Von Liane zu Liane

Georg Seeßlen im Gespräch mit Katrin Heise |
Schwer muskelbepackt und athletisch frisch durch das Paradies springen - an diesen Mythos Tarzan können wir heute nicht mehr so recht glauben. Nach Einschätzung des Filmkritikers Georg Seeßlen würden uns die Ansichten des Tarzan-Autors Edgar Rice Burroughs "heute wohl die Schuhe ausziehen".
Katrin Heise: Ich begrüße jetzt den Autor und Filmkritiker Georg Seeßlen am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Seeßlen!

Georg Seeßlen: Hallo!

Heise: Wie war Ihre erste Begegnung mit Tarzan? Roman-Tarzan oder Johnny Weissmüller?

Seeßlen: Matinée natürlich, mit Johnny Weissmüller, das war für uns Kinder so ungefähr dasselbe wie ein guter Western. Das war das, was man dann gleich in die Tat umsetzen musste ...

Heise: Von Liane zu Liane geschwungen?

Seeßlen: Von Liane zu Liane geschwungen. Meistens abgestürzt, weil das nie so gut klappte wie in den Filmen.

Heise: Weil es bei uns einfach keine Lianen gibt, wahrscheinlich.

Seeßlen: Es gibt Lianen bei uns. Kleinere.

Heise: Kleinere, genau, aus dem Fenster raus. Haben Sie das, was Sie so fasziniert hat an der Gestalt, eigentlich später dann wiedergefunden in den Romanen, wenn Sie es gelesen haben, die Romane von Edgar Rice Burroughs?

Seeßlen: Also ich glaube, dass ja, wie jeder Mythos, so eine Gestalt wie Tarzan ja immer auch so ein Eigenleben hat. Und darin finden sich immer irgendwie gleichwertig oder sehr in der Konkurrenz miteinander utopische Züge und reaktionäre Züge. Das ist eine - ich glaube, genauso im Western drin auch, diese seltsame Mischung, rückwärtsgewandt und progressiv vielleicht. Und je nach Lebensalter oder je nach den Zeitumständen auch betont man vielleicht manchmal das Utopische, und manchmal fällt einem das Reaktionäre dann doch sehr auf. Das heißt also, es gab natürlich auch Zeiten, wo man sagte: "Tarzan, dieser Rassist, dieser Sexist, das ist ein No-Go, den darf man nicht gut finden." Und dann gab es auch wieder Zeiten, wo man dann entspannter mit diesen Dingen umgegangen ist und sich auch um diese Naivität, diese - was Sie in Ihrem Beitrag sehr schön gesagt haben- diese Körperlichkeit, rankte.

Heise: Wie kam Edgar Rice Burroughs, der eigentlich überhaupt nie in Afrika gewesen war, der vorab eine verkrachte Existenz, muss man ihn wahrscheinlich doch schon nennen, war, wie kam er eigentlich darauf, den Roman in Afrika spielen zu lassen, wo er doch selbst da eigentlich gar keinen Einblick hatte?

Seeßlen: Wahrscheinlich genau deswegen.

Heise: Fantasie.

Seeßlen: Das war das Fremdeste, was man sich vorstellen konnte. Und das Freieste dadurch natürlich auch. Also ich suche mir einen Ort, an dem ich einfach nicht, auch nicht damit rechne, dass mein Leser sagt: "Hey, hey, das ist doch ganz anders dort oder so etwas." Vielleicht hatte das schon auch was Metaphorisches, dieses "Der dunkle Kontinent". Da gibt es sicherlich auch solche literarischen Assoziationen zu Konrad oder so etwas, wo man eigentlich schon immer die Vorstellung hatte, dass der weiße Mensch in Afrika auf das Essenzielle zurückkommt und sich selbst erlebt, im Guten wie im Bösen. Bei Tarzan ist es mehr das Positive, das Positivistische sogar. Bei Konrad eher das "Herz der Finsternis".

Heise: War es dieses Auf-sich-selbst-Zurückkommen oder war es eher Abenteuer, Neugier auf das Fremde, das Exotische, Tod, Jagd - was war es, was diesen Erfolg von Tarzan so ausgemacht hat, dass der schon nach sechs Jahren ist der, glaube ich, schon verfilmt worden, der Roman?

Seeßlen: Also, das Erfolgsgeheimnis liegt sicherlich in der Zeit. Das war einfach der richtige Mensch oder der richtige Held zur richtigen Zeit. Wenn man sich vorstellt, was 1912 in Amerika vor sich ging, die Industrialisierung, das Closing of the frontier, also das heißt, der Westen war zu Ende, diese Eroberungsgeschichte. Viele Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Es begann sozusagen eine Phase der Mühen der Ebenen für viele Leute. Und es war auch ein großes Scheitern von vielen Menschen. Deswegen war jemand, der einen dann führte in so ein Parallelreich, genau der Richtige. Und gleichzeitig haben sich in dieser Gestalt ja auch viele zeitgenössische Probleme abbilden lassen. Wenn Sie sich vorstellen, wie wichtig - in den Romanen, nicht so sehr in den Filmen, da ist das ein bisschen komisch - aber in den Romanen spielt das eine ganz große Rolle, wie man sich zur Sprache bringt, wie man Kommunikation findet mit seinesgleichen, aber auch mit Tieren und so weiter. Und darin spiegelt sich sicherlich auch ein Problem einer Einwanderergesellschaft, für die Sprache auch etwas völlig anderes ist als, sagen wir, für Europäer.

Heise: Mit dem Autor Georg Seeßlen spreche ich über Tarzan zum hundertsten Geburtstag. Herr Seeßlen, pünktlich zum Jubiläum gibt es ja eine prächtige Neuausgabe der Tarzan-Bände. Sie schreiben in Ihrem Nachwort dieser Neuausgabe, Tarzan habe im Sinne von Henry David Thoreau, dem Erfinder des zivilen Ungehorsams, gedacht. Was meinen Sie damit? Dieser zivile Ungehorsam, wo finden Sie den bei Tarzan?

Seeßlen: Also zunächst mal gibt es diese zwei Möglichkeiten. Zum einen ist er natürlich der ewige Lausbub, das heißt, er geht dann zum Baden, wenn er Lust hat, er geht dann zum Essen, wenn er Lust hat. Er muss sich nicht die Hände waschen. Er ist eigentlich so eine Art Super-Huckleberry-Finn. Er transportiert unheimlich viele ganz sinnliche Freiheitsträume. Zum anderen aber hat er ja auch so eine Funktion, er ist ja nicht zufällig dann irgendwie der Herrscher des Dschungels oder so etwas. So ein Reich der Freiheit, was dauernd bedroht ist von Kapitalisten, Bösen, von Jägern, von Bösen, irgendwann sogar auch von den Nazis. Das heißt, er muss diese Balance oder diese Freiheit, die er gefunden hat, auch wieder verteidigen. Und in dieser Idee steckt drin ein Super-Individualismus. Das ist kein Marxist, Tarzan, oder kein irgendwie ideologisch so sehr geprägter Mensch, sondern: Er hat so eine Uridee von Freiheit.

Heise: Und wie politisch war das also in dieser Zeit eben, Sie haben es erwähnt, was in Amerika vor sich ging, der Erste Weltkrieg steht quasi vor der Tür, es ist die Zeit des um sich greifenden Kapitalismus. Wie politisch war sein Erfinder Burroughs?

Seeßlen: Burroughs war vermutlich wirklich nicht in unserem Sinne politisch, aber er hatte Ansichten. Und diese Ansichten, glaube ich, die würden einem heute wohl die Schuhe ausziehen. Also er war sicherlich kein sehr progressiv denkender und kein sehr demokratisch denkender Mensch. Aber es ist völlig im Mythos immer so, dass sich das ständig um sich selber dreht, das heißt, ich kann den Tarzan von links lesen, ich kann den von rechts lesen, ich kann den sogar aus der Mitte lesen. Das ist ja ein Spiegel, in den ich schaue. Und in diesen Spiegel kann ich auch politisch letztendlich das rausholen, was ich sehen möchte.

Heise: Sie haben in Ihrem Nachwort geschrieben, mit dem gesofteten Tarzan können Sie nichts anfangen. Diese Mischung aus "Greenpeace-Aktivist und Unterhosenmodell", Zitat Ende, der gefällt Ihnen nicht. Was wünschen Sie Tarzan zum 100. Geburtstag. Wieder mehr Wildheit, Freiheit?

Seeßlen: Das wäre zu hoffen, wenn es das denn gäbe. Natürlich gibt es auch im Bereich der Pop-Mythen so was wie eine Geschichte ist zu Ende erzählt, oder sie hat ihre Kraft verloren. Irgendwann gab es ja auch keine richtigen Western mehr. Oder wenn Sie heute an Neil Armstrong denken, dieses große Wort, dass es dieser kleine Schritt für den Menschen war, für den Einzelnen, und großer Schritt. Und wir haben ja das Gefühl, na ja, dieser Schritt, der war ja gar nicht, es war ja eher ein kleiner Schritt ins Leere. Und das heißt, diese Idee, in ein Neuland zu kommen oder sich sozusagen eine private Utopie oder auch eine kollektive Utopie aus der eigenen Gesellschaft heraustreten zu können und irgendwo einen Neuanfang oder Neueroberungen zu haben, an diese Idee können wir nicht mehr so recht glauben. Und deswegen können wir auch, glaube ich, nicht mehr an einen Tarzan glauben, der tatsächlich da eine Utopie von Freiheit und Sinnlichkeit verteidigen kann.

Heise: Eine Geschichte hat sich eben zu Ende erzählt. Tarzan zum 100. Geburtstag. Es gratulierte der Autor und Kinokritiker Georg Seeßlen. Danke schön, Herr Seeßlen!

Seeßlen: Bitte!

Heise: Die Neuausgabe der Tarzan-Romane mit Seeßlens Nachwort sind übrigens im Verlag Walde + Graf erschienen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links auf dradio.de:

- Tarzan wird 100 Jahre alt
- Tarzan und die Hunnen - Der Dschungelheld und sein Image als "Deutschenfresser"
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