Vom Philosophen Karl Popper lernen

Pragmatisches Handeln statt ideologischer Rechthaberei

04:23 Minuten
Sir Karl Popper, aufgenommen im Jahr 1981 in Tübingen
Sein Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" machte den Philosophen Karl Popper berühmt. © picture-alliance / akg-images
Ein Kommentar von Marko Martin · 17.09.2019
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Am 17. September vor 25 Jahren starb der Philosoph Karl Popper. Gerade heute hat uns sein anti-totalitäres Werk wieder viel zu sagen, meint der Schriftsteller und Publizist Marko Martin – auch über das Aufkommen völkischer und reaktionärer Ideologen.
Als am 17. September 1994 der Philosoph Karl Popper im Alter von 92 Jahren starb, war das Kurzzeitgedächtnis der öffentlichen Meinung gerade wieder einmal damit beschäftigt, Krokodilstränen zu weinen und Plattitüden von sich zu geben. "Nie wieder", so der damalige Tenor, solle geschehen, was ein paar Monate zuvor im afrikanischen Ruanda passiert war, denn "unvorstellbar" sei jener Millionen-Genozid an den Tutsi gewesen, zu dem die Welt geschwiegen und Frankreich zuvor die Waffen geliefert hatte.
Wieder einmal versicherte man einander, in einer Welt zu leben, in der – "wie nie zuvor" – alte Gewissheiten zerbrochen wären und deshalb ein "radikaler Neuanfang das Gebot der Stunde" sei.
Gerade aber Karl Popper, 1902 in einer assimilierten jüdischen Familie in Wien zur Welt gekommen, hatte zeitlebens gegen solches Geschwätz angeschrieben – im Wissen darum, dass solcher zu nichts verpflichtender Alarmismus völlig ahistorisch war und darüber hinaus das Wegsehen vor kommenden Katastrophen bereits in sich barg.
Aus dem gleichen Grund hatte er, der einst vor den Nazis ans andere Ende der Welt ins neuseeländische Exil geflüchtet war, auch jener Euphorie misstraut, die nach dem Epochenumbruch von 1989/90 glauben machen wollte, nun sei das "Ende der Geschichte" erreicht und alle Länder und Staaten auf dem Weg in eine liberale Moderne.

Abgesang auf die liberale Demokratie

Erinnert jenes damalige Wechselspiel aus Illusion und Katzenjammer nicht bedenklich an unsere heutige Gestimmtheit? Dem undifferenzierten Lobgesang auf die Segnungen der Globalisierung ist längst das apokalyptische Adieu auf die liberale Demokratie gefolgt. Paradoxerweise zitieren dabei jene, die wie das Kaninchen auf die autoritäre Schlange starren, jenes Werk, das 1945 erschienen war und danach Karl Popper weltberühmt gemacht hatte: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde".
Zu lernen wäre da etwa, wie bereits zu Athener Beginn der Demokratie auch das Gegenläufige wirkungsmächtig war – der Wunsch nämlich, aus dem oft ungemütlich Offenen wieder in die dumpfe Wärme der Höhlen und in das Überschaubare von hierarchischen Stammesgesellschaften zu schlüpfen.
Und es waren keineswegs "frustriert Abgehängte", die sich für solche Reglementierung aussprachen, sondern Denker wie Platon, denen dann im Lauf der Jahrhunderte Philosophen wie Karl Marx und Hegel folgten. Wobei auch deren Zurichtungs-Phantasien intellektuell begründet waren: Denn angeblich kannten diese Herren (in der Tat: ausschließlich Männer) das sogenannte "objektive Bewegungsgesetz der Geschichte" und glaubten zu wissen, was "ihrem" Volk, ja der gesamten Menschheit gut zu tun habe.
Nun ist dieser scheinbar progressive Kontrollwahn in Gestalt völkischer Westentaschen-Ideologen von Stephen Bannon bis Björn Höcke als reaktionäre Travestie zurückgekehrt.

Kein Patentrezept, aber jede Menge Anregung

Für mantra-artig wiederholte FDP-Sprüche von der angeblichen Selbstheilkraft der Märkte taugt Popper ebenso wenig wie für rechts-linke Phantasmen von der allmächtigen Güte eines Umverteilungsstaates. Im Gegenteil: Mit seiner Erkenntnis, dass "ökonomische Macht fast ebenso gefährlich sein kann wie physische Gewaltanwendung", beschreibt er präzise auch jene Gefahren, wenn sich die Wirtschaft nur in einer Hand befindet – sei es in derjenigen von internationalen Monopolen oder verstaatlichten Großkonzernen.
Ein Patentrezept hat freilich auch Karl Popper nicht. Was er stattdessen anbietet, ist die Skepsis vor Ideologien und das tapfere, alltägliche Engagement fürs "Stückwerk", will heißen für die emsige Schritt-für-Schritt-Verbesserung unserer Gesellschaften. Gerade in Zeiten hochtönender Slogans und falscher Versprechungen ist dieses Vertrauen in einen humanen Pragmatismus wichtiger denn je.

Marko Martin, lebt als Schriftsteller in Berlin und veröffentlichte soeben in der Anderen Bibliothek den Essayband "Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters".


Marko Martin
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