Kein Vertreter der Reichsbahn bei der Wannsee-Konferenz
Erneut wird die Rolle Reinhard Heydrichs erläutert, aber auch der Anteil, den Vertreter des Auswärtigen Amtes, des Reichsinnenministeriums, des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS sowie der Parteikanzlei der NSDAP hatten. Interessant ist, dass die Deutsche Reichsbahn auf der Wannsee-Konferenz gar nicht vertreten war, obschon auf sie die Hauptaufgabe zukam, die Logistik zu stellen und Juden zu Tausenden in die Vernichtungslager zu deportieren.

Anspruchsvoll haben sich die beiden Herausgeber vorgenommen, dem historischem Symbol "Wannseekonferenz am 20. Januar 1942" ebenso gerecht zu werden wie den Fakten der Zeitgeschichte, für die Ort und Datum stehen.

"Der Historiker als Experte sollte sich dafür engagieren, dass Symbol und Erkenntnis nicht zu weit auseinanderfallen. Er sollte auch komplizierte Abläufe nachvollziehbar darstellen und offene Fragen benennen. In aller Bescheidenheit hoffen wir auf eine Wirkung unserer Bemühungen, auf eine Annäherung von Symbol und Erkenntnis." (S.13f)

Mit diesem Studienband, mit ihren neuesten, darin vorgestellten Forschungsergebnissen haben Norbert Kampe und Peter Klein ihr Anliegen beeindruckend umgesetzt und die Erwartungen erfüllt.

Norbert Kampe, Peter Klein (Hg.): Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 - Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar, 2013
481 Seiten, 39,90 Euro