Vom Untergang des preußischen Militäradels

Rezensiert von Jörg Friedrich · 03.02.2008
Der 1878 geborene Kurt von Hammerstein wird 1930 zum Chef der Reichswehr ernannt. Doch die militärische Bilderbuchkarriere nimmt ein jähes Ende: 1934 wird er aus seiner Position entlassen. Hans Magnus Enzensberger erzählt in seiner literarischen Biografie die Geschichte dieses Mannes und seiner Familie.
Die Familie ist die Szene der Verwicklungen, Ödipus, Hamlet, Buddenbrooks. Sie widerspiegelt die lausigen Zeiten und das Zeitlose: den Krieg, die Not, die Gewalten, sowie den Gattungsroman, Mann und Frau, Kinder, Eltern, Jugend und Alter. Die neue Biographie des Generals Kurt von Hammerstein ist wahrhaft eine Familiengeschichte und die Vita der Familie der Untergang eines Standes, des preußischen Militäradels: zu verwandt mit Hitlers Zielen, um ihn zu verhindern und zu fremd, um nicht 1944 kaltgestellt und schließlich kaltgemacht zu werden.

Für Art und Tragödie dieser Geschlechter fehlt dem bundesdeutschen Biedermeier der Sinn. Die Volksgemeinschaft hat die Abstürze von 1945 wie 1989 mit Fleiß und Augenmass überwunden. Sie orientiert sich seither gottlob am Vorteilhaften. Es fehlt ihr von daher etwas an Charakter, den kaum einer vermisst, anders Hans Magnus Enzensberger, der sein Familienporträt derer von Hammerstein ganz dem Kriterium des Charakters widmet. Er erscheint bereits im Titel vermerkt als Eigensinn, dem Sinn für das Eigene, dem Selbstentwurf einer Natur; gleich ob ihr daraus Vorteil oder Nachteil erwächst, unbeirrt vom Geschwätz der Saison.

Der Text verteilt sich gleichmäßig auf den Protagonisten, von 1930 bis 33 Chef der Reichswehr, drei Söhne vier Töchter und deren Männer, den Schwiegervater. Höchst kontroverse Temperamente und Schicksale, die alle Enzensbergers Freude am Originellen teilhaftig werden: Adlige, die in den Dienst des Kommunismus treten, doch nicht als Diener, Revolutionäre, die eigentlich Bonvivants oder Organisationsfanatiker sind, höhere Töchter, die Spionageringen zustoßen. En passant sind gar sympathische Nazis erwähnt, die Regimegegnern aus der Klemme helfen.

Kurt von Hammersteins spezieller Charme, sein Phlegma, wird in kunstvollem Hell-Dunkel schraffiert. Dem Spuk der NSDAP hätte die Reichswehr 1932 fraglos ein Ende setzen können. In ihren obersten Rängen traf Hitlers Hasspredigt auf Stirnrunzeln. Hammerstein hielt den Menschen, der mit der Hundepeitsche umherlief und nichts als desorientierten Pöbel in Ekstase reden konnte, für einen Geistesgestörten. Manche Reichswehroffiziere dachten schon moderner, ekstatische Massen sind für den Krieg nicht übel, Präsident Hindenburg schwankte von einem Einflüsterer zum Nächsten, kurzum: die Stunde des konservativen Militärputschs. Vom Wähler war nichts mehr zu erwarten, er hatte die Gestörten ja zur stärksten Partei gemacht und die politische Klasse zerkochte in ihrem ewigen Ränkespiel. Hammerstein scheute ein Eingreifen, weil ihn zu viele Gegengründe plagten, überdies traute niemand dem Psychopathen seine raschen Erfolge zu, und so offenbarte sich der Handlungszwang erst im Nachhinein. Als 1938 es sich abzuzeichnen begann, dass dieser Führer Deutschland in den Ruin zu führen riskierte, blieb wenig zu handeln übrig. Das Offizierskorps war mehrheitlich zu dem Wundertäter übergelaufen, vertrauend, dass er damit fortfahre, andernfalls finis Germaniae.

Hammerstein bezweifelte, dass stetes Heilschreien vor Unheil schützt und demissionierte. Er hielt sich abseits und glaubte, dass das Reich nicht nur scheitern könne, sondern scheitern müsse, um wieder nüchtern zu werden. Er pflegte das Leben jenseits der Politik, hielt Kontakte zu den paar Missvergnügten im Generalstab und nahm bei Kriegsbeginn Truppenkommandos an. Er galt als außerordentlicher militärischer Genius und dachte nicht daran, sich dem Ruf zur Waffe zu entziehen. Wenn das Heer marschiert, begibt sich ein preußischer General nicht in den Schmollwinkel, weil ihm der Krieg nicht passt. Damit verrät er nicht sein Gewissen, das ist das Gewissen, sonst kann man den Beruf an den Nagel hängen und die Kriegführung daneben. Dem heutigen Verfassungspatrioten ist das nicht einsichtig, auch der geschichtliche Mensch nicht, der anders fühlt als er. Dann fühlt er eben verkehrt!

Enzensberger streift diese Banalitäten kaum, zumal Hammerstein letztlich mit keinem Kampfkommando betraut wurde. Hitler erwartete von seinen Offizieren kein Pflichtethos, sondern Enthusiasmus und Unterwerfung. Hammersteins Krebstod 1943 schnitt den Zwist von Pflicht und Vaterlandsliebe ab, den seine Söhne in der Stauffenberg-Verschwörung durchlebten. Ludwig, dem Stalingradkessel entkommen, wurde Anfang 1943 von dem Grafen Schulenburg angeworben, zwei Edelleute, die sich persönlich nicht näher kannten:

"Hammerstein, sind Sie bereit, sich an einer Aktion gegen Hitler zu beteiligen?" Meine Division saß in dem Kessel. Damals habe ich leichtfertigerweise in meinen Kalender geschrieben: 'Volkstrauertag für Stalingrad, man sollte den Kerl lieber erschießen.' Also habe ich natürlich ja gesagt."

Leider war das Natürliche nicht das Erfolgverheißende.

Kurt von Hammerstein scheiterte nicht an sich selbst, denn an seinem Platz waren ihm die Einsichten und Chancen verwehrt, das Verhängnis abzuwenden, dem ein Land sich preisgab, das geht den meisten so. Doch verzichtete er, in das allgemeine Geheul mit einzustimmen und soviel Rückgrat leisten sich wenige. Können Mehrheiten, Zeitgeist und Leithammel total schiefliegen?

Das Gegenbild zum fatalistischen Vater lieferten, was könnte erfrischender sein, die renitenten Töchter. Vermittelt durch ihre todschneidigen Geliebten gerieten sie in das Fahrwasser des Kommunismus, der unserem Begriff von Widerstand entspricht: Wachrütteln, aufklären, Massen mobilisieren. Dass die Rückseite dieses tapferen Kampfes der platteste Konformismus gegenüber einem anderen Irrenhaus war, nahmen die Aktivisten für nebensächlich. Sie sahen keine andere Wahl, hielten die roten Reichen geschlossen, saßen alsbald selbst hinter Stalins Schloss und Riegel, vor sich die überall gleichen stumpfsinnigen Folterknechte.

Der phlegmatische Vater mied vornehm das Falsche, die Töchter stürzten sich in dem Kampf und fanden dort keine anderen tauglichen Werkzeuge als die ihrerseits blutbeschmierten Hämmer und Sicheln. Was ist, im Strudel, die rechte Richtung?

Die Hammersteins hüllten, was ihnen Gewissen und Pflicht einst aufluden, danach in einverständiges Schweigen. "Das keinem Außenstehenden offensteht", so der Biograph. Die Nachwelt weiß nur, was sie von außen sieht, und das ist dann wirkungslos. Der Innenraum der Geschichte ist unbeschreiblich.

"Es bleibt ein ungesagter Rest, den keine Biographie auflösen kann; und vielleicht ist es dieser Rest, auf den es ankommt."

Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein oder Der Eigensinn - Eine deutsche Geschichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008