Vom Werden und Vergehen des Individuums

Von Volkhard App |
Der französische Künstler Christian Boltanski beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Zusammenhang von Leben und Tod. Anhand von Foto-Installationen thematisiert er auch den Rest seines eigenen Lebens. "Bewegt" heißt eine neue Schau im Kunstmuseum Wolfsburg.
Ein großer, düster wirkender Installationsraum mit unzähligen alten Fotos: Babys, Hochzeitspaare und Männer in Wehrmachtsuniformen sind da zu sehen, aufgefundene Kinder, anonyme Menschen beim Feiern und im Urlaub. Und wie so oft bei Boltanski drängen sich Fragen auf nach der jeweiligen Biografie, den Erfahrungen, nach möglichen Täter- und Opferrollen. Was sind das für Menschen, und was ist aus ihnen geworden?

190 dieser Schwarz-Weiß-Fotos hat Boltanski dann noch einmal in blassen Tönen auf große, transparente Tücher drucken lassen. Die hängen nun in der riesigen Halle von der Decke herunter, einige bewegen sich auch an Schienen. Je nach Standort überlagern sich die Bilder. "Friedhof" nennt Boltanski den düsteren Installationsraum zum Auftakt, der auch zur hauseigenen Sammlung gehört, von einem "Geisterreich" spricht er bei der Präsentation dieser Tücher:

"In diesem Museum sehen Sie einen Friedhof, dort liegen die Körper - jedenfalls sind die Gesichter dieser Menschen zu sehen. Doch drumherum tanzen die Geister. Sie werden immer blasser - in ein paar Jahren werden sie verschwunden sein."

Weil die schwachen Fotoabbildungen auf den Tüchern für verblassende Erinnerungen an uns unbekannte Menschen stehen, sorgen sie durchaus für gemischte Gefühle. Der Künstler sieht es freundlicher - und auch Markus Brüderlin, der Museumsdirektor, hebt den eher positiven Charakter dieses großflächigen Ausstellungsteils hervor:

"Diese Luftigkeit, diese Leichtigkeit, mit der sich hier einzelne dieser transparenten Tücher bewegen, hat etwas sehr Zuversichtliches und letztlich auch Beruhigendes. Das war die Grundidee von Boltanski, die große, lichtdurchflutete Halle von Wolfsburg zu nehmen und dieses luftige Volumen mit diesen Stoffen zu füllen. So wie sie sich jetzt bewegen, hat es etwas ganz Leichtes."

Innerlich bewegt soll der Besucher beim Rundgang sein, der Ausstellungstitel bezieht sich also nicht nur auf die Mobilität einiger Tücher. Empathie zu schaffen, ist und bleibt die große Leistung dieses Künstlers: Er hebt Einzelne aus der Masse hervor, stellt Fragen und befasst sich grundsätzlich mit dem Werden und Vergehen des Individuums.

Gesammelte Herztöne

Um dieses Mitgefühl für die jeweils Anderen und für die Gattung zu erreichen, verwendet Boltanski nicht nur Fotos. Im Pariser Grand Palais vor zwei Jahren waren Kleidungsreste ausgebreitet und Herztöne zu hören. Diese akustischen Effekte spielen auch in Wolfsburg eine Rolle. Schon vor der Halle kann man in einer Kabine seine eigenen Herzschläge aufnehmen und in die Sammlung von Boltanski einspeisen lassen:

"Ich sammle Herztöne, weil sie bei jedem anders klingen. Jeder Mensch ist einzigartig - und zugleich so verletzlich. Diese Töne sind Symbol des Lebens und der Individualität. Ich habe schon 45.000 Beispiele in meiner Sammlung. Doch man kann nur den Herzschlag konservieren, nicht aber das Leben dieser Person bewahren. Beim Hören dieser Töne spürt man deren Abwesenheit stärker als ihre Gegenwart."

Der Künstler bleibt in diesem Archiv nicht ausgespart - in einer Nische der meditativ geprägten Ausstellung sind seine Herztöne unüberhörbar.

Sich selbst bringt er mit fortschreitendem Alter sehr direkt in seine Ausstellungen ein. In einer Projektion werden seine Porträtfotos aus vielen Jahren überblendet und machen es so möglich, sein Leben im Zeitraffer zu verfolgen.

Leuchtende Anzeigetafeln mit fortschreitenden Zahlen gab es schon auf der Biennale - wo die täglichen Geburten und Sterbefälle auf der Welt in Echtzeit registriert wurden. Auch in Wolfsburg steht ein solcher Kasten – hier jedoch läuft die Uhr anders: Mit einer zehnstelligen roten Zahl werden die Sekunden vermessen, die Boltanski bereits auf der Welt ist:

"In der Sekunde, in der ich sterbe, wird diese Maschine angehalten. Sie zeigt die Zeit an, in der ich auf Erden gewandelt bin. Es ist befremdlich zu sehen, wie die Sekunden vorüberrauschen, wie schnell die Zeit vergeht."

"Ich liebe das Leben"
So ist der eigene Tod in dieser anrührend inszenierten Ausstellung ein zentrales Thema des 1944 in Paris geborenen Künstlers. Mit einem Sammler hat er übrigens einen Deal abgeschlossen: Der bekommt als Werk die live mit vier Kameras aufgenommenen Bilder aus Boltanskis Pariser Atelier und zahlt dem produktiven Mann dafür eine Leibrente. Die zynische Pointe dabei ist: Je früher Boltanski stirbt, desto profitabler ist das Geschäft für diesen reichen Sammler, der auch als Zocker ausgewiesen ist. Für den Künstler scheint es aber nur eine Möglichkeit neben anderen zu sein, über das eigene Ende zu reflektieren:

"Es ist in dieser Gesellschaft ein Tabu, über den Tod oder auch nur über das Altern zu sprechen. Ich liebe das Leben und möchte solange unter den Lebenden sein wie nur möglich. Doch eines Tages muss ich sterben - und es ist doch besser, darüber zu sprechen, als diese Notwendigkeit zu verdrängen."

Christian Boltanski – Bewegt
Kunstmuseum Wolfsburg
Vom 2.3. bis zum 21.7.2013

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Der französische Künstler Christian Boltanski© AP Archiv