Von Arbeitsdruck und Konsumdruck

Rezensiert von Andreas Rinke · 17.02.2013
Warum haben wir keine Zeit? Warum sind wir so gestresst? Liegt es am Kapitalismus? Der Jesuit Friedhelm Hengsbach sieht hier einen engen Zusammenhang und macht vor allem die digitalisierten Finanzmärkte zur Quelle allen Übels. Chancen in den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen sieht er kaum.
Das Gefühl kennen viele: Die Geschwindigkeit des Lebens und der gefühlte Leistungsdruck nehmen in unserer immer wohlhabenderen Gesellschaft zu. Dies ist mittlerweile nicht nur ein Thema für Psychologen, sondern auch für Sozialethiker. Einer der Protagonisten der katholischen Soziallehre, Friedhelm Hengsbach, glaubt Rezepte gegen die Beschleunigung gefunden zu haben.

Lange war er ein Stachel im Fleisch der Christdemokraten, stellte unangenehme Fragen, die gerade in der "Bonner Republik” dem wirtschaftsliberalen Flügel der Union zu schaffen machten. Wenn er in seinem neuen Buch gegen das "Regime der Beschleunigung” aufruft, kann man also eine spannende Auseinandersetzung erwarten. Und tatsächlich zeigt sein Buch "Die Zeit gehört uns”, dass er zu den nachdenklicheren Autoren gehört.
Sehr lesenswert ist etwa sein Kapitel über die sich dramatisch verändernde menschliche Wahrnehmung der "Zeit" im Lauf der Jahrhunderte, die von Gesellschaft zu Gesellschaft, aber sogar zwischen Stadt und Land variiert.

Hengsbach zerlegt auch das Phänomen, dass technischer Fortschritt uns zwar im Prinzip die Arbeit erleichtert hat – aber interessanterweise nicht zu mehr Frei-Zeit führt. Gerade erst hat eine neue Studie herausgefunden, dass sich mehr Menschen als früher in ihrer Arbeit gestresst fühlen.

"Arbeitnehmer stellen fest, dass der Produktivitätsanstieg seit Jahren nicht mehr zu einer kollektiven Verkürzung der Arbeitszeit, sondern nur noch zur individuell flexiblen Gestaltung genutzt wird",

schreibt er und macht sich auf die Suche nach der Beschleunigung, entdeckt sie in allen Bereichen des Lebens: in den Unternehmen, am Arbeitsplatz, in der Privatsphäre. Für ihn sind Quelle allen Übels die digitalisierten Finanzmärkte, deren Funktionsweise aus Akteuren Getriebene mache.

"… einmal dadurch, dass sie sich abkoppeln von der Realwirtschaft. Das ist ja ein bekanntes Phänomen.

Und zum anderen, dass sie durch die automatisierten Handelsgeschäfte ein Tempo vorgeben: Beispielsweise kann ein normaler Börsenhändler in einer Minute vielleicht drei oder vier Handelsaufträge erledigen, aber diese automatisierten, computergestützten Handelssysteme schaffen in einer Minute 100.000 von solchen Handelsaufträgen, d.h. also in einer Stunde 6 Milliarden und an einem Tag 60 Milliarden.

Wenn das in einem solchen Tempo geht, wird das auf die Unternehmen weitergeleitet durch den shareholder value und durch die Quartalabschnitte, in denen gerechnet wird.
Der Druck geht wieder weiter auf die Arbeitsverhältnisse, am Ende landet er bei den privaten Haushalten und dann sind es überwiegend die Frauen, die am meisten unter diesem Zeitdruck leiden."


Für den 75-jährigen Autor übt der automatisierte Computer- und Hochgeschwindigkeitshandel einen entscheidenden Druck auf Unternehmen aus, auf die "Finanzdemokratie” - wie er unser politisches System abschätzig nennt, auf die Arbeitsverhältnisse und unser privates Leben.
Doch bei aller berechtigten Kritik an den Exzessen vieler Akteure auf den Finanzmärkte: Einmal mehr werden sie hier für etwas verantwortlich gemacht, was sie nicht oder zumindest nur zum Teil verursachen. Gerade in Deutschland herrscht eine mittelständische Wirtschaftsstruktur vor, in der die meisten Firmen gerade nicht börsennotiert und damit weniger dem Einfluss der Finanzmärkte ausgesetzt sind als etwa in den USA.

Hengsbachs richtige Beobachtung einer zumindest gefühlten Beschleunigung muss also eine andere Ursache haben. In Wahrheit entsteht der Beschleunigungsdruck eher durch den immer rasanteren technischen Fortschritt sowie den globalisierten Wettbewerb mit immer mehr Konkurrenten. Mobiltelefone, E-Mails und dauernde Erreichbarkeit lassen zudem die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen.

Das macht den tatsächlich spürbaren Druck im Leben vieler Menschen nicht unbedingt besser. Aber wenn man bereits die Triebkräfte einer Gesellschaft falsch analysiert, lässt sich darauf schlecht eine überzeugende Argumentation aufbauen, was gegen die Beschleunigung getan werden kann oder sollte.

Friedhelm Hengsbach fällt viel zu sehr zurück in frühere Argumentationslinien, in denen er eine fortschreitende Entsolidarisierung der Gesellschaft und die Auflösung fester Arbeitsverhältnisse als Grund geißelt, wieso Menschen immer weniger über eigene Zeit verfügen könnten.

"Die propagierte Modernisierung des Sozialstaates war de facto eine Deformation der solidarischen Sicherung”,

behauptet er mit immer noch spürbarer Wut auf die Hartz-IV-Reformen. Die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit wirft der Jesuit vor allem dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder vor.
Egal, ob man diese Meinung teilt oder nicht: Er lässt in seinem Buch außer Acht, ob nicht auch die größere materielle und ideologische Freiheit der Menschen eine Triebkraft ist, die zur Auflösung alter und zur Entstehung neuer Lebensmodelle führt. Der Wunsch nach flexiblen Beschäftigungsverhältnissen kommt heute jedenfalls auch von Arbeitnehmern.

Noch an einer anderen Stelle gerät Hengsbach ins Schleudern: beim Verhalten der Konsumenten. Er startet mit der interessanten Erkenntnis, dass eine sinkende berufliche und private Arbeitsbelastung den Stress nicht vermindert hat, weil dieser nun auch durch einen verstärkten Konsum entstehen kann.

Doch er entschuldigt den angeblichen Konsum-Zwang von "Erlebnis-Gütern" wie Urlauben oder elektronischen Geräten kurzerhand als "Dynamik des kapitalistischen Systems", der sich anscheinend niemand widersetzen kann. Der Kapitalismus halte die Menschen in einer sich immer schneller drehenden Spirale aus Arbeitsdruck und Konsumdruck gefangen.

Aber nachdem der Sozialethiker die Bürger erst als willenloses Opfer des Konsumterrors karikiert hat, fordert er sie später bei seinen Empfehlungen gegen den "Zeit-Terror" auf, ihr Verhalten zu ändern.

Als weitere Rezepte wiederholt er altbekannte Forderungen wie die Abschaffung von Hartz IV, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Tarifverträge,

"die ‚jene krankhafte Fixierung auf die Erwerbsarbeit‘ beenden"

sowie eine komplett staatliche Absicherung der Gesundheitsversorgung.

"Durch eine Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit auf dreißig Stunden könnten die Minijobs und Teilzeitarbeiten der Frauen existenzsichernd aufgestockt und die Vollzeitarbeiten der Männer abgesenkt werden."

Dass dies möglichweise gar nicht im Interesse der meisten Arbeitsnehmer sein dürfte – egal ob Mann oder Frau - unterschlägt er. Dass es Konkurrenz für deutsche Firmen jenseits der Grenzen gibt, ebenso.

Ketzerisch ausgedrückt: Letztlich ist das Buch ein Beleg dafür, wieso der Einfluss der klassischen katholischen Soziallehre auf die Politik massiv abgenommen hat. Protagonisten wie Friedhelm Hengsbach stellen zwar die richtigen Fragen in einer sich dramatisch ändernden Gesellschaft und nähern sich mit großer Nachdenklichkeit neuen gesellschaftlichen Phänomenen wie dem Gefühl der Beschleunigung.

Aber zumindest der Frankfurter Jesuit liefert am Ende nur punktuell brauchbare, alte Antworten und klingt ein wenig wie eine Stimme aus dem politischen Schlachtenlärm des vergangenen 20. Jahrhunderts.

Friedhelm Hengsbach: Die Zeit gehört uns - Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung
Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2012
240 Seiten, 19,99 Euro
Cover: "Die Zeit gehört uns" von Friedhelm Hengsbach
Cover: "Die Zeit gehört uns" von Friedhelm Hengsbach© Westend-Verlag