Vom inneren Zerfall bedroht

Rezensiert von Jochen Thies |
Ob Georgien-Krieg oder Gasstreit - nach außen hin demonstriert Russland Stärke. Doch nach Einschätzung von Michael Stürmer ist sich die Kreml-Führung darüber bewusst, dass das Land angesichts des Mangels an politischer Kultur auseinander zu brechen droht. Stürmers Schlussfolgerung: Russland ist ein einsamer und damit letztlich unberechenbarer Wolf im internationalen System.
Michael Stürmer hat ein Buch über Russland geschrieben, bei dem er von den Ereignissen des letzten Jahres überrollt wurde. Das Konzept, mit dem er gestartet war, musste geändert werden, weil aus Worten Putins Taten wurden, gipfelnd im Georgien-Krieg des letzten Sommers. Darüber hinaus ist das Buch des Historikers sehr hastig geschrieben, enthält eine ganze Reihe von ärgerlichen Wiederholungen und Überschneidungen. Dennoch lohnt sich die Lektüre. Warum?

Stürmers Stärke in seinem jüngsten Werk ist weniger die Analyse als die Beobachtung. Er ist kein ausgewiesener Russland-Experte. Aber er war bei einer ganzen Reihe von Haupt- und Staatsaktionen in den letzten zwanzig Jahren dabei, konnte die entscheidenden Akteure aus der Nähe beobachten, achtete vor allem bei Putin auf dessen Sprache und Weiterentwicklung und kann somit ein in vielen Passagen spannendes, zum Nachdenken anregendes Buch vorlegen. Seine Kernthese lautet: Russland ist ein einsamer und damit letztlich unberechenbarer Wolf im internationalen System.
An anderer Stelle beschreibt Stürmer, der Bismarck-Spezialist, die aktuelle Lage des unruhigen Landes:

"Russland heute ist ein Land gemischter Gefühle. Zusammen mit der zeitlosen Tröstung der Religion, die schon Jelzin sichtbar annahm und noch mehr Putin, ist die Geschichte russischer Größe das Verbindende, nicht allein in der Form großer Siege, sondern auch in der des Leidens. In den vorrevolutionären Zeiten waren der Zar, die orthodoxe Kirche und das Volk geeint in einer heiligen Trinität. Aber diese Erinnerung muss schon deshalb in der Vergangenheit verharren, weil 20 Millionen Muslime gegen die christlich eingefärbte Staatsdoktrin Verwahrung einlegen und alles zum Desaster machen würden. Die Kreml-Führer müssen, was Religion und Vergangenheit anlangt, vorsichtig manövrieren. Seit 1990 ahnen sie, dass alles über Nacht zerfallen kann. Gegenwärtig herrscht eine Art geistiger Koexistenz vor. Aber da die Zahl der russischen Bevölkerung kleiner, die der muslimischen größer wird, ist nicht mehr als ein hinhaltender Kompromiss zu erwarten. Putins Leute verzichten lieber auf Eindeutigkeit, als dass sie einen Konflikt über die Grundlagen des Staates riskieren."

Besonderen Genuss bereiten jene Passagen in Stürmers Buch, in denen er Situationen im Stil des großen Reporters festhält, etwa ein Essen mit Präsident Putin in dessen Residenz am Schwarzen Meer:

"Inmitten sorgsam gepflegten Parklands im Westen der zwischen Gebirge und Meer lang hingezogenen Stadt Sotschi verbirgt sich hinter einer kurvigen, schmalen Straße und einem Schild 'Eintritt verboten' die Residenz Botscharow Rutschei. Die ockerfarbenen Mauern erinnern an die Zeit der Zaren, und weite Bögen über der Veranda leiten den Blick auf die Wellen des Schwarzen Meeres, die von Süden heranrollen auf den steinigen Strand. Die Griechen nannten dass Land Kolchis, hier war Medea zu Hause und das Goldene Vlies, und hier spielte die Sage von den Argonauten. Der römische Dichter Ovid, von Kaiser Augustus ins Exil geschickt ob seiner unmoralischen Poesie, nannte die nördlichen Strände des Schwarzen Meeres brutal und barbarisch … … Zuerst trottete der große Hund des Präsidenten in den Raum. Dann der Herr, elegant gekleidet in einen hellgrauen Anzug, dessen Schnitt den erstklassigen Schneider verriet, mit Hemd und Schlips ein wenig zu harmonisch abgestimmt. Wladimir Wladimirowitsch grüßte jeden der Gäste mit auffallend festem Händedruck und jenem kritischen Blick, den er offenbar aus seiner früheren Verwendung im Geheimdienst ins Präsidentenamt mitgebracht hatte. Putins wasserhelle Augen - nicht lauernd und nicht misstrauisch, aber auf der Hut - richteten sich auf jeden Einzelnen. Dabei vermied er die Unsitte westlicher Politiker, immer schon drei Personen weiter zu schauen. Er hält den Kopf stets ein wenig gebeugt, schaut daher von unten nach oben, als gäbe es da noch eine Reserve an Aufmerksamkeit, und lässt wenig erkennen von dem Mann und dem, was ihn bewegt."

Die Situation Putins, Medwedews und der Geheimdienstgruppen rund um das Machtzentrum sieht Stürmer, der Chefkorrespondent einer großen deutschen Zeitungsgruppe ist, folgendermaßen:

"Was die Exgeheimdienstler in den Korridoren der Macht nicht gut verstehen, ist die Tatsache, dass Russlands Zukunft nicht von fremden Feinden bedroht wird, sondern durch die Kombination verschiedener Faktoren, die alle von innen kommen. Da ist der drohende demografische Niedergang, der Mangel an Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Machtstrukturen, die Schwäche des industriellen Sektors, die Abhängigkeit vom Export von Bodenschätzen, das Universum der Korruption, die Unterdrückung freier Meinungsäußerung, die Willkür des Rechtssystems, in einem Wort: die ernsten Mängel der politischen Kultur."

Wenige Tage vor der Amtsübernahme durch US-Präsident Barack Obama kommt Stürmer zu folgendem Resumé:

"In einer Welt ohne Weltordnung lebt es sich gefährlich. Heute sprechen Amerikaner und Russen nicht dieselbe Sprache, teilen nicht dieselben Ängste, folgen nicht denselben Sternen. Amerika weiß sich in der demokratischen Weltmission, Russland sieht sich als Großmacht, die von den Knien aufsteht und, wie Amerika, rote Linien respektiert sehen will. In der gegenwärtigen Krise liegt die Chance, das Bewusstsein der Gefahr zu schärfen und neue Regeln des politischen Verkehrs auszuhandeln. Geschieht das, kann sie produktiv und heilsam sein. Wenn nicht, kann alles passieren, eingeschlossen Zerfall der Atlantischen Allianz, wirtschaftliche Selbstzerstörung, militärische Eskalation und bewaffnete Auseinandersetzung."

Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt
Murmann Verlag, Hamburg 2008
Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt
Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt© Murmann Verlag