Von kleptomanischen Gräfinnen

05.11.2013
Paul Schlesinger war kein nüchterner Chronist - vielmehr beschrieb er einfühlsam und humorvoll Hunderte Prozesse in Berlin und wurde zum Begründer der modernen Gerichtsreportage. Seine schönsten Berichte aus den Gerichtssälen der Weimarer Republik liegen jetzt als Buch vor.
"Das Schicksal schenkte ihm eine schlanke Gestalt, ein hübsches Gesicht mit zärtlichen grauen Augen, eine bewegliche Intelligenz und außerdem noch den herrlichen Namen Brokat. Das war zu viel auf einmal und musste schiefgehen." Es sind Einstiegssätze wie diese, mit denen Paul Schlesinger alias Sling sein Publikum in den Sog seiner Gerichtsreportagen hineinzog und für die Abgründe der menschlichen Seele begeisterte. Als Korrespondent der "Vossischen Zeitung" beobachtete er von 1920 bis 1928 Hunderte Gerichtsverfahren in Berlin – sein Stil revolutionierte die Gerichtsberichterstattung in Deutschland.

Slings Reportagen zeichnen das pralle Leben der 1920er-Jahre, ein Panorama der gefallenen Gesellschaft der Weimarer Republik vor Gericht: Mordlüsterne Gattinnen und betrügerische Kavaliere, kleptomanische Gräfinnen und nudistische Freigeister, monarchistische Reichsoffiziere und erschöpfte Richter. Sling schreibt über den gestohlenen Pelz der Schauspielerin Olga Tschechowa und erlebt den Sexualforscher Magnus Hirschfeld als Sachverständigen im Zeugenstand.

Trotz Mord und Totschlag, Diebstahl und Betrug verfasste Sling nie moralinsaure Anklageschriften, er interessierte sich vielmehr für die Menschen hinter der Tat: "Ich suche im Gerichtssaal die seelischen Beweggründe der auftretenden Personen, der Angeklagten, der Zeugen. Ich kann es auch nicht unversucht lassen, in die Herzen des Staatsanwalts und des Richters zu blicken. Das aufgenommen Bild erzeugt in mir Trauer, Empörung, Furcht, Mitleid, Verachtung, Heiterkeit, Spottlust, Liebe und Haß. Dann versuche ich, mein Gefühl nachzuschaffen, es dem Leser kenntlich zu machen."

Klarer Fall - so schreibt kein nüchterner Chronist. Paul Schlesinger war kein Experte der Justiz, sondern ihr literarischer Beobachter. So charakterisierte er eine angeklagte Schriftstellerin mit den Worten: "Wie sie nun dastand, mit den kleinen bösen Augen in dem massigen Gesicht, den kraftvollen Unterkiefer beim unausgesetzten Reden auf- und niederklappend, glich sie einem jener grotesken Fische, die im Aquarium an den Glaswänden ihre tropischen Schnauzen kühlen." So bildreich berichtet heute vielleicht der Schriftsteller und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach aus dem Gerichtssaal. Als Reporter warf Sling die Konventionen der faktenorientierten Berichterstattung kunstvoll über Bord, machte Schluss mit korrekter Paragrafen-Reiterei. Mit seinen humorvollen und einfühlsamen Texten gilt er als Begründer der modernen Gerichtsreportage in Deutschland.

Man kann darüber streiten, ob Slings literarisch-künstlerischer Stil den Gerichtsprozessen seiner Zeit in jedem Fall gerecht wird - doch amüsant, intelligent und unterhaltsam zu lesen ist er immer. Sein journalistisches Selbstverständnis macht ihn zu einem radikal modernen Autor: "Auf mein seelisches Erleben kommt es an. Eine Objektivität gibt es nicht. Weder in der Wissenschaft noch am Richtertisch". Mit dieser selbstbewussten Kampfansage dürfte manch zeitgenössischer Gerichtsreporter noch heute bei seinem Chefredakteur anecken. Zum Glück hatte Sling bei der "Vossischen Zeitung" freie Hand. Seine schönsten Berichte aus den Gerichtssälen der Weimarer Republik liegen jetzt in Buchform vor – eine echte Wiederentdeckung!

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Sling/Paul Schlesinger: Der Mensch, der schießt. Berichte aus dem Gerichtssaal, hrsg. von Axel von Ernst
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2013
399 Seiten, 24,90 Euro
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