Hitler vor dem Richter

23.08.2011
Von 1926 bis 1933 fotografierte Leo Rosenthal in den Berliner Gerichtssälen: Eindrucksvolle Bilder aus dem "Zeitalter der Extreme". Er war promovierter Jurist. Sein Examen, das der 1884 in Riga geborene Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie an der estnischen Universität Dorpat / Tartu abgelegt hatte, wurde in Deutschland jedoch ebenso wenig anerkannt wie seine Moskauer Strafverteidigerpraxis.
Der Emigrant verlegte sich deswegen in den 20er-Jahren in Berlin darauf, Gerichtsreportagen zu verfassen. Bald war ihm das Schreiben nicht genug, er begann im Gerichtssaal zu fotografieren, heimlich meistens, denn während der Verhandlung durfte zwar gezeichnet, jedoch nur in Ausnahmefällen fotografiert werden. Über das Problem der Gerichtsreportagen wurde damals heftig debattiert, denn ab 1928 veröffentlichten immer mehr Tageszeitungen Fotografien. Leo Rosenthal benutzte – wie sein berühmter Kollege Erich Salomon – eine Platten-, eine Mittelformatkamera, die er versteckt hielt.
1500 seiner Fotos aus der Weimarer Zeit befinden sich heute im Berliner Landesarchiv, angekauft kurz vor seinem Tod 1969, denn Rosenthal hatte die Negative und Glasplatten über die verschiedenen Stationen seines Exils gerettet. Es war ihm wichtig, schrieb er, der in Amerika 1945 eine "dritte Karriere" als freiberuflicher Fotograf bei den Vereinten Nationen begonnen hatte, "in Berlin sozusagen ein ‚Memorial‘ von meiner jahrelangen Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter des Vorwärts zu hinterlassen". Dieses Memorial, diese beredten Zeugnisse aus den Gerichtssälen der Weimarer Republik sind nun – nachdem sie in einer Berliner Ausstellung zu sehen waren – in einem eindrucksvollen Band gesammelt.

Es war die Zeit der großen Prozesse, und es war das Ende der rechtmäßigen Gerichtsbarkeit in Deutschland. Die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit führten zu mehr Raub und Verbrechen. Auf dem ersten Foto dieses Bandes sieht man drei ganz und gar unglamouröse Straßenmädchen, die des Diebstahls angeklagt sind. Ihre Blicke scheinen auszudrücken: Wir hatten keine andere Wahl. Auch bei den spektakulären Prozessen jener Jahre macht Rosenthal heimlich Fotos: Da geht es um gefälschte van Gogh-Bilder, um den Mord an einer Opernsängerin, um den Prozess gegen einen persischen Studenten, der angeblich den Schah beleidigt hatte.

Eindrucksvoll sind vor allem jene Fotos, die Leo Rosenthal in politischen Prozessen aufgenommen hat: Der Schriftsteller Erich Weinert ist wegen Gotteslästerung angeklagt, Joseph Goebbels steht als Herausgeber der NS-Propagandazeitung "Der Sturm" selbstbewusst vor dem Richter, der Jurist Bernhard Weiß kämpft gegen die Diffamierungskampagne der Nazis, Carl von Ossietzky sitzt zwischen seinen Verteidigern als Herausgeber der "Weltbühne".

Das aufregendste und seltsamste Foto dieses Bandes zeigt Adolf Hitler, der als Zeuge geladen war im sogenannten "Edenprozess". In gebeugter, angespannter, ganz und gar nicht souveräner Haltung verfolgt er das Geschehen. Der Anwalt, auf dessen Vernehmung ein späterer Meineidsprozess gegen Hitler sich gründete, der mutige Jurist Hans Litten, wurde von den Nazis sofort nach der Machtergreifung festgesetzt. Er nahm sich 1938 im KZ Dachau das Leben.

Besprochen von Manuela Reichart

Leo Rosenthal: Ein Chronist in der Weimarer Republik - Fotografien 1926-1933
Schirmer/Mosel Verlag, München, 2011
160 Seiten, 29,80 Euro