Ein unersättliches Barock-Luder

06.01.2011
Huren, Ehebrechen, Beute machen: In den Wirren des 30-jährigen Krieges führt Grimmelshausens Courage-Figur ein offenherziges Lust- und Lotterleben. Der barocke Romanklassiker, der Bert Brecht zu einem seiner berühmtesten Stücke inspirieren sollte, liegt nun in einer spannenden Neuübersetzung vor.
Mit seiner Übersetzung des "Simplicissimus" hat Reinhard Kaiser es geschafft, einen über dreihundert Jahre alten Romanklassiker auf die Bestsellerliste zu hieven. Und jetzt macht er es wie Grimmelshausen selbst: Wegen des großen Erfolges wird nachgelegt. Zwei weitere der simplizianischen Romane hat Kaiser aus dem Barockdeutsch in aktuelle Sprache übertragen, der bekanntere ist die "Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage".

Man kennt die Frau aus Brechts berühmtem Antikriegsdrama – und kennt sie doch nicht. Denn während Brecht die Courage zur Mutter-Figur überhöhte und entschärfte, ist das Vorbild bei Grimmelshausen, wie der Titel andeutet, ein ausgefuchstes Luder. Als erste Ich-Erzählerin der deutschen Literatur präsentiert Courage ihre Lebensgeschichte "dem Simpel zum Trotz". Will sagen: Sie rächt sich für eine vermeintlich unschmeichelhafte Darstellung im Hauptbuch des Simplicissimus, indem sie diesem nun mit aller Würze unter die Nase reibt, auf was für ein mit allen Wassern gewaschenes Weibsbild er damals im Sauerbrunnen hereingefallen sei. Hier geht es nicht ums Seelenheil, sondern um kalkuliert schonungslose Selbstoffenbarung.

Huren, Ehebrechen, Stehlen, Betrügen und Kriegsbeute machen – so lassen sich die Tätigkeitsfelder der Courage zusammenfassen, die in anekdotischer Reihung unterhaltsam zur Geltung kommen. Ihr Männerverschleiß ist rapide, und bald vermag man all die guten Gatten, die sie ohne viel Trauer begräbt, kaum noch zu zählen. Das offenherzige Lust- und Lotterleben erweist sich als Porträt der Epoche des Dreißigjährigen Krieges: Nichts ist verlässlich, überall wankt der Boden, und das Gefühl totaler existenzieller Verunsicherung befördert zugleich einen radikalen Genusswillen und die Skrupellosigkeit des schnellen Glücks.

Vor allem aber ist die "Courage" ein großes Buch des Geschlechterkampfs. Hier kommt eine wilde, sinnliche, sich selbst behauptende Frau aus dem sechzehnten Jahrhundert daher, als wäre sie von der heutigen Genderforschung bestellt worden. Courage wechselt die Geschlechterrollen, beherrscht traditionell männliches Verhaltensrepertoire mit spielerischer Leichtigkeit und verprügelt manchen Kerl.

Man darf aber nicht übersehen, dass hinter der "männlichen" Maskerade wiederum ein traditionelles Geschlechterstereotyp wirksam ist: List, Tücke und Verstellung als das ureigene Gebiet sündiger Weiblichkeit. Gerade indem sie täuschend echt den kriegerischen Mann gibt, erweist Courage sich als vollgültige "Frau Welt", wofür im Übrigen ja auch ihr kaum zu sättigender sexueller Appetit spricht.

Dank Kaisers Übersetzung liest sich das sonst eher mit Willenstärke und Wörterbuch durchzuarbeitende Werk wieder leicht und spannend. Der Blick wird direkter auf die Handlung selbst gerichtet, als würde die Übersetzung die Geschehnisse wie durch ein gutes Fernglas heranholen. Für Worte und Wendungen, die in Jahrhunderten den Sinn geändert haben oder kaum noch verständlich sind, hat Kaiser zumeist triftige Entsprechungen gefunden. Auf der Strecke bleibt zwar der sprachliche Kunstreiz des verzwickt-manierierten Schachtelsatzbaus, aber nicht die kräftige barocke Bildlichkeit, wenn es etwa heißt: "Ihr Gewissen war weiter, als der Koloss von Rhodos seine Schenkel spreizt, zwischen denen die größten Schiffe passieren können, ohne ihre Segel einzuholen."

Besprochen von Wolfgang Schneider

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage / Der seltsame Springinsfeld: Zwei simplicianische Romane
Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts übersetzt und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010
354 Seiten, 32 Euro