Vom Bäckerjungen zum Weltliteraten

28.12.2011
Mit seinem Barock-Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus" gehört Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen heute zum Kanon der Weltliteratur. Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz unternehmen nun eine spannende Reise durch Leben und Werk dieses Autors.
Der Mann ist nicht minder rätselhaft als sein Werk: Hans Jacob Christoffel, Sohn des Bäckers Johann Christoffel, der in Amtspapieren auch mal mit dem Nachnamen Grimmelshausen auftaucht, geboren im protestantischen Gelnhausen, wahrscheinlich 1622. Er lebt "von seinem ersten Schrei an im Krieg", denn der war 1621 in Gestalt spanisch-katholischer Soldateska auch nach Gelnhausen gekommen. Er ist etwa fünf, als sein Vater stirbt. Seine Mutter Gertraud heiratet wieder, sein Stiefvater kommt aus Frankfurt und ist Barbier. Das ist ebenfalls ein zünftiges Handwerk und umfasst neben der Pflege des Kopfhaars auch etliche Heilpraktiken.

Über Grimmelshausens frühe Jahre ist nur noch wenig auffindbar. Viele Dokumente sind im Dreißigjährigen Krieg verbrannt. Die Datenlage wird - eine geradezu simplicianische Ironie - besser, nachdem ihn das Schicksal mit voller Grausamkeit getroffen hat. Noch als Kind wird er von einem kroatischen Streifkorps entführt. Kriegsherren brauchen immer Nachschub, Jungen sind bares Geld. Fortan drischt es den kleinen Hessen durch halb Europa, unter wechselnden Fahnen, bis zum bitteren Ende eines Krieges, der den gesamten geopolitischen Großraum umpflügt. Es ist eine "Zeit, von welcher man glaubt/ dass es die letzte seye", lässt Grimmelshausen später seinen Simplicius räsonnieren.

Danach wird der "Musketier mit abgebrochener Schulbildung" katholisch, heiratet, fügt ein "von" zwischen seine zwei Nachnamen und dient, mit einem Titel späterer Zeiten, als Provinzbeamter. "Nebenbei" schreibt er. Und zwar Weltliteratur. Aus dem Stand.

Wie kommt ein Bäckerjunge an solche Bildung, an all die Kenntnis von der Geistes- und Naturwissenschaften, die er in seinen Werken ausbreitet? An diesen Witz, diese einzigartige Poetik? Das war die Ausgangsfrage für Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, beide Grimmelshausens Landsmänner und langjährige Liebhaber. Sie haben sich durch Zunft- und Rentbücher, Kirchenregister, Lehrlingslisten und Gerichtsakten gewühlt, alte Stadtstiche und Militärhistorie studiert, unzählige Indizien für soziale, kulturelle, politische Kontexte herausdestilliert und akribisch auf Plausibilität abgeklopft.

Sie sind vorgegangen wie Kriminalisten, die Todesfälle Jahrzehnte später doch aufklären, weil es neue Techniken gibt, und genauso spannend liest sich ihr Buch. Was bei jenen die DNA-Analyse, ist bei ihnen ein leidenschaftlich-nüchterner, mikroskopischer Blick. Sie sehen Leben und Werk als Wechselspiel und überprüfen beide aneinander. Und entdecken plötzlich eine bisher übersehene Verknüpfung, ein Detail. Dass, zum Beispiel, Grimmelshausens Stiefgroßvater als Buchhändler typischerweise auch Verleger war. Und dass sich in seinem Katalog unter anderem die erste deutsche Übersetzung eines Werks findet, das womöglich die wichtigste Vorlage für die Courage war. Hier also sprudelte die Bildungsquelle, hier hat der kleine Hans Jacob aus Büchern gelernt, und später dann aus dem schieren, blutigen Leben, so wie er es selbst erklärt hat.

Seit den Taschenbuchausgaben der Originaltexte ab 2005 und erst recht seit Reinhard Kaisers Übersetzungen in ein heute zugänglicheres Deutsch ab 2009 scheint Grimmelshausen auch hierzulande wieder interessant zu werden. Vielleicht, weil wieder mal eine Zeit ist, "von welcher man glaubt/ dass es die letzte seye"? Auch solche Gedanken kann man trefflich schweifen lassen bei der Lektüre von Boehnckes und Sarkowiczs wunderbar vielschichtigem, differenzierten "Grimmelshausen".

Besprochen von Pieke Biermann

Heiner Boehncke/Hans Sarkowicz: Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor
Die Andere Bibliothek/Eichborn, Frankfurt am Main 2011
500 Seiten, 34 Euro
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