Von der Waffenschmiede zum beliebten Mopedhersteller

Rezensiert von Jan Schleusener · 10.11.2013
Die Motorräder der Marke Simson, darunter die berühmte Schwalbe, sind noch immer unterwegs. Neu gefertigt werden sie allerdings nicht mehr. Ulrike Schulz ist den wechselvollen 137 Jahren dieses Betriebs einer jüdischen Familie nachgegangen.
Das Städtchen Suhl in Südthüringen wirbt seit einigen Jahren für sich als "Waffenstadt". Der Name der Homepage lautet vieldeutig: suhltrifft.de. Gleichzeitig rühmen sich die Stadtväter seit neuestem, die Auszeichnung Suhls als "staatlich anerkannter Erholungsort" durchgesetzt zu haben. Waffenstadt und Erholungsort − wie passt das zusammen?

Es ist Ausdruck des Strukturwandels in Suhl. Während man heute in Südthüringen hofft, für Touristen attraktiv zu sein, konnte man früher auf ganz andere Fertigkeiten zählen: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die deutsch-jüdische Kaufmannsfamilie Simson in Suhl aktiv wurde, galt der Ort als Waffenschmiede ersten Ranges, besonders zur Zeit des Kaiserreiches und der Weimar Republik. Die Nationalsozialisten enteigneten dann die Besitzer entschädigungslos.

Simson überdauerte fünf politische Systemwechsel
Damit endete die Geschichte des Familienunternehmens Simson; als Staatsunternehmen bestand die Firma jedoch fort − sowohl in der NS-Zeit als auch in der DDR. Die neuerliche Transformation in private Hände nach 1990 scheiterte jedoch. Als das Unternehmen 1993 liquidiert wurde, hatte es fünf politische Systemwechsel überdauert, viermal hatte der Eigentümer gewechselt.

Gerade diese Beharrungskraft mag die Bielefelder Historikerin Ulrike Schulz gereizt haben, die 150-jährige Geschichte des Unternehmens grundlegend zu erforschen. Dazu stand ihr eine Fülle von Aktenmaterial zur Verfügung; auch die Erben der einstigen Eigentümer steuerten Material bei.

Wie konnte es dazu kommen, dass trotz widrigster politischer Umstände das Unternehmen über 150 Jahre bestehen konnte? Ulrike Schulz hat zwei hauptsächliche Faktoren ausgemacht:

"Zum einen war es das gemischtgewerbliche Profil von "Simson", das die wirtschaftlichen, aber auch politisch ausgelösten Krisen stets abschwächten, wenn nicht gar kompensierten. Zum anderen war es die über viele Generationen stabile und gut ausgebildete Stammbelegschaft, die den Betrieb immer dann weiterführte, wenn die Eigentumsrechte ungeklärt waren oder blieben."

Den Schlüssel für ihren lang anhaltenden Erfolg hatten die Simsons im Kaiserreich gelegt. Nicht minder prägend für die Entwicklung des Unternehmens dürfte aber gewesen sein, dass die Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg die Waffenschmiede Simson mittels eines Lizenzvertrags an sich band. Die Reichswehr bot dem als "jüdisch" identifizierten Unternehmen auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 zunächst noch Schutz: Schließlich waren die Simson-Werke die führende Fabrik für Infanteriewaffen im Deutschen Reich.

Cover Ulrike Schulz: "Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993"
Cover Ulrike Schulz: "Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993"© Wallstein Verlag
Entschädigungslos enteignet
Der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel schaffte es aber 1935, die Festung zu schleifen: Nach zweijährigem Ringen zwischen der Reichswehr, den Simsons und den Behörden von Partei und Staat konnte Sauckel das Unternehmen nach der entschädigungslosen Enteignung in eine NSDAP-Parteistiftung transformieren. Dem Betrieb gelang es in den Jahren danach, den extremen Anforderungen von Aufrüstung und Krieg zu genügen. Das Waffenwerk Suhl wurde für die deutsche Wehrmacht zu einem der Hauptlieferanten für Maschinengewehre. Die Ursachen dieses Erfolgs sind für Ulrike Schulz klar:

"Die bittere Ironie in diesem Kapitel der Geschichte des Unternehmens lässt sich kaum übersehen: Die Nationalsozialisten profitierten von der Unternehmensphilosophie und -strategie, von der Leistungskompetenz und den organisatorischen Errungenschaften der enteigneten Unternehmerfamilie Simson."

1945 war es nur einer Reihe historischer Zufälle zu verdanken, dass das Unternehmen nicht liquidiert wurde, sondern überlebte. Schulz stellt fest, dass es vor allem die Stammbelegschaft war, die für den Fortbestand des Unternehmens kämpfte. 1946 ging das Unternehmen in sowjetische Hände über: In Moskau hatte man beschlossen, dass in Thüringen künftig für die Bedürfnisse der Sowjetunion produziert werden solle. 1952 jedoch entschied sich die Moskauer Führung dazu, die Waffenfabrik wieder abzugeben.

Auch wenn sich die Verantwortlichen im Unternehmen zumindest anfangs der Einführung sozialistischer Regeln widersetzten, konnten sie den Untergang der Betriebe nicht aufhalten. Im Moped-Geschäft zum Beispiel folgte auf einen großen Boom die Flaute, worauf die Planbürokratie viel zu schwerfällig reagierte. In den 1970er Jahren zehrte das Unternehmen nur noch von seiner Substanz − Investitionen blieben weitgehend aus. Die Krise verschärfte sich in den 1980er Jahren, während das Unternehmen "beinahe lückenlos" von der Staatssicherheit überwacht wurde.

Spannender Bieterwettbewerb
1990 hing das Unternehmen bereits am "Liquiditätstropf" der Treuhandanstalt. Dennoch entwickelte sich ein spannender Bieterwettbewerb um das Unternehmen. Auch die Erben der früheren Eigentümer erklärten sich bereit, nach Suhl zurückzukehren. Doch die Treuhand entschied anders − und leitete damit das endgültige Aus für das Unternehmen ein. Die Autorin resümiert:

"Von den rund 2000 Arbeitsplätzen Ende 1991 konnte keiner gerettet werden. Die Beschäftigten und die Stadt Suhl waren die Verlierer, die Landes- und Bundeshaushalte die Geprellten. [...] Binnen der zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung haben sich die schlimmsten Prognosen bewahrheitet. Suhl und die gesamte Region entwickelte sich zu einem wirtschaftlichen Brachland. [...] Eine Wiederauferstehung der Suhler Waffenschmiede ist kaum mehr denkbar."

Erstaunlich genug bleibt, dass sich das Unternehmen zuvor 150 Jahre hatte halten können. Wie es dazu kam, hat Ulrike Schulz nun überzeugend erklärt. Ihre Studie besticht durch Quellenreichtum, analytische Kraft und überzeugende Argumente. Und sie schließt eine Forschungslücke, indem sie zeigt, welche Herausforderungen die politischen Systemwechsel in dieser Zeit für die Wirtschaft bedeuteten − und wie sich ein Unternehmen trotz dieser Widrigkeiten am Markt behaupten konnte.

Ulrike Schulz: Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
464 Seiten, 34,90 EUR