Gespräche und Geschichten über das Gesicht

Von Angesicht zu Angesicht

29:12 Minuten
Die Illustration zeigt einen Mann mit einer Emotionsmaske. Er läuft an einer Reihe von Emotionsmasken für jeden Tag der Wochen hinter ihm an der Wand entlang.
Der Trend geht hin zum Einheitsgesicht. © IMAGO / Ikon Images / IMAGO / Skopein
Moderation: Dorothea Westphal · 30.09.2022
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Wie sehen wir uns selbst, wenn wir in den Spiegel schauen? Was macht es mit uns, dass das eigene Gesicht so allgegenwärtig ist wie nie zuvor in der Geschichte? Dem gehen Luzia Braun und Ursula März in ihrem Buch „Sich sehen“ nach.
Oft stimmt das, was wir sehen, gar nicht mit dem überein, was wir fühlen oder über uns denken oder damit, wie andere uns sehen. Edgar Allan Poe schrieb einmal, es graue ihm vor Spiegeln und vor dem Doppelgänger, der ihn aus dem Spiegel heraus ansehe.
Für ihr Buch "Sich sehen. Gespräche über das Gesicht" haben die Kulturjournalistinnen Luzia Braun und Ursula März mit 19 prominenten und nicht prominenten Menschen gesprochen und sie in den Spiegel schauen lassen.

Zuerst ein Schock

Ja, das sei ein Schock für die meisten gewesen, erzählt Luzia Braun. Vor jedem Gespräch stellten die beiden einen Handspiegel auf und baten die jeweilige Person, zu beschreiben, was sie sieht.

„Da haben natürlich erst einmal alle durchgeatmet. Es ist ja wirklich schwer, über das eigene Gesicht zu sprechen. Und es ist noch schwerer, das Gesicht zu beschreiben. Manche haben in der dritten Person gesprochen: 'Sie ist etwas müde, er sieht so und so aus.' Erst unser zehnter Gesprächspartner hat gesagt: 'Ich sehe mich.' Und das war ausgerechnet der gesichtstätowierte Johannes Hohlfeld. Der hat das Gesicht und den Körper komplett tätowiert. Er hat also das Gesicht selbst gestaltet, kann man sagen, und der hat sich selbst am ehesten gesehen. Alle anderen hatten ein eher distanziertes Verhältnis dazu.“

Luzia Braun, Moderatorin und Autorin

Was sehe ich da eigentlich?

Den Spiegeltest habe sie natürlich auch mit sich selbst gemacht, sagt Ursula März. „Das macht, glaube ich, jeder. Vor dem Spiegel zu stehen und sich zu fragen, was sehe ich da eigentlich? Es auszusprechen, ist aber noch mal etwas ganz anderes. Da kommt eine merkwürdige Mischung zusammen, glaube ich, aus Scham und Eitelkeit. Niemand will behaupten, er sehe schöner aus, als er oder sie es wirklich tut.“
„Das ist ganz komisch“, sagt Luzia Braun auf die Frage, wie sie ihr Gesicht beschreiben würde:
„Ich kann mein Gesicht viel schwerer beschreiben als mein Verhältnis zu meinem Gesicht. Also bei Peter Handke heißt es ja: Im Spiegel: der Feind. Ich würde sagen im Spiegel: die Freundin. Also, ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu meinem Gesicht.“
Gefremdelt habe sie während ihrer Zeit als Moderatorin der Sendung „Aspekte“ beim ZDF mit ihrem medialen Double und sich nur schwer darin erkannt:

„Das ist das Raffinierte, was ich aber erst bei der Beschäftigung mit dem Buch begriffen habe, dass es einfach einen Unterschied macht, ob man sich sieht, so, wie man sich sehen will, oder ob man sich sieht, wie man glaubt, dass die anderen einen sehen. Und ob man vielleicht einer Illusion aufsitzt, zu glauben, es gäbe irgendetwas ganz toll Authentisches, das sich da auch in der öffentlichen Abbildung zeigen müsse.“

Luzia Braun, Moderatorin und Autorin

Gesicht als Bühne der Seele

Die Frage nach dem eigenen Gesicht habe bei den Gesprächen schnell zu ganz anderen Themen geführt.
„Das Gesicht ist schon so etwas wie das mimische Alphabet unserer Emotionen oder, wie man sagt, die Bühne der Seele und schon auch eine optische Chronik unseres Lebens“, sagt Ursula März.
„Man sieht im Gesicht doch auch den sozialen Status. Das heißt also, das Gesicht ist ein kleines bisschen auch der biografische Kontostand.“

Der Spiegel als Demütigungsinstrument

Das Thema, das sich beispielsweise aus dem Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk ergeben habe, seien die kulturellen Veränderungen durch den Einzug des Spiegels ins tägliche Leben gewesen. Luzia Braun erzählt:
„Das Spannende an der These von Sloterdijk über den Spiegel ist ja, dass er den Spiegel als Demütigungsinstrument beschreibt.“

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Der Spiegel sei eigentlich bis zum 19, Jahrhundert der Aristokratie vorbehalten gewesen. Als dieser dann allen zugänglich wurde, sei das mediengeschichtlich ein unglaubliches Event gewesen, dass die Menschen sich plötzlich sehen konnten.
Er habe auch die abgründige Anekdote von einem Mädchen erzählt, das im Schrank eines Soldaten, in den das Mädchen verliebt ist, einen Spiegel findet und erkennt, dass sie hässlich ist. Und dieser Abgrund, in den man da im Spiegel schaue, das mache ihn zu einem Instrument auch der Demütigung und der Unterwerfung.

Spielfeld eines kulturellen Umbruchs

Was folgt aus der Tatsache, dass wir uns heutzutage alle ständig im Spiegel, auf Fotos, Facebook oder im Zuge der Pandemie bei den Videokonferenzen selbst sehen können?
„Je besser wir unser Gesicht kennen, und wir kennen es ja nun wirklich gut, desto fremder wird es zugleich“, das sei eine der Thesen, die sich aus den Gesprächen ergeben hätten, sagt Ursula März.
Und das Gesicht sei zu etwas geworden, bei dem man sich fragen könne, was man daran machen könne – wie bei einem Instrument, das ständig neu gestimmt werden müsse.

Konflikt zwischen Authentizität und Künstlichkeit

So habe sich die Zahl der kosmetischen Eingriffe am Gesicht seit der Pandemie erhöht, besonders der Eingriffe an den Augen, die man wegen der Masken vor allem sehen könne.
„Aber auch durch die Zooms hatte man ja die Gelegenheit, sich ununterbrochen ins eigene Gesicht zu sehen und festzustellen: 'Meine Güte, das darf doch nicht wahr sein, diese hängenden Bäckchen, das kann ich jetzt wirklich nicht mehr sehen. Jetzt ist aber mal Schluss damit“", ergänzt Luzia Braun.
Die Pandemie habe die Schizophrenie im heutigen Verhältnis zum Gesicht herausgearbeitet, den merkwürdigen Konflikt zwischen dem Anspruch, natürlich sein zu wollen, der authentische Mensch, der ja auch vermisst wird, weil man immer nur auf den Rechner schaut oder immer nur die obere Gesichtshälfte sieht, und auf der anderen Seite dem Kult der Künstlichkeit.
„Es ist ein Widerspruch“, sagt Ursula März. „Ich glaube, dass sich in diesem Widerspruch die menschliche Spezies überhaupt befindet. Sie befindet sich irgendwie auf der Schwelle zum künstlichen Wesen. Und ich glaube, dass das Gesicht da quasi das Spielfeld dieses kulturgeschichtlichen Umbruchs auch ist.“

Der Trend zum Einheitsgesicht

Der Trend gehe zum sogenannten Einheitsgesicht, so eine der Thesen des Buches, befördert durch die sozialen Medien, bei Instagram und TikTok, wo es beispielsweise die Vereinheitlichung des Gesichtes durch Beauty Apps gebe.
„In Italien zum Beispiel gibt es diese Aktivistin Lorella Zanardo“, erzählt Luzia Braun. Die Journalistin, Autorin und Filmemacherin habe in Schulen erfahren, wie sehr Kinder darunter leiden, einem Ideal zu entsprechen zu wollen.
„Und sie geht so weit, zu sagen, das unverwechselbare individuelle Gesicht verschwindet und deswegen muss es geschützt werden. Und sie hat eine Anfrage gestellt bei der UNESCO, dass das Gesicht als immaterielles Weltkulturerbe geschützt werden soll.“
Auch in der Mode gebe es einen Trend zu einem eher standardisierten Einheitsgesicht, erfuhren Braun und März in ihrem Gespräch mit dem Modeschöpfer  Wolfgang Joop, dessen eigenes Gesicht zur Marke wurde für das Designimperium Joop. So sei statt des kantigen, ausdrucksstarken Gesichts in der Fashion, wie er sagt, inzwischen eher das durchschnittlich hübsche Gesicht gefragt.
Auch Mimik sei heute vor allem im Film und im Kino viel weniger gefragt als noch vor 30, 40 Jahren, meint auch die Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras, die wiederum ihr Gesicht als nicht händelbar beschreibt. Sie könne nicht verbergen, ob sie wütend oder traurig sei beispielsweise, könne sich nicht vornehmen, besonders cool auszusehen, wenn sie einen Raum betrete.

Das letzte Gesicht

Unter anderen geht es in dem Buch um das durch einen Unfall verbrannte Gesicht, um das verletzliche Gesicht des Boxers Axel Schult, um das Gesicht eines eineiigen Zwillings, um ein tätowiertes Gesicht, verhüllte Gesichter und letztlich auch bei dem Gespräch mit einem Bestatter um das tote Gesicht.
Dieses ähnele nicht etwa einem schlafenden Menschen. Der Tod sei keineswegs des Schlafes Bruder, erzählt Ursula März. Beim schlafenden Gesicht seien viele Gesichtsmuskeln noch aktiv, im Tod aber nicht mehr. Und Luzia Braun ergänzt mit einem Zitat von Durs Grünbein:
„Das Gesicht, sagt er, sei im Tod fertig mit den Geschäften der Reflexion wie mit denen der Expression. Es befindet sich in dem gleichen dinglichen Zustand wie eine ins Schloss gefallene Tür.“
(DW)

Luzia Braun und Ursula März: Sich sehen. Gespräche über das Gesicht
Galiani Verlag, Berlin 2022
348 Seiten, 26 €

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