Vom Adonis zum Falstaff

Rezensiert von Erik von Grawert-May · 30.10.2011
Der bayerische König Ludwig II. starb vor 125 Jahren, die Literatur über den "Kini" sprießt neu hervor. Heinz Häfner will die Größenwahn-These widerlegen, und in "Ludwig forever" wird der exzentrische Monarch kenntnisreich porträtiert.
Häfners Expertise weist nach, dass die Entmündigung des Königs und seine Internierung wegen angeblicher Geisteskrankheit nur der Beseitigung eines mehr als unbequem gewordenen Herrschers dienten. Dessen Entourage hielt nicht nur Ludwigs finanziell ausufernde Bauleidenschaft für völlig überstiegen, auch, ja besonders seine homoerotischen Neigungen. Sie erregten Abscheu und galten als Ausdruck von Geschlechtswahnsinn. Dass ausgerechnet der König davon befallen war, sollte möglichst vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Häfner folgert deshalb:

"Damit wird deutlich, dass der Herr des Verfahrens, Prinz Luitpold, und mit ihm die gegen den König handelnde Regierung die Diagnose einer Geisteskrankheit zugleich als fehlende Schuld- oder Zurechnungsfähigkeit Ludwigs interpretierten und damit eine mitleidvolle Absolution über sein Handeln ausbreiten konnten."

Der Nachsatz Häfners ist mindestens ebenso aufschlussreich. Er charakterisiert die Zielrichtung seiner Analyse:

"So haben sie [gemeint sind Prinz und Regierung] das Ansehen des Königshauses geschützt und wesentliche historische Fakten dem Vergessen anheimgegeben."

Häfners Arbeit entreißt diese Fakten wieder dem Vergessen. Der gelehrte Psychiater entkräftet nacheinander alle Beweisstücke, die den angeblichen Größenwahn des Königs stützen sollten - bis hin zur Widerlegung der Erbkrankheit, die ihm angedichtet wurde. Amüsant auch, was er den Vorhaltungen entgegensetzt, Ludwigs Sympathie für den Kriegsgegner von 1870/71 lasse es an Nationalgefühl fehlen und untermauere folglich seine Geistesschwäche:

"Patriotismus ist kein Kriterium geistiger Gesundheit, und die unausgesprochene Erwartung Guddens, des damaligen Gutachters, Abneigung oder gar Hass gegen den Kriegsgegner zu empfinden, ist nicht medizinisch begründbar."

Wir sehen das Bild eines Monarchen vor uns, der nicht in seine Zeit passte und deshalb dem gesunden Menschenverstand des damaligen bayerischen Regenten geopfert wurde. Das einzige, was man Häfner vorwerfen kann, ist, dass er selber zu sehr die Gesundheit seines königlichen Klienten nachweisen will. Dazu verleitet ihn sicher das Institut, dessen Direktor er war. Aus der klinischen Psychologie, etwa des amerikanischen Analytikers Abraham Maslow, wäre zu lernen, dass man, – vor allem nach der Ära des Nazismus mit all seinen kerngesunden Schergen -, lieber auf den Begriff verzichtet, wenigstens auf psychischem Gebiet.

Während Häfner mit Seitenhieben auf das Haus Wittelsbach nicht spart, da es nach wie vor wesentliche Quellen geheim halte und damit zur Legendenbildung um den König bis heute beitrage, scheinen die beiden Autoren von "Ludwig Forever", Klaus Reichold und Thomas Endl, geradezu Gefallen an den Legenden zu finden. Reichold ist Kulturhistoriker und bereits mit einschlägigen Studien über Ludwig und sein Heimatland Bayern hervorgetreten, Endl dagegen Germanist und Regisseur, dem unter anderem ein Fernsehporträt über Ludwig I., den Großvater Ludwigs II., zu danken ist. Beide Autoren haben im Vergleich zu Häfner den unterhaltsameren Part übernommen und eine durch und durch locker zu lesende, dazu noch schön bebilderte Studie über den Märchenkönig abgeliefert. Sie gipfelt in der Erklärung:

"Ludwig II. ist gar nicht gestorben, sondern – wie einst König Artus – über die Fluten nach Avalon entschwunden. Mit anderen Worten: Ludwig II. lebt. Und zwar für immer."

Das ist eine Anspielung auf die in der Ludwig-Literatur diskutierte Transfiguration mystischer Natur, die mit dem König vorgegangen sein könnte. Was wiederum mit seinem Lieblingsgeschöpf, dem Schwan, zusammenhängt, der wegen seiner Schönheit und Reinheit seit der Antike als heiliges Tier verehrt wurde. Die Gralshüter maßen ihm übernatürliche Kräfte der Verwandlung und der Wiedergeburt eines großen Toten zu. Bedenkt man überdies, dass der König an Pfingstsonntag 1886 gestorben ist, so würde das Pfingstgeschehen das übrige tun, um Ludwig ewiges Leben einzuhauchen. Ludwig forever.

Reichold und Endl stellen ihren königlichen Gralsanbeter, der als weltberühmter bayerischer "Kini" in die Geschichte eingegangen ist, auf das gleiche Podest wie den Popstar Michael Jackson. Ähnlich wie dieser flüchtete sich Ludwig in ferne Märchenwelten. Er hasste die Politik, verschrieb sich dem Theater, vor allem aber den Opern Wagners und verbarrikadierte sich zusehends in seinen pompösen Schlössern, obwohl er von seinen Untertanen angebetet wurde.

Er war ein außergewöhnlicher Monarch – außergewöhnlich in seiner Menschenscheu, außergewöhnlich in seiner Leidenschaft für das Bauen und die moderne Technik, außergewöhnlich in seinem Theaterenthusiasmus und außergewöhnlich in seiner Sehnsucht nach Erlösung. Körperliche Gebrechen kamen hinzu. In Jugendjahren zwar hübsch wie ein Adonis, vor dem die Frauen angeblich reihenweise in Ohnmacht fielen - aber später:

"Aus dem blühenden Jüngling war in den letzten zehn, zwölf Lebensjahren eine übergewichtige Falstaff-Figur geworden. Er hatte Leistenbeschwerden. Wie seinem großen Vorbild, König Ludwig XIV. von Frankreich, machten ihm die Zähne zu schaffen."

Besonders die nicht zu übersehenden Zahnlücken. Sie verletzten seine Eitelkeit so sehr, dass sie seine Menschenscheu noch verstärkten. Doch mehr noch als von den Schmerzen suchte er, katholischer König, der er war, Erlösung:

"Er fühlte sich als großer Sünder. Seine Tagebücher zeichnen ein erschütterndes Bild von der Not des Königs, seine homoerotischen Neigungen und sonstigen Gelüste sexueller Art zu unterdrücken."

So wird die Liebe zu Wagner und seinen Bühnenfiguren, vor allem zum Schwanenritter Lohengrin und dem Gralshüter Parsifal, für ihn eine existenzielle Bedeutung gehabt haben. Der Gral brachte, nach der Überzeugung seiner Verehrer,

"Erlösung von irdischem Leid, von persönlichen Verfehlungen, von menschlichen Unzulänglichkeiten und weist den Weg ins Paradies."

Es ist wie im Märchen: Der arme, entmündigte König! Erst die Nachwelt entdeckte, wie reich er war. Man greife zu den beiden Büchern, um Ludwig die ihm gebührende Reverenz zu erweisen.

Heinz Häfner: Ein König wird beseitigt. Ludwig II. von Bayern
C.H. Beck
Klaus Reichold, Thomas Endl: Ludwig forever: Die phantastische Welt des Märchenkönigs
Hoffmann und Campe
Cover Heinz Häfner: "Ein König wird beseitigt"
Cover Heinz Häfner: "Ein König wird beseitigt"© Verlag C.H. Beck
Cover Klaus Reichold, Thomas Endl: "Ludwig forever"
Cover Klaus Reichold, Thomas Endl: "Ludwig forever"© Verlag Hoffmann und Campe