Von Apartheid bis Pegida

Die Renaissance des Rassismus

Demonstranten mit Plakat "Gib Islam Keine Chance".
Rechte Demonstranten agitieren gegen die Religion des Islam. © imago
Christian Geulen im Gespräch mit Susanne Führer · 25.08.2018
Kaum jemand spricht heute noch von menschlichen Rassen. Das heißt aber nicht, dass es keinen Rassismus mehr gibt. Im Gegenteil: "Der heutige Rechtspopulismus etwa hat eindeutig rassistische Tendenzen", meint der Historiker und Rassismusforscher Christian Geulen.
Deutschlandfunk Kultur: Wir wollen heute über Rassismus reden, also über eine Ideologie und eine Praxis, die in den modernen Demokratien heute zwar verpönt oder auch verboten ist, aber keineswegs verschwunden.
Der Historiker Prof. Dr. Christian Geulen von der Universität Koblenz-Landau beschäftigt sich seit Jahren mit Geschichte und Aktualität des Rassismus. Er hat dazu publiziert und ist jetzt mein Gesprächspartner in Tacheles. – Herzlich willkommen, Herr Geulen.
Christian Geulen: Dankeschön, guten Tag, Frau Führer.
Deutschlandfunk Kultur: Sie schreiben, Herr Geulen, Rassismus sei weder natürlich noch universal, sondern ein Produkt menschlicher Kultur. Woran machen Sie das fest? Man könnte doch schon den Eindruck gewinnen, Rassismus gehört zur Geschichte der Menschheit dazu. Man denke an die Sklaverei im alten Ägypten oder im antiken Griechenland. War das kein Rassismus?
Christian Geulen: Darüber gibt es Streit, auch unter Experten. Es gibt durchaus Kollegen von mir, die behaupten, man muss das so weit in die Geschichte zurück denken, die Ursprünge des Rassismus. Ich bin da etwas skeptisch, weil man in Gefahr gerät, dadurch den Begriff des Rassismus zu einer tatsächlichen anthropologischen Formel zu erklären. Letztlich bleibt dann als Konsequenz nichts anderes übrig als zu sagen: Gab's immer schon, wird's immer geben, kann man nix machen!
Das halte ich schon aus diesem Grund für etwas problematisch.

Rassismus braucht Hierarchie

Was es mit Sicherheit gibt und was tatsächlich zum Menschsein dazu gehört, sind so Phänomene wie Ein- und Ausgrenzung, Herrschaft, also die Unterteilung zwischen oben und unten. Das ist mit Sicherheit so. Aber der Rassismus, und das "-ismus" dahinter zeugt davon, ist zunächst einmal nicht so sehr eine bestimmte Form der Einteilung oder der Abgrenzung der einen Gruppe von einer anderen, sondern er ist erstens eine Form der Begründung für diese Ausgrenzung und meistens eine, die eben auch Hierarchie ins Spiel bringt und nicht nur sagt, das sind wir und das sind die anderen. Das ist nicht Rassismus. Sondern: Wir sind die Besten, und die anderen gehören weg. Oder: Die sind schlechter oder was auch immer. Da fängt es an.
Das muss begründet werden. Da kommen alle möglichen Dinge ins Spiel, Wissensbestände, die sich auch erst im Laufe der Geschichte entwickelt haben – wie der Rassenbegriff selber auch. Die Antike kennt diesen Begriff nicht. Es gibt andere, vielleicht etwas ähnliche Begriffe, aber so, wie wir ihn kennen, ist dieser Begriff erst mit der Neuzeit entstanden.
Deutschlandfunk Kultur: Zu dem Begriff kommen wir ja vielleicht später noch. Nochmal zu dieser Abgrenzung: anthropologische Konstante, was gehört zum Menschsein dazu? Ijoma Mangold hat neulich in der "Zeit" geschrieben: Xenophobie, also die Angst vor dem Fremden, sei etwas zutiefst Menschliches, genauso wie der Futterneid. Beides nicht schön, aber vorhanden, anders als Rassismus, weil er den Rassismus auch als ein kulturelles Produkt ansieht.
Christian Geulen: Wobei, die Formel des kulturellen Produkts sagt wenig aus. Das meiste, mit dem wir es politisch, gesellschaftlich usw. zu tun haben, sind kulturelle, von den Menschen hervorgebrachte Verhältnisse. Aber generell würde ich genau da auch zustimmen. Fremdenangst, noch nicht Fremdenfeindlichkeit, aber Fremdenangst, diese Sorge davor, dass da etwas Neues von außen kommt, neue Personen, neue Menschen, die anders denken, anders wahrnehmen, dass man da erst einmal skeptisch ist, das würde ich auch sagen, ist ein universalgeschichtliches Phänomen, das man eigentlich überall finden kann.
Der Rassismus ist sehr viel mehr. Er ist eine mit großem Aufwand zusammengebaute Ideologie der Begründung dafür, dass es nicht nur reicht festzustellen, dass die andere Gruppe anders ist als die eigene, sondern dass es da ein Verhältnis gibt, an dem man arbeiten muss, dass man die Fremden bekämpfen muss. Da wird aus Fremdenangst Fremdenfeindlichkeit. Und die wird in der Neuzeit und vor allem in der Moderne nicht selten rassentheoretisch begründet.
Da, denke ich, ist der Kern des Phänomens Rassismus insofern ein kulturelles Produkt allemal, vor allen Dingen aber ein historisch der Moderne angehörendes Produkt.

Folgt auch die Diskriminierung Dicker dem rassistischen Prinzip?

Deutschlandfunk Kultur: Ein Kollege verglich neulich im Gespräch mit mir das Phänomen des Fatshaming, also die Diskriminierung der Dicken, mit Rassismus und meinte, das sei das dasselbe Phänomen. – Was sagen Sie dazu?
Christian Geulen: Ich tendiere mit Blick auf unsere Gegenwart – und vor allen Dingen die letzten fünfzig, hundert Jahre vielleicht – tatsächlich auch dazu, solche Phänomene zumindest einmal aus dieser Perspektive zu betrachten und zu fragen: Sind da nicht gleiche Mechanismen am Werk?
Der Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben – das ist von vielen Forschern seit zwanzig, dreißig Jahren immer wieder gesagt worden –, ist ein Rassismus, der eigentlich ohne so einen klassischen Rassenbegriff, der zur vorherigen Phase des Phänomens gehört, auskommt und damit natürlich unglaublich flexibel ist. Wenn etwa sozial Schwache, Obdachlose oder ähnliche Gruppen einer bestimmten, auch manchmal sehr üblen Gewalt ausgesetzt sind, wie das immer wieder vorkommt, oder wenn Menschen mit körperlichen Merkmalen, wie etwa Dicke, in einer solchen Weise diskriminiert werden, könnte man schon anfangen zu überlegen, ob hier nicht auch der gleiche Mechanismus im Spiel ist. Das ist etwas schwierig, weil der Begriff Rasse da fehlt, aber es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, die eindeutig rassistische Denkweisen repräsentieren, wo dieses Konzept der Rasse als eine biologisch bestimmte Gruppe überhaupt nicht mehr vorkommt.

Rassistische Tendenzen des Rechtspopulismus

Der heutige Rechtspopulismus etwa hat eindeutig rassistische Tendenzen, ohne dass dieses Wort in dem Sinne nach vorne gestellt wird, der Begriff der Rasse. Das ist etwas, was wir eigentlich schon länger kennen. Das macht das Phänomen auch sehr gefährlich, weil im Prinzip eigentlich jede Gruppe, jede Minderheit, jede Gruppe, die sich gewissermaßen aus der Perspektive des Rassismus selber als anfeindungswürdig herausstellt, dann auch irgendwie mit bestimmten Narrativen begründet werden kann, warum man jetzt gegen die unbedingt vorgehen muss – weil sie gefährlich für die Gesellschaft sind, weil sie gefährlich fürs eigene Überleben sind oder für die eigene Kultur oder was immer. Wenn man auf so einer Ebene ist, dann braucht man den Rassenbegriff gar nicht mehr.
Deutschlandfunk Kultur: Oder für die Volksgesundheit.
Christian Geulen: Volksgesundheit, ja, das war die frühere Begründung.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, das hört man ja jetzt wieder, was die Dicken angeht, was sie die Krankenkassen alles kosten usw.
Christian Geulen: Ja.

Rassenkategorie im Zuge der Reconquista entwickelt

Deutschlandfunk Kultur: Wann wurde der Rassismus denn geschaffen oder erfunden, Herr Geulen? Neuzeit, sagten Sie vorhin.
Christian Geulen: Ja, Neuzeit. Also, eins der ersten Phänomene, wo zum ersten Mal überhaupt der Rassenbegriff auf Menschen angewandt wurde - im späten Mittelalter war es im Wesentlichen ein Begriff aus der Pferdezucht -, das war im Kontext der spanischen Reconquista, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch katholische Königtümer. Ein langer Prozess, er zog sich, er zieht sich über drei, vier Jahrhunderte. Es ging darum, ein rein katholisches Spanien wiederherzustellen und vor allen Dingen die Mauren, also die Araber, die Muslime aus Spanien zu vertreiben.
Im Laufe dieses Prozesses haben viele Mauren, aber eben auch viele der dort lebenden Juden gewissermaßen pro forma den katholischen Glauben übernommen, aber letztlich nur, um sich sozusagen diesen Verfolgungspraktiken zu entziehen. Das hat dann dazu geführt, dass man plötzlich sagte, Glaubensbekenntnis alleine reicht nicht. Die Differenz zwischen diesen drei Gruppen liegt tiefer. Die liegt irgendwie im Körperlichen. Die liegt in mehreren Generationen. Und plötzlich redet man von einer Reinheit des Blutes. 1492 wurde dann auch eine Zwangsbekehrung der wenigen Muslime, die noch da waren, und sämtlicher Juden in Spanien beschlossen. Und um sie zu identifizieren, erfand man diese Rassenkategorie. Da geht das schon langsam los.
Ich würde aber sagen, dass der Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben, dann doch eher ein Produkt des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung ist, der Epoche der Aufklärung. Denn hier hat er zum ersten Mal eine ganz bestimmte Funktion übernommen, die ich für sehr wichtig halte, nämlich Ungleichheit und Ungleichbehandlung vor allem zu begründen gerade im Horizont von Gleichheitsansprüchen, Konzepten einer universalen Menschheit, für die die Aufklärung ja im Wesentlichen zunächst mal bekannt ist. Der Rassenbegriff passte genau da rein, um jetzt zu sagen: Ja, es sind alles Menschen, aber sie haben interne biologische Unterschiede. Es sind verschiedene Arten von Menschen.

Rassismus rechtfertigt Ungleichheit

So konnte man gewissermaßen den Menschheitsbegriff, der ganz wichtig wurde im 18. Jahrhundert, harmonisieren mit der faktischen Ungleichbehandlung, Versklavung von Afrikanern und Deportierung von Afrikanern schon seit dreihundert Jahren. So kamen diese Rassenhierarchien zustande, die dann entwickelt worden sind. Ich glaube, dieser Zusammenhang spielt in gewisser Weise heute noch eine Rolle. Denn im 18. Jahrhundert gibt es da eine große Menschheit, zu der alle dazu gehören. Heute ist es die Globalisierung. Eigentlich leben wir alle in einer Welt. Aber umso mehr müssen wir doch irgendwie unsere partikularen Zugehörigkeiten neu stabilisieren und begründen. – Und da sucht man nach Konzepten. Und der Rassismus ist eine besonders radikale Form, diese Ungleichheit im Horizont einer allgemein angenommenen Gleichheit zu begründen. Das funktioniert eben über die Biologie, weil gesagt wird: Alle sind gleich, aber da gibt es intern Unterschiede, auf die man achten muss.
Deutschlandfunk Kultur: Ich sage es jetzt nochmal in einfacher Sprache: 18. Jahrhundert haben Sie genannt, Herr Geulen. Ich nehme an, Sie meinen die Französische Revolution, Liberté, Égalité, Fraternité , also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber es sind dann doch nicht alle Menschen Brüder. Dafür brauchte man dann den Rassismus, um das zu rechtfertigen.
Christian Geulen: Richtig, genau, zur Begründung, zur Rechtfertigung.
Deutschlandfunk Kultur: Wobei es ja noch eine andere Quelle dieses Wortes Rasse gibt. Das habe ich in Ihrem Buch "Geschichte des Rassismus" gefunden. Das fand ich sehr erstaunlich. Im 16. Jahrhundert - da geht's auch wieder um Frankreich - gab es den Streit über das Verhältnis zwischen Geburts- und Amtsadel. Da wurde dann unterschieden zwischen der noblesse de race und der noblesse de robe. Also, da ging es dann los, dass der Begriff Rasse sich überhaupt in Europa verbreitet hat.
Das finde ich schon verrückt. Also, wer heute das Wort Rassismus benutzt, wer denkt daran, dass das mal auf den französischen Adel zurückging?
Christian Geulen: Genau. Das hat etwas mit der allmählichen Herausbildung neuzeitlicher Staatsformen zu tun, wo plötzlich nicht mehr dieses Privileg des Adels, einfach qua Geburt die herrschende Klasse oder der herrschende Stand zu sein, galt. Das löste sich langsam ein wenig auf. Der Staat brauchte Wissensformen und bestimmte Fähigkeiten, die eher aus der bürgerlichen Schicht kamen. Dann wurden die ja gewissermaßen qua Berufswahl in einen Quasi-Adelsstand erhoben. Dagegen hat sich natürlich der alte Adel gewehrt und nochmal ganz massiv betont, dass Adel etwas ist, das sich im Blute vererbt. Das stand gewissermaßen so nebeneinander. Und die Debatte ist letztlich in allen ständischen Gesellschaften quer durch Europa geführt worden und hat eben sehr stark zur Verbreitung dieses Konzepts einer blutsmäßigen Herkunft, in diesem Fall sozialer Schichten und nicht verschiedener europäischer oder außereuropäischer Rassen, sondern tatsächlich sozialer Schichten, geführt.

Rassismus ohne Rassen – das geht

Deutschlandfunk Kultur: In Dresden läuft ja zur Zeit im Deutschen Hygienemuseum die Ausstellung "Rassismus – die Erfindung von Menschenrassen". Sie, Herr Prof. Geulen, sind der wissenschaftliche Berater. In dieser Ausstellung wird sehr großer Wert auf die Feststellung gelegt, dass es keine Menschenrassen gibt.
Ich habe mich gefragt: Ist denn das überhaupt bedeutsam für den Rassismus, also für die gewaltsame Ausgrenzung bestimmter Gruppen, die Tatsache, gibt es jetzt Menschenrassen oder nicht, wie es Pferderassen oder Hunderassen gibt?
Christian Geulen: Als notwendiges Element, da würde ich Ihnen zustimmen, ist es eigentlich nicht unbedingt nötig. Ich verweise nochmal auf das, was ich eben sagte. Dieser Rassismus ohne Rassenbegriff, der heute eigentlich dominant ist, funktioniert genauso. Aber in früheren Zeiten hat doch der Rassismus eine ganze Menge an Plausibilität bezogen aus dieser auch wissenschaftlich begründeten und dann verbreiteten und popularisierten Auffassung, es gäbe tatsächlich ganz objektiv feststellbare Rassen.
Ganz ist das auch noch nicht vorbei. In der Bevölkerungsforschung des 20. Jahrhunderts und bis heute kann man immer wieder so Wellen sehen. Mal wird das alles komplett abgelegt. Und dann kommen immer wieder neue Studien, die sagen: Na ja, aber wir haben jetzt auf genetischer Ebene doch festgestellt, dass es da bestimmte Unterschiede gibt. – Also, man versucht, daran ein Stück weit festzuhalten.
Und ich glaube, es hat vor allen Dingen was mit der wissenschaftlichen Begründung, mit der Wissenschaftlichkeit dieses Anspruchs zu tun, wodurch dann auch in der Popularisierung die Leute sagen können: Ja, das ist doch so. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass es die gibt. Und damit muss man jetzt irgendwie umgehen.
Deshalb war es uns in der Ausstellung sehr wichtig zu betonen, dass es im Grunde Nomenklaturen sind, dass es Benennungs- und Theorieansprüche sind, diese Überlegungen, auch in der Naturwissenschaft, ob es nun Rassen gibt oder nicht, und dass man weg davon kommt zu meinen, es handele sich wirklich um ein Naturphänomen. Das ist völliger Unsinn.
Deutschlandfunk Kultur: Die Wissenschaft scheint ja in der Verbreitung oder auch überhaupt erst in der Ausbildung des Rassismus ja ohnehin eine sehr, sehr große Rolle gespielt zu haben.
Christian Geulen: Ja.

Evolutionstheorie verlieh dem Rassismus eine andere Dynamik

Deutschlandfunk Kultur: Man kann in eben dieser Ausstellung alle möglichen Instrumente sehen, mit deren Hilfe im 19., aber auch noch im 20. Jahrhundert die Menschen vermessen und katalogisiert worden sind, also ein – ich glaube – Kraniometer heißt es, womit dann die Kopfform vermessen wurde, der Körperbau, die Gesichtszüge, die Hautfarbe natürlich usw. – Woher rührte denn überhaupt dieses Bedürfnis, so eine Ordnung in die Menschheit zu bringen?
Christian Geulen: Ein Ursprung, darüber haben wir schon geredet, ist dieses 18. Jahrhundert. Französische Aufklärung, der Universalismus, ja, aber es gibt doch eine Binnenordnung - und die müssen wir neu begründen. Dafür diente der Rassenbegriff.
Es geht nicht nur darum, im modernen 19., 20. Jahrhundert gewissermaßen eine Ordnung herzustellen. Das haben wir als erstes im Kopf. Also, Rassismus ist, wenn man sagt, es gibt drei, vier, fünf verschiedene Rassen. Und die unterscheiden sich in hierarchischer Ordnung – fertig.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Charles Darwin, mit der Evolutionstheorie kommt ein ganz anderes Moment hinzu, wo die Wissenschaft selber nochmal herausgefordert wird, nämlich die Einsicht, dass diese Rassen eben nicht von Natur aus - wenn man jetzt mal sie annimmt als biologische Einheiten - unwandelbar sind, nicht immer schon da waren, nicht ewig sein werden, sondern ganz offenbar sich evolutionsmäßig so wie alle anderen Tierarten auch entwickeln. Und das tun sie nach Darwin im Kontext des berühmten Überlebenskampfes und des Kampfes ums Dasein. Das heißt, sie tun es letztlich in Konkurrenz gegeneinander.
Durch diese Evolutionstheorie hat der Rassismus auch nochmal eine ganz andere Dynamik gekriegt. Denn man konnte sich gewissermaßen ab diesem Zeitpunkt gar nicht mehr auf diese Naturgegebenheit der Rassen verlassen, sondern musste jetzt Wege finden: Wie verhalten wir uns politisch, gesellschaftlich und kulturell am besten, um unsere Rasse so rein wie möglich, so stark wie möglich und so erfolgreich wie möglich zu halten? Dadurch war die Wissenschaft nicht mehr nur eine Art Legitimationsinstanz und Rechtfertigungsinstanz, sondern immer wieder hat sie gewissermaßen Anleitungen formuliert, wie man rassenpolitisch vorzugehen habe, damit aus der eigenen Nation, Kultur, Gesellschaft eine anständige rassische Einheit wird.

Selbstvergewisserung durch Hass auf andere

Deutschlandfunk Kultur: Der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin hat in einem Fernsehinterview in den 60er Jahren gesagt – ich zitiere wörtlich: "I am not your nigger. I am a man.": "Ich bin ein Mensch." Und Baldwin fährt fort, wenn die Weißen aus ihm einen Nigger machten, dann brauchten sie ihn. Und sie sollten sich fragen, warum.
Dann fragen wir Weiße uns das mal, Herr Geulen. Wozu brauchen wir gute und schlechte Rassen, Untermenschen und Menschen? Wirklich nur, um unseren eigenen Reichtum und die Armut der anderen zu rechtfertigen?
Christian Geulen: Das ist mit Sicherheit nach wie vor eine Sache. Aber ich glaube, das ist nicht das Einzige. Sondern es handelt sich hier auch tatsächlich um tiefer gehende Mechanismen oder Versuche, die eigene kulturelle Identität zu sichern - wobei die weiße männliche heterosexuelle Identität ja im Grunde die ist, die seit dem 18. Jahrhundert als das Dominante, Weltbeherrschende steht. Und dann gibt es die anderen, die dagegen stehen. Aber es ist trotzdem eine.
Um sie zu definieren, um sie in dieser Zugehörigkeit tatsächlich zu stabilisieren und auch ein Stück weit auch zu verewigen, könnte man sagen – so jedenfalls funktioniert die Ideologie, ich sage nicht, dass das grundsätzlich so ist, aber in der Ideologie funktioniert es so –, wir müssen uns gegen bestimmte andere, die eine Gefahr darstellen, die eine Bedrohung darstellen, und zwar in ihrer schieren Existenz, zur Wehr setzen.
Ich glaube, dass viele Formen des Rassismus, gerade im 20. Jahrhundert – und Baldwin ist da ein gutes Beispiel – damit zu tun haben, dass der Hass auf das Andere tatsächlich immer auch ein verzweifelter Versuch der Bestärkung, der Verewigung, der Selbstversicherung der eigenen Identität ist, gerade in der weiß-europäisch geprägten dominanten Gruppe, weil die gewissermaßen eigentlich keine solche ganz eigene Identität hat, sondern in der Abgrenzung zu anderen sich selbst – im Grunde ist das seit dem 18. Jahrhundert beobachtbar – versucht neu zu definieren.
Das muss irgendwann mal durchbrochen werden, indem man die Ansprüche, die seit der Aufklärung formuliert worden sind, nämlich Menschheit, Universalismus, Gleichheit in der Vielheit und Vielfalt, dass man das tatsächlich ernst nimmt. Dabei gibt es große, große Widerstände, die auch gerade heute wieder sehr sichtbar sind.

"Eine der flexibelsten und anpassungsfähigsten Ideologien"

Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht müsste man dann ja auch erst einmal die Frage erklären, wie man sonst zu einem Prozess der Selbstvergewisserung kommt, wie Sie gerade gesagt haben. Denn das erklärt ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Ihrer Ansicht nach auch den anhaltenden Erfolg des Rassismus. Sie haben es schon erwähnt. Der kommt heute – in Deutschland zumindest – aus, ohne dass der Begriff Rasse groß gebraucht wird. Rechtsradikale sehen heute in jedem Muslim den Feind. Da brauchen wir nicht mehr von Rassen zu sprechen. Daran sieht man ja, wie anpassungsfähig diese Ideologie ist.
Christian Geulen: Ja, genau. Das ist ein wesentliches Merkmal und gleichzeitig eines, wo ich sehr wichtig finde, dass man das immer wieder betont, dass es auch sehr schwer ist zu behaupten, es gäbe da so einen Rassismus, der ist in früheren Zeiten, kolonialer Kontext und Nationalsozialismus, ganz schlimm gewesen und wir hätten ihn heute irgendwie überwunden. – Ich halte den Rassismus inzwischen für eine der wirklich flexibelsten und anpassungsfähigsten Ideologien, die es überhaupt gibt. Das ist, glaube ich, einer der Gründe, warum wir ihn nicht los werden.
Und eines der Motive heute – weshalb diese rassistischen Denkweisen gewissermaßen immer wieder auch neu reaktiviert werden –, hat natürlich schon mit der von uns allen beobachteten Auflösung etwas älterer Formen zu tun, also, die prekäre Rolle des Nationalstaats im Kontext der Globalisierung. Gibt es noch so etwas wie nationale Heimat und ähnliches? Seit Jahren und Jahrzehnten gibt es da ein Gefühl, dass das so ganz nicht mehr funktioniert und dass man eigentlich über Alternativen, neue Zugehörigkeiten nachdenken muss. Auch im Kontext Europas: Gibt es so etwas wie eine europäische Identität? Ist die lebbar und kann die irgendwann entstehen oder nicht? Das sind natürlich alles Auflösungserscheinungen.
In dem Augenblick, wo man davon irritiert wird oder verängstigt ist, bietet der Rassismus – egal auf welcher Ebene, das kann von kleinen Nachbarschaften bis zu ganzen kontinentalen Kontexten reichen – gewissermaßen eine ideologische Möglichkeit, jetzt mal rasch in der Anfeindung und Ausgrenzung und in Abgrenzung von anderen plötzlich zu sagen, ja, das sind wir!

Biopolitik auf AfD-Wahlplakat

Deutschlandfunk Kultur: Also, Sie würden jetzt schon sagen, dass wir zurzeit eine Renaissance des Rassismus erleben? Zumindest sehen wir ja, rechtspopulistische Bewegungen erhalten in vielen Ländern großen Zulauf.
Christian Geulen: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Und Sie sehen die Ursache darin, dass wir gerade in einer Zeit – sagen wir mal – der historischen, na vielleicht wollen wir nicht gleich Umwälzung sagen, aber doch des historischen Wandels, gesellschaftlichen, politischen Wandels leben? Und das ist der Grund dafür?
Christian Geulen: Das macht es zumindest attraktiv. Natürlich verzichten die meisten rechtspopulistischen Bewegungen heute hier und anderswo sehr bewusst darauf, jetzt tatsächlich mit direkt rassistischen Aussagen an die Öffentlichkeit zu gehen und ähnliches. Da muss man schon gewissermaßen Ku-Klux-Klan sein, die machen das immer noch. Das ändert aber nichts daran, dass die Denkweise, wenn man darauf achtet, wie die Logik funktioniert, wenn es darum geht, ja, wer ist denn das eigene Volk usw., dass dahinter natürlich immer dieser Abgrenzungsmechanismus existiert.
Ein Beispiel nur: In der letzten Bundestagswahl gab es ein doch mich wirklich erschreckendes Wahlplakat der AfD damals, darauf eine schwangere blonden Frau abgebildet. Darüber stand: "Neue Deutsche? Machen wir selber". Das heißt also, nur durch die biologische Reproduktion kann sozusagen die Reinheit unserer Kultur erhalten bleiben. – Das hat gar nichts mehr mit Kultur zu tun. Das ist tatsächlich das, was man Biopolitik nennt.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sprechen von Abgrenzungsmechanismus. Das sieht man auch an den jüngsten Flüchtlingsbewegungen. Die könnte man ja auch ganz anders lesen als die – ich sage jetzt mal – Ausländerfeinde es tun. Man könnte die ja auch lesen, dass man sieht: Guckt mal, was allen Menschen doch gemein ist, nämlich das Bedürfnis nach Frieden, nach Sicherheit, nach Arbeit, nach Gemeinschaft. Sie wird aber natürlich nicht so gelesen, sondern eben als ein Beleg – das geht schon über Ausländerfeindlichkeit hinaus – tatsächlich der rassistischen Theorie, wonach es eben überlegene Rassen und Kulturen gibt. Also, das ist unsere. Und deswegen wollen die eben auch alle zu uns.
Christian Geulen: Ja. Das finde ich besonders in Kontexten, wo über die Flüchtlingskrise direkt geredet wird, wenn es etwa um die Ertrunkenen im Mittelmeer geht. Ich weiß nicht, wo die Zahl für dieses Jahr im Moment liegt, 1.600 oder so. Wenn man darüber manchmal mit Leuten spricht, dann kommt tatsächlich genau diese Vorstellung raus: Na ja, hier können sie nicht hin. Und wenn sie nicht losgegangen wären, so hat mir kürzlich jemand gesagt, wenn sie überhaupt nicht geflüchtet wären, dann wären sie auch nicht im Mittelmeer ertrunken.
Dahinter steckt die Auffassung, dass das gewissermaßen Völker sind, wenn sie es nicht selber schaffen, ihre Gesellschaft zu stabilisieren, fortschrittsmäßig anzupassen sozusagen ans europäische Modell, dann haben sie es auch nicht anders verdient. Da steckt eine Asymmetrie in der Wahrnehmung anderer Menschen drin, von der ich sagen würde, die rührt letztlich aus einer langen Tradition rassistischen Denkens her. Das ist nicht nur ein unmittelbarer Effekt, sondern sehr bewusst nimmt man auf dieses rassistische Denken Bezug, ob man es direkt ausspricht oder nicht, um sich selber zu sagen, wenn die ertrinken, haben sie halt Pech gehabt.

Die gleiche Problematik gab es in den 1990er-Jahren

Deutschlandfunk Kultur: Aber da kommen wir dann an den Punkt: Wie könnten denn heutige politische Strategien gegen den Rassismus aussehen? Also, es gibt eine lange Geschichte des Widerstands gegen Rassismus, eine blutige Geschichte zumeist. Und was machen wir heute? Mit Aufklärung allein, es gibt übrigens keine menschlichen Rassen, ist es in so einem Fall ja nicht getan.
Christian Geulen: Nein, damit ist es ganz bestimmt nicht getan, dann wäre die Ausstellung erstaunlich effektiv. Ich glaube, dass wir uns bewusster darüber werden müssen, dass die Frage kollektiver Zugehörigkeit heute, und zwar nicht nur wegen des Rassismus, sondern tatsächlich auch im objektiven Draufblick auf unsere gegenwärtigen Lebensverhältnisse, prekär geworden ist. Und zwar angefangen von der Diversität in unseren Gesellschaften, als auch der Frage, wie gehen wir politisch mit denen um, was ist mit Staatszugehörigkeit und ähnlichem.
Was mich wundert im Moment, ist, dass jetzt angesichts der neuen Phänomene Rechtspopulismus und bestimmter Sachen, die so durch die Medien gehen, bisweilen vergessen wird, dass wir diese Debatte eigentlich schon seit langem führen. Ich zum Beispiel bin nach wie vor ein recht leidenschaftlicher Verfechter der Idee multikultureller Gesellschaften. Der Begriff des Multikulturalismus ist aber in den späten 90er-Jahren irgendwann mal gewissermaßen als Unwort hingestellt worden. Das würde nicht funktionieren, das sei Quatsch. Und damit hat man das gewissermaßen einfach vergessen.
Aber dabei ist die Problematik, mit der wir es heute zu tun haben, nicht viel anders als diejenige etwa in den 90er-Jahren nach den Anschlägen von Mölln und Solingen, die Debatte über das neue Staatszugehörigkeitsrecht in Deutschland, was dann immerhin auch reformiert worden ist. Wir haben die gleichen Debatten damals geführt. Die Frage, was heute gemacht werden kann – ist vielleicht auch eine historische Berufskrankheit, aber ich würde nochmal zurückgucken gewissermaßen: Wo waren wir denn schon mal in Debatten? Was gab es denn für Vorschläge? Das Thema ist ja nicht erst jetzt da, sondern es ist eigentlich seit 200 Jahren da. Und es gab immer wieder Überlegungen gewissermaßen, was man dagegen machen will bzw. wie man in einer sich globalisierenden vernetzten Welt so etwas wie partikulare Identität und Zugehörigkeit noch denken kann, ohne dass das gleich diese rassistisch-biopolitischen Ausgrenzungsmechanismen zur Folge hat.
Es gibt da einiges. Da würde ich eher zunächst mal etwas zurückgucken, anstatt jedes Mal neu zu sagen: Ja, es ist ganz neu. Und was machen wir jetzt?

Das Privileg, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen

Deutschlandfunk Kultur: Ich blicke nochmal auf die Ausstellung in Dresden. Da gibt es eine Installation mit drei Spiegeln, die mir gut gefallen hat. Auf jedem der Spiegel erscheint dann ein Schriftzug. Auf dem ersten Spiegel steht: "Wenn eine schwarze Frau morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht sie eine schwarze Frau." Auf dem zweiten Spiegel steht: "Wenn eine weiße Frau morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht sieh eine Frau." Und auf dem dritten Spiegel steht: "Wenn ein weißer Mann morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht er einen Menschen."
Da sind wir bei dem, was Sie vorhin sagten, das dominante kulturelle Modell seit dem 19. Jahrhundert ist weiß, männlich, heterosexuell (davon war jetzt nicht die Rede). Aber nun nochmal zu dem Punkt: Warum sollten diese "Menschen" denn ein Interesse daran haben, dieses privilegierte Menschsein mit anderen zu teilen?
Christian Geulen: Das müssen Sie nochmal erklären. Wer sollte ein Interesse daran haben?
Deutschlandfunk Kultur: Der weiße Mann, der mächtige, der dem role model entspricht. - Ich kann es auch anders formulieren: Es gibt ja eine Antirassismusbewegung, die seit einiger Zeit den Fokus ihrer Arbeit darauf legt, auch den vorgeblich nicht rassistischen Weißen - also, Ihnen, Herr Geulen, und mir, die wir sagen, wir sind ja nicht rassistisch, wir sind ganz weltoffen und überhaupt -, also, uns klar zu machen, dass auch wir vom Rassismus profitieren, uns klar zu machen, welche Privilegien wir eigentlich genießen, zum Beispiel das schöne Privileg, dass wir uns aussuchen können, ob wir uns mit Rassismus auseinandersetzen wollen oder nicht. Das Privileg haben davon Betroffene nicht. Oder ich nehme mal an, dass Sie genauso selten wie ich in verdachtsunabhängige Personenkontrollen geraten.
Das ist eine Debatte über diese Privilegien, die ja für Weiße schnell ungemütlich werden kann. – Warum sollten wir uns der stellen?
Christian Geulen: Jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Zunächst mal, glaube ich, ist es wirklich ganz wichtig, dass man eigentlich heute kaum mehr oder es zunehmend und richtigerweise schwieriger wird, kurz mal eine Geschichte des Rassismus formulieren oder auch schreiben kann, wie ich es versucht habe, oder solche Ausstellungen zu machen, ohne sich darüber klar zu sein, aus welcher Position man das macht, dass man das eben aus einer sehr privilegierten Position heraus macht. Das war auch im Vorbereitungsprozess der Ausstellung ein großes Thema und wichtiges Thema.
Insofern ist das, glaube ich, ein sehr wichtiges, neueres Element, dass das auch ausformuliert wird. Denn wozu es führt, ist meistens ein tatsächlicher Dialog. Und man fühlt sich dann erst einmal ein Stück weit auch angegriffen. Man kann ja für sein eigenes Privilegiertsein nun auch wiederum nichts. Ich bin da hinein geboren. Da ist man aber schon wieder genau in der Kategorie, die man eigentlich kritisch hinterfragen will. Aber letztlich, glaube ich, können daraus auch sehr, sehr wichtige Kommunikationen entstehen und dann ein Streit entstehen, von dem ich tatsächlich sagen würde, der kann langfristig die Verhältnisse besser machen, wenn man das eben nicht sofort ausschließt und sich auf diesen Streit tatsächlich einlässt.

Homogene Gesellschaften sind langweilig

Aus persönlicher Perspektive würde ich noch hinzufügen wollen, dass ich eigentlich nicht in einer rein weißen homogenen Gesellschaft leben möchte, weil das nämlich langweilig ist. Und die Formen, die ich kenne aus eigener Erfahrung, wo die Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit sich auf ein ganz bestimmtes, wenn auch privilegiertes, aber sehr homogenes Feld beschränkt, sind viel weniger interessant und gewissermaßen auch lebenswert, als eine Gesellschaft, in der sich Kulturstile mischen.
Was das wiederum auch auf anderer Ebene, auf ökonomischer und sonstwie für Vorteile hat, das ist ja schon auch oft beobachtet worden. Aber auch tatsächlich aus einer persönlichen Perspektive möchte ich lieber in einer diversen, in einer multikulturellen Gesellschaft leben. Dafür würde ich auch gerne den Streit um Privilegien in Kauf nehmen. Ich meine, letztlich ist moderne Demokratie dazu da, diesem Streit auch eine Form zu geben und das auszutragen.
Man darf aber nicht davor zurückschrecken und sagen, um Gottes Willen, wir brauchen jetzt eine Ordnung, und die einen gehören dahin, die anderen hierhin. Das ist, glaube ich, das Schlimmste, was wir machen können. Damit bewahren wir vielleicht ein Stück weit und für eine Zeit lang unsere vom Kolonialismus herrührende privilegierte Stellung, auf Dauer aber wird das in möglicherweise kriegerische Gewalt münden, die wir so mit Sicherheit nicht wollen. Insofern ist dieser Streit, der da jetzt geführt wird, sehr wichtig.

Gibt es Gesellschaften ohne Rassismus?

Deutschlandfunk Kultur: Herr Geulen, wir haben eingangs darüber gesprochen, dass Rassismus ein Produkt menschlicher Kultur sei, weder universal noch natürlich. – Wo gibt es denn menschliche Gemeinschaft ohne Rassismus?
Christian Geulen: Das ist heutzutage schwierig. Wir leben in einer globalisierten Gesellschaft. Es gibt seit hundert, zweihundert Jahren einen intensiven Transfer von Wissensbeständen, von Vorstellungen, anfänglich vielleicht nur von Europa ins Außer-Europa, aber das hat sich dann schnell auch gedreht, so dass ich nicht einen Ort benennen könnte, von dem man sagt, da gibt es keinen oder da kann es gar keinen Rassismus geben.
Ich glaube aber schon, dass es Modelle gibt, wie man nicht nur auf gesellschaftlich alltäglicher Ebene, sondern auch politisch eine Gesellschaft sozusagen organisieren kann und gestalten kann, in der tatsächlich hochgradig zunächst mal scheinbar einander fremde kulturelle Tradition aufeinandertreffen. Das muss nicht immer in Mord und Totschlag enden. Und es muss auch nicht immer darauf hinauslaufen, dass man nach der Homogenisierung schreit und sagt, wir müssen das wieder rückgängig machen, diese Vermischung, sondern es gibt durchaus Beispiele und auch Zeiten, in denen ein solches Zusammenleben durchaus möglich war.
Aber wir müssen heute, glaube ich, in Europa und anderswo auch, sehr viel expliziter darüber nachdenken, wie wir mit der Vielheit von kulturellen Traditionen tatsächlich umgehen und ihnen politische Ausdrucksformen geben können, damit dann ein Zusammenleben auch noch möglich ist.
Deutschlandfunk Kultur: Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch, Herr Geulen.
Christian Geulen: Ich bedanke mich.
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