Volles Risiko

Crashtext

Blick durch eine Autoscheibe auf eine schneeglatte Straße im Dunkeln.
Unvorhergesehene Ereignisse beherrschen die Gegenwartsliteratur. © picture alliance / dpa - Uwe Zucchi
Von Astrid Mayerle · 25.05.2014
Der Unfall unterläuft die Vorstellung von der Planbarkeit des Lebens. In der Gegenwartsliteratur taucht er als Antipode zu den Risikovermeidungsritualen des modernen Menschen auf.
Verschiedene Gegenwartsautoren beschäftigen sich mit den unvorhergesehenen Seiten des Lebens. Auslöser sind ein Autounfall, ein Motorradcrash, ein Flugzeugabsturz und auch das: ein Sexunfall. Alina Bronsky, David Schalko, Peter Stamm und Heinrich Steinfest erzählen in ihren dramatischen aber auch skurrilen Geschichten davon, wie ihre Figuren mit dem Leben davonkommen und was Wendepunkte bewirken können.
"Monsieur Schumacher was admitted to University Hospital in Grenoble at 12:40..... The actor was in a Porsche, Saturday afternoon just north of Los Angeles, when the car was involved in the accident and just burst into flames..... I have no details of the skiing accident, but she was wearing a helmet..... //.....in a critical condition. "
"Wenn ich mich dafür interessiere, ob Schumacher aus dem Koma aufwacht, ist das ja per se noch kein schlechter Voyeurismus. Sondern das hat sehr viel mit meiner eigenen Angst vor dem Tod zu tun oder dass mir irgendwelche Katastrophen im Leben passieren. Glaub ich."
"Wir lesen Nachrichten, weil wir auch die Außenwelt als uns zugehörig betrachten. Wir finden es gut, wenn die Dinge gut laufen, funktionieren. Wir fühlen uns geschützt. Wenn aber Katastrophen passieren, anderen zustoßen, dann ist es nicht einfach ein anonymes Interesse, sondern man probiert Gedanken aus: wie geschützt ist man selbst?"
"Die Nachrichten sollen ja immer klar und nüchtern sein, möglichst objektiv, und diese subjektive Ebene ist eher was für die Literatur."
"Ich verfolge weniger Unfallmeldungen, als das ich sozusagen die Verfolger verfolge, dass ich mir anschaue, wie mit solchen Nachrichten umgegangen wird, wie sie präsentiert werden, wie die Sensation in die Welt gebracht wird. Und auch die Hysterie, die dabei entsteht und offensichtlich gewollt ist. Und das geht auch, glaube ich um eine Art von Machtgefühl, das immer die Überlebenden empfinden, das kann man sich schwer eingestehen, aber ich glaube, dass das jeder schon erlebt hat, diese Macht zu empfinden, wenn man selbst noch am Leben ist."
Nachrichten und Berichte über tragische Unglücke, vor allem solche bekannter Persönlichkeiten sind omnipräsent. Auch seriöse Medien verfolgen die Wiederbelebungsversuche eines Popstars oder das Aufwachen eines Rennfahrers aus dem Koma. Niemand kann diesen Meldungen entkommen, auch Schriftsteller nicht.
Geschichten von unterschiedlichen Wendepunkten
Derzeit beschäftigen sich auffällig viele Gegenwartsautoren mit Unfällen. In ihren Romanen geht es um punktuelle Ereignisse, die in eine Lebensgeschichte einschneiden, die ein Vorher und Nachher schaffen, einen Wendepunkt erzwingen. Alida Bronsky, Manuel Niedermeier, David Schalko, Peter Stamm und Heinrich Steinfest erzählen Geschichten von solchen Wendepunkten. Sie fragen, wie es dazu kommen konnte und wie sie Lebensgeschichten beeinflussen. Auslöser sind ganz unterschiedliche Ereignisse: ein Autounfall, ein Flugzeugabsturz, eine Kampfhundattacke, ein Bergunglück, ein Sexunfall und ein Motorradzusammenstoß.
"Es war seine Schuld. Viel zu schnell gefahren. Sie hatte ihre Finger in seine Schultern gekrallt. Ihre Angst hatte ihn erregt. Orgasmus. Schneller. Aufs Gas. Sie schrie: Jakob. Er schrie: Magst du das? - Jakob! - Magst du das? - Ja! - Wenn ich dich - Schwarz."
Schalko: "Eigentlich suchen die Protagonisten die Unfälle beinahe. Sie sind Teil ihrer Obsession in dem Fall. Eine Frau ist unfallsüchtig als Beifahrerin. Die war in sehr viele Unfälle verstrickt und hat als einzige überlebt."
Auch diesen letzten Unfall überlebt sie, allerdings schwer verletzt. Jennifer, die weibliche Hauptfigur in David Schalkos Roman mit dem kryptischen Titel "Knoi", liebte bis dahin den Geschwindigkeitsrausch.
Schalko: "Ich glaub gar nicht, dass es was Unangenehmes ist. Erstens ist das Spiel mit der Gefahr, das ist ja etwas, das viele haben, wenn man den Rausch der Geschwindigkeit sucht, und ich glaub', den Moment zu überleben, daraus entsteht ein Suchtverhalten, und das ist ein Glücksmoment. Das ist ja ein Spiel mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, und es gibt ja ganz viele Süchte, die versuchen, Grenzen zu überschreiten und damit durchzukommen. Sucht kommt ja von Suche, und die suchen was, was mit Grenzüberschreitungen zu tun hat. Am wenigsten Suchtpotenzial haben Süchte, die angenehm sind. Ich kenne kaum Süchte, die angenehm sind."
Jennifer kommt unmittelbar nach dem Motorradunfall ins Krankenhaus. Die Ärzte versetzen sie in ein künstliches Koma. Der Fahrer des Motorrads, Jakob, erst seit kurzem Jennifers Liebhaber, steht an ihrem Bett und spricht mit dem Arzt:
"Sie wird nicht mehr gehen können, sagte der Arzt. Nicht mehr an den Strand gehen können, dachte Jakob. Dann ging der Arzt, und die Schwester stellte Jakob einen Sessel ans Bett. Ihr Atem stieß ihn ab. Es war das Geräusch der Maschine. Das mechanische Hochziehen von Luft. Die schlagenden Wellen. Ihr Stöhnen beim Sex."
Schalkos Held bleibt aus Schuldgefühl bei seiner einstigen Liebe

Nachdem Jennifer querschnittsgelähmt aus dem Krankenhaus entlassen wird, bleibt Jakob bei ihr. Ein völlig anderes Leben beginnt für beide. Waren sie ehemals beide viel unterwegs, reisten gerne, ist das jetzt nicht mehr ohne weiteres möglich. Jakob beschließt, einen Reiseführer für Menschen mit Körperbehinderungen zu schreiben. Dafür setzt er sich sogar selbst in den Rollstuhl:
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Der Unfall verändert für Jennifer alles. Ihr Partner bleibt bei ihr aus schlechtem Gewissen.© dpa picture alliance/ Julian Stratenschulte
Schalko: "Aus der Katastrophe entsteht ja auch schnell 'ne Sehnsucht, weil die Katastrophe zu Hindernissen führt. Die Frau ist querschnittsgelähmt, und er kommt nicht mehr weg. Die Sehnsucht hat immer was mit dem Gegenteil zu tun. Und seine Sehnsucht war zu dem Zeitpunkt, als er sie kennengelernt hat, das Reisen und das Durch-die-Welt- Driften. Das hat er aufgegeben. Und das Reiseführerschreiben von daheim aus, das kompensiert diese Sehnsucht eigentlich. Das Thema des Buchs sind ja nicht nur die Katastrophen, sondern auch die Sehnsüchte, die aus den Katastrophen entstehen, das ist das Hauptthema."
"Jakob weigerte sich, seinen Rollstuhl bis zum Haustor zu tragen. Er bestand darauf, die Recherche für das Projekt müsse authentisch sein, da durfte man sich nicht schon von der Haustür ins Erdgeschoss schummeln. Jennifer musste sich querstellen, damit sie im Aufzug beide Platz fanden. Sie fragte, wie lange das noch gehe, es sei ein unerträglicher Zustand, und wenn er das schon bis ins letzte Detail nachahmen wolle, dann möge er doch auch zuhause nicht aus dem Rollstuhl steigen. Aber Jakob sagte, sie verstehe offenbar das ganze Projekt nicht. Er schreibe einen Reiseführer für Behinderte und nicht einen Erlebnisbericht, wie es sich als Rollstuhlfahrer lebe. Das wüssten die Betroffenen ohnehin am besten. Sie versicherte ihm, dass kein Gelähmter der Welt seinen Reiseführer je kaufen werde. Jennifer bevorzugte gelähmt, weil sie behindert für zu schwammig fand."
Schalko: "Er bleibt in erster Linie aus 'nem ganz großen Schuldgefühl und Schuldbewusstsein mit ihr zusammen, und das ist bei ihm charakterlich manifestiert, dass er jemand ist, der gern sitzen bleibt und so eine gewisse emotionale Lethargie hat und konfliktscheu ist. Sie ist das genaue Gegenteil, und das hält ihn. Und er will ja auch zum Bleiben gezwungen werden, wie es im Buch heißt. Und das wird er auch. Ich glaube, dass er aus reinem Schuldgefühl bei ihr bleibt."
Der zweite Unfall: Zu viel Betäubungsmittel beim Sex
David Schalko wählt Unglücksmomente, bei denen gerade kein dummer Zufall Regie führt, sondern die Beteiligten bei ihren Grenzüberschreitungen die Kontrolle über die Situation verlieren. Auch der zweite Unfall in "Knoi" gehorcht diesem Prinzip. Er ereignet sich bei einem extremen Sexspiel. Dafür willigt Jennifer, als sie bereits gelähmt ist, ein, sich von Lutz, einem gut verdienenden Zahnarzt, betäuben zu lassen. Dieser will nur mit Frauen Geschlechtsverkehr haben, die gerade schlafen oder betäubt sind - durch das Narkosemittel Propofol. Jennifer lässt sich auf dieses Spiel ein, weil auch das Hinüberdämmern in die Bewusstlosigkeit für sie eine Art der Grenzüberschreitung ist - und: Lutz bezahlt sie dafür, dass er mit ihr seine Fantasie ausleben kann:
"Sie nahm die weiße Flasche und zog den blauen Deckel ab. Gleich würde sie schlafen. Er brauchte das Besteck nur durch die dünnhäutige Beschichtung zu stechen. Ihr Wille war eindeutig erkennbar. Ganz wie er es verlangte. In der Flasche befanden sich 1000 mg Propofol. Das sollte reichen. 0,3 bis 4,0 mg pro Kilogramm und Stunde je nach Tiefe der Sedierung. Das hatte sie im Netz überprüft. Aber Lutz war der Arzt. Bei einer OP hätte sie auch nicht gefragt. Aber bei einer solchen gab es Beatmungsgeräte. Sie schloss die Augen. Seine Nasenspitze strich über ihre weiche Haut. Am intensivsten roch sie am Hals und zwischen den Schenkeln. Die Infusion tropfte so schnell, wie ihr Herz schlug. Ihre schlaffen Lippen erwiderten den Kuss nicht. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und legte sein Ohr an ihren Brustkorb. Der Herzschlag war flach und regelmäßig."
Schalko: "Ich glaub', es gibt da zwei Seiten, es gibt denjenigen, der betäubt, der Sexualität als was wahnsinnig Gegenständliches empfindet oder die Sucht nach vergegenständlichter Sexualität, die ja schon am Rande der Nekrophilie ist. Und für denjenigen, der betäubt sein will, geht's um Kontrollverlust. Das ist es eigentlich. Ich glaub, dass dahintersteckt der absolute Kontrollverlust und dass man nicht weiß, was passiert, während man schläft. Das ist eine masochistische Nebenform letztendlich. So, wie es im Masochismus Fantasien gibt, wo es darum geht, vergewaltigt zu werden oder misshandelt zu werden.Das ist verwandt dazu, finde ich, das ist eine Nebenform von Masochismus."
"Lutz roch an der Haut. Er rieb sie mit der desinfizierenden Seife ein. So lange, bis nichts mehr von ihr übrigblieb. Er zog sie an. Ihr Gesicht war gegenständlich geworden. Los, bevor der Körper zu viel von seinem Wesen verlor. Er tastete die Augenlider ab. Sie waren steif. Die Totenstarre hatte eingesetzt. Die Kaugelenke waren noch locker. Es sollte sich ausgehen, den Körper ins Auto zu schaffen. Beifahrersitz. Wie in einem schlechten Film. Warum sagt man das?"
Die Sedierung war zu stark, Jennifers Herz setzt aus. Lutz kann sie nicht mehr ins Bewusstsein zurückholen.
Schalko: "Dieser Sexunfall, der da passiert, kommt durch eine sexuelle Obsession zustande, und das ist auch antizipierbar, dass so etwas passieren kann. Das ist das Spiel mit der Gratwanderung, über die Grenze drüberzugehen, und da ist der Unfall der Knackpunkt."
David Schalkos Roman beschäftigt sich weniger mit den Veränderungen, die durch die Unfälle passieren, als mit der Frage, wie sie zustande kommen, welche Obsessionen, Lebenseinstellungen, Beziehungskonstellationen Auslöser für die Schicksale sind:
Schalko: "Mich hat das Thema interessiert, Bewusstsein, Nichtbewusstsein, Halbbewusstsein, Haltung zum Leben bewusst - nicht bewusst...Jedes Buch hat ja so eine Haltung, wie wenn man seinen Körper verlässt und dann so draufschaut. Daher kommt auch das Geisterhafte. Das Buch will ja selber zwischen Bewusstsein und Nichtbewusstsein dahindämmern. Ja, das hat mich interessiert."
Bewusstsein - Nichtbewusstsein: Einige Figuren das Romans handeln hochgradig egoistisch und verantwortungslos. Als Leser kann man für sie kaum Empathie entwickeln.
Schalko: "Das Thema ist Schuld in dem Fall, aber niemand fühlt sich moralisch verantwortlich. Jeder versucht, mit der Schuld davonzukommen oder nicht erwischt zu werden. Man hat‘s mit hochgradig unmoralischen Menschen zu tun, die nicht empathiefähig sind. Selbst in Unfallsituationen, wo in der Katastrophe menschliche Empathie sofort abrufbar ist. Man kennt das ja, wenn gesellschaftliche Solidarität funktioniert, dann funktioniert sie meist nur während Katastrophen. Daher gibt's auch den Satz im Buch, dass Liebe nur in Zeiten der Katastrophe funktioniert. Und da ist schon was Wahres dran. Auf irgendeine Art."
Nach der Kampfhund-Attacke: Teenager Marek zieht sich zurück

Marek, die Hauptfigur in Alina Bronskys Roman "Nenn mich einfach Superheld" ist relativ jung, etwa sechzehn oder siebzehn. Das Horrorszenario liegt außerhalb des Buchs, das heißt, Alina Bronsky beschreibt die Kampfhundattacke, die Marek widerfahren ist, nicht. Dieser Unfall liegt etwa ein Jahr zurück.
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Ein Rottweiler hat Marek entstellt. Wie sehr, erfährt der Leser nicht.© dpa picture alliance/ Tucat 020922ddm140
Bronsky: "Mich interessiert es relativ wenig, der Ablauf des Unfalls, der Horror, auch diese Action-Szene, die sich daraus ergeben hätte, reizt mich am wenigsten. Mir geht es um den Menschen danach. Und der Unfall, der meinem Helden zustößt, der steht auch für etwas. Der steht für eine Erschütterung, die einfach sehr, sehr lange nachwirkt. Für mich ist es spannender, eben diesen Zustand danach zu beschreiben, wie man da vielleicht wieder rauskommt aus diesem Loch, in das man da fällt."
Marek hat eine Gruppentherapie begonnen, mehr oder weniger widerwillig. Sechs junge Menschen sind mit ihm zusammen in der Gruppe, auch Janne, die im Rollstuhl sitzt. Offensichtlich interessiert diese ihn mehr als die Therapie oder anders: Seine Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf seine Wirkung auf das andere Geschlecht. Sein Verhältnis zu seinem Therapeuten ist - vorsichtig formuliert - ziemlich angespannt:
"Sag mal Mark."
"Marek"
"Sag mal Marek, vor einem Jahr war doch diese Geschichte mit dem Kampfhund in der Zeitung, der einen Jungen angegriffen hat."
"Echt?" sagte ich. Zum ersten Mal schaute mich Janne länger als eine Viertelsekunde an. Für eine weitere Viertelsekunde hätte ich mir vermutlich das Ohr ganz abbeißen lassen müssen.
"Ja bitte?" sagte ich in ihre Richtung.
"Ich frag mich nur...". sagte der Guru. Alle schienen zu lauschen, seine Stimme hallte durch die atemlose Stille, und mir kribbelte der Rücken. Ich wollte nicht, dass sie mich anstarrten. Das taten sowieso alle, aber hier sah ich es nicht ein. Selbst der blinde Marlon hatte sich mit seinem linken Ohr zu mir gedreht und wirkte plötzlich
hoch konzentriert.
"Ob du uns davon erzählen möchtest", sagte der Guru.
Ich war auf so viel Dreistigkeit nicht vorbereitet gewesen.
Bronskys Marek lässt keinen Menschen an sich heran
Marek lehnt sämtliche Hilfsangebote, ob von dem Therapeuten oder von seiner Mutter, ab. Was ihn wirklich beschäftigt, spricht er nicht offen aus.
"Seit dem Rottweiler hatte ich niemanden mehr geküsst. Schon damals gehörten alle Rottweiler dieser Welt bei lebendigem Leib gehäutet."
Bronsky: "Grundsätzlich hat es mich als Autorin gereizt, etwas zu nehmen, was in der Tat nicht ganz so alltäglich ist, aber als Angst ziemlich präsent ist: Die Angst vor Hunden ist sehr verbreitet. Ich selbst hab' einen Hund, und es ist interessant, zu beobachten, wie andere Menschen damit umgehen."
"Ich biss mir auf die Unterlippe bis es salzig schmeckte, und spürte immer noch nichts. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Claudia oft wiederholt hatte, dass ich gar nicht schlimm aussähe, dass ich fast so schön wäre wie früher, dass ich mich nicht zu verstecken brauchte. Dass meine Probleme nur im Kopf säßen: Ich hätte mir eingebildet, entstellt zu sein. "Guck dich doch mal im Spiegel an, du bist gar nicht hässlich", hatte sie wiederholt und meinen Kopf festgehalten, weil ich mich von meinem Spiegelbild weggedreht hatte. "Das Leben ist wegen der paar Narben noch nicht vorbei, Marek." Sie hatte es so oft abgespult, dass ich schon gedacht hatte: Wenn sie es noch zehn Mal sagt, glaube ich es ihr. Oder noch fünfzehn Mal, oder hundert."
Claudia, Mareks Mutter, versucht ihrem Sohn auf eine naheliegende, aber auch etwas unbeholfene Art Mut zuzusprechen. Vergeblich: Marek denkt, dass sein Gesicht völlig entstellt sei. Wie sehr sein Gesicht tatsächlich verunstaltet ist, erfährt der Leser nicht. Marek beobachtet sehr genau, wie andere auf ihn reagieren und interpretiert deren Reaktion oder das, was er für ihre Reaktion auf ihn hält.
Bronsky: "Er nimmt ja permanent diesen Schrecken der anderen wahr, das gibt es nicht nur an einer Stelle, sondern er läuft auch durch die Stadt. Er setzt sich ins Eiscafé oder vermeidet es auf der anderen Seite. Und immer, wenn jemand mit ihm unvorbereitet konfrontiert ist, fällt das Gegenüber schockiert um. Dieser Schrecken ist ja schwer sachlich zu greifen. So empfindet er das, und man kann ihm glauben, und man kann das auch anzweifeln. Es gibt auch objektivere Beschreibungen, wenn er davon spricht, dass er Schwierigkeiten mit dem Gähnen hat oder mit dem Trinken oder wenn er von Narben spricht. Da kann man davon ausgehen, o.k., da ist in der Tat etwas da."
"Ich schob mich an ihr vorbei.
"Wie geht´s so?" fragte sie meinen Rücken.
"Siehst du doch."
"Es gibt schlimmeres", murmelte sie. "Macht dir nix draus."
"Niemals. Ist ja nur ein Gesicht."

Bronsky: "Er hat jedenfalls das Gefühl, alles verloren zu haben mit seinem Gesicht, mit seiner Schönheit sein ganzes Selbst zu verlieren. Es geht auch sehr darum, wie definiere ich mich als Mensch, was macht mich aus? Machen mich die perfekten Gesichtszüge aus, oder ist es vielleicht doch was anderes? Und noch 'ne Anmerkung dazu: Es wird im Buch nie genau konkret beschrieben, wie genau entstellt, ob überhaupt der Held entstellt ist. Er empfindet sich ganz massiv so. Das ist eben eine große Störung auch in der Selbstwahrnehmung. Aber vielleicht ist das auch nicht so schlimm wie er denkt."
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Romanfigur Marek definiert sich ganz über sein Äußeres.© dpa picture alliance/ Empics Steve Parsons
Mareks abweisende Reaktionen auf die Fragen von Freunden und Bekannten entwickeln eine merkwürdige Eigendynamik: Er ist wenig auskunftsfreudig, oft destruktiv und spart nicht mit sarkastischen Bemerkungen, auch, um sich weitere Fragen vom Leib zu halten:
"Ein Rottweiler", sagte ich, bevor sie fragte.
"Haben sie ihn gereizt?"
"Ich habe ihn als erster gebissen", sagte ich.
Bronsky: "Marek deutet an, dass er durchaus auch sehr mitfühlende und sehr engagierte Reaktionen erfahren hat, dass auch seine Freundin sehr versucht hatte, zu ihm durchzudringen, dass auch seine frühere Umwelt, seine Freunde, alles, was ihn ausgemacht hat, sie hatten alle durchaus versucht, irgendwie zu ihm durchzubrechen, und das ist nicht gelungen. Der Umwelt kann man das, glaube ich, schwer vorwerfen, diese Isolation, in die er sich da freiwillig zurückgezogen hat, die ist auch freiwillig, das ist seine Wahl, und man kann das schwer den anderen zum Vorwurf machen."
Erst der Tod des Vaters reißt Marek aus der selbstgewählten Isolation
Die Geschichte nimmt einen unerwarteten Verlauf. Bei einem Ausflug mit der Therapiegruppe erreicht Marek eine Nachricht seines jüngeren Halbbruders. Eine SMS voller Rechtschreibfehler:
"Marek, unser Papa ist Tod, bitte kom schnel. Ferdi."
Der Vater ist auf einer Bergtour abgestürzt. Obwohl Marek nach der Trennung seiner Eltern kaum mehr Kontakt zu seinem Vater hatte, beschließt er, auf die Beerdigung zu gehen - allerdings mehr aus einer Art Pflichtgefühl. In den Tagen davor bricht in den Gesprächen mit seiner Mutter und der Mutter seines Halbbruders die Erinnerung auf:
"Und plötzlich dachte ich, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte, als ich immer vermutet hatte."
Bronsky: "Er braucht vor allem, und das ist auch das, was ihn rettet, er braucht vor allem einen Ausstieg aus dieser Selbstbezogenheit, und das bringt der weitere Unfall, der Tod des Vaters, der holt ihn raus aus dem eigenen Leid und zeigt, es gibt auch andere Menschen. Und da kommt dann auch der kleine Halbbruder ins Spiel. Es gibt andere, die ihn brauchen und die schutzbedürftiger sind und für die er etwas tun kann. Und da ist der Punkt, wo er in der Tat sein eigenes Gesicht vergisst und sich endlich einem Gegenüber zuwendet und feststellt, das ist in der Tat ziemlich heilsam."
Peter Stamm über eine Frau, die ihr Gesicht verliert
Gillian, die Hauptfigur in Peters Stamms Roman "Nacht ist der Tag" hat als Fernsehmoderatorin Karriere gemacht. Sie pflegt ein Leben, wie es wohl jenem Lifestylemagazin entspricht, für das ihr Mann Matthias schreibt: viel Arbeit, teure Kleider, ab und zu Wochenenden in Wellnesshotels, wenig eigene, bewusste Lebensgestaltung. Selbst die Begegnung, die sie mit einem Künstler sucht, entwickelt sich trotz der Aktfotos, die er von ihr macht, nicht zur flammenden Leidenschaft, sondern zu einem kühlen, bedeutungslosen Studioflirt.
Das kann Gillians Mann Matthias nicht wissen, und als er die Fotos entdeckt, die der Künstler von seiner Frau gemacht hat, packt ihn die Eifersucht. Kurz vor einer Silvesterparty entspinnt sich ein Beziehungsstreit. Als er nach Mitternacht angetrunken am Steuer sitzt und ein Reh die Fahrbahn kreuzt, kommt es zu einem schweren Unfall. Matthias verliert dabei sein Leben, Gillian überlebt schwer verletzt - ihr Gesicht ist zerstört. Sie erwacht im Krankenhaus aus dem Koma und sieht ihr Gesicht zum ersten Mal im Spiegel:
"Sie versuchte mit aller Kraft, sich in diesem Fleisch wiederzuerkennen. Sie erkannte die Augen, die Augenbrauen, den Mund, aber sie bildeten kein Ganzes. Wenn der Arzt oder eine Schwester das Zimmer betrat, legte sie den Spiegel schnell auf den Nachttisch, und stellte sich vor, das Bild wäre darin gefangen und sie könnte es so vor den Blicken der anderen verbergen. Sie versuchte, in den Augen der Schwester Ekel oder Entsetzen zu sehen. Aber sie sah nur gleichgültige Freundlichkeit."
Stamm: "Es war die Frage, inwieweit unser Äußeres mit unserem Inneren übereinstimmt, inwieweit wir unser Äußeres auch sind. Bin ich der Gefangene in meinem Körper, bin ich ein Opfer meines Aussehens oder bin ich der, der einfach so aussieht, wie ich? Das war die Anfangsfrage."
Mit Pragmatismus kommt Gillian weiter
Gillian wird sehr schnell klar, dass sie ihr altes Leben so nicht weiterführen kann. Dabei entwickelt sie eine sehr eigene, nüchterne Sicht auf ihr Schicksal: Mit fortschreitendem Alter hätte sie ihre Attraktivität ohnehin verloren.
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Protagonistin Gillian begreift, dass ihr Leben eine Farce war.© dpa picture alliance/ Patrick Pleul
"Ihr Leben war vor dem Unfall eine einzige Inszenierung gewesen, ihr Job, das Fernsehstudio, die schönen Kleider, die Städtereisen, die Essen in guten Restaurants, die Besuche bei ihren Eltern und bei der Mutter von Matthias. Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch eine Unachtsamkeit, durch eine falsche Bewegung. Das Unglück hatte früher oder später kommen müssen, als plötzliches Ereignis oder als langsamer Verschleiß, aber es war unausweichlich."
Stamm: "Es ist ja schon so, dass wir uns massiv verändern und trotzdem nicht das Gefühl haben, dass wir immer andere Menschen sind. Das dauert lange und geht von Tag zu Tag, und es ist vermutlich so, dass wir uns jeden Tag wieder neu an unser ganz leicht verändertes Gesicht gewöhnen und dass dieser große Schritt, der schnelle wie bei Gillian, bei uns nie passiert. Und es stimmt schon, ich empfinde mich heute noch als derselbe, der ich mit sechzehn war, und trotzdem, wenn ich Bilder aus der Zeit anschaue, hab ich mich natürlich massiv verändert."
Gillian sehnt sich nicht nach ihrem früheren Leben zurück, weil sie zu verstehen beginnt, dass dieses sehr von Äußerlichkeiten bestimmt war - sogar die Beziehung zu ihrem Mann Matthias. Gemeinsam hatten sie eine Bühne betreten, auf der sie nie sie selbst waren:
"Sie bekam den Moderatorenjob und spielte die schöne und erfolgreiche Kulturjournalistin für die Zuschauer, für die Medien, für Matthias und sich selbst. Sie machte keine groben Fehler, Matthias spielte mit, im Grunde war er der bessere Schauspieler als sie. Dauernd mussten sie sich zu irgendwelchen Anlässen zeigen, Auskunft geben, sich darstellen. Sie sprachen lauter, bewegten sich anders in der Öffentlichkeit. Wenn sie nach Hause kamen, angetrunken und müde, und nebeneinander im Bad standen und die Zähne putzten, musste Gillian manchmal über die zwei Gesichter im Spiegel lachen. Aber selbst dieses Lachen war Teil des Spiels."
Stamms Gillian hatte schon länger das Gefühl, das etwas schief läuft
Gillian hatte also schon längere Zeit das Gefühl, dass etwas mit ihrem Leben nicht stimmte und dass sie wenig über sich selbst wusste. Daher zog es sie zu dem Maler Hubert, sie wollte, dass er sie, wie andere Frauen vor ihr, nackt portraitierte:
"Ihr Gesicht ist mir zu vertraut.
Dann schauen sie genauer hin, sagte Gillian. Sie mochte es, wie Hubert sie jetzt betrachtete, mit einem forschen, sachlichen Blick.
Ihr Teint ist weniger rein, als es im Studio aussah, sagte er schließlich, das muss die Schminke sein. Ihre Nase glänzt ein wenig. Und ihre Augenbrauen sind ungewöhnlich breit für eine Frau.
Gillian lächelte gequält. So genau wollte ich es nun auch nicht wissen."
Stamm: "In gewissen Sinn erwartet sie vom Maler, dass er sie erkennt, dass er, weil er Künstler ist, durch diese Fassade hindurchschauen kann und sieht, wer sie wirklich ist. Das ist eine viel zu hohe Erwartung, das kann ein Künstler gar nicht erfüllen, das müsste etwas sein, was sie selbst leistet, aber sie schafft es nicht. Das ist nicht so einfach, sich selbst zu erkennen, und was sie auch lernt, ist, dass es eine Person gar nicht gibt, dass eine Person eine Unschärfe hat und eine Summe ist von ganz vielen Bildern, die über lange Zeit entstehen und dass man nicht sagen kann, das ist der Mensch, er ist nicht statisch, der verändert sich dauernd."
Wie vollzieht eine Frau, die dermaßen auf ihre äußere Attraktivität fixiert war, einen inneren Wandel? Was setzt sie an die Stelle ihrer verlorenen Schönheit? Ihre Versehrtheit ist drei Jahre nach dem Unfall für Gillian kaum mehr ein Thema. Sie scheint nicht zu leiden, obwohl ihr Gesicht nach drei Operationen noch immer deutliche Spuren der Verletzungen zeigt:
"Gillian sah nicht wie früher aus. Jetzt, wo sie ihre Züge wiedererkannte, sah sie umso mehr, wie sehr sie sich verändert hatten und dass sie nie wieder so aussehen würde wie vor dem Unfall."
Stamm: "Ich hab dann auch wirklich mit einer Frau gesprochen, die ein stark entstelltes Gesicht durch einen Unfall hat und die wurde jahrelang immer wieder operiert und sagte, nach jeder Operation war das ein neues Sichfinden und wieder sein Inneres an dieses Äußere anzupassen, und das hat sie mit der Zeit so gestresst, dass sie sagte, ich mach keine weiteren Operationen mehr, ich lass das unfertige Gesicht, wie es ist und setze mich dem nicht mehr aus, alle zwei Jahre wieder ein anderer Mensch zu sein."
Stamms Leser erfahren nicht, wie Gillian die Hürden überwindet
Obwohl Peter Stamm lange über Schönheitsoperationen und die Wiederherstellung einer Nase recherchiert hat, fließen diese Informationen nicht unmittelbar in das Buch ein. Ebensowenig erfährt der Leser, wie Gillian sich jeweils selbst nach den insgesamt drei Operationen wahrnimmt, man erfährt auch nicht, wie es ihr letztlich gelingt, ihr vernarbtes Gesicht anzunehmen.
Stamm: "Ich will schon wissen, was passiert, aber ich muss dem Leser nicht alles erzählen, er muss nicht alles wissen. Aber ich muss wissen, wie lange das dauert oder was da für Schritte nötig sind. Das brauch ich schon, aber das muss nicht im Buch drinstehen."
Der Leser erfährt nur, dass es ihr wohl gelingt. Vermutlich helfen ihr dabei ihre Haltung zu ihrem früheren Leben und eine Portion Pragmatismus.
Stamm: "Es gibt diese Schauspieltheorien von Stanislawski, dass ein gespieltes Gefühl, ein mimisch dargestelltes Gefühl auch Auswirkungen hat auf unser Gefühlsleben oder Empfinden, und ich denk schon, dass, wenn man kein Gesicht hätte oder auch einen Unfall, wo Jill ihres auch fast nicht mehr hat, dann wird das seine Auswirkungen haben auf die Identität, dass sie gefühlsverwirrt ist, dass sie nicht mehr weiß, was sie empfindet, dass sie versucht, Mimik nachzumachen von Leuten, die sie sieht, aber das gelingt ihr nicht, weil sie gar nicht mehr das Gesicht dazu hat. Ich denke schon, dass das übers Metaphorische hinaus eine Form von Identitätsverlust sein kann."
Drei Jahre nach dem Unfall arbeitet Gillian unter neuem Namen als Jill wieder in einer künstlichen Welt, nämlich in einem Wellnesshotel als Organisatorin des Unterhaltungsprogramms: Kunstausstellungen ebenso wie Komödientheater.
Stamm: "Es ist vermutlich eine einfache Version von ihr. Ich denke schon, dass es auch innerhalb des Künstlichen so eine Authentizität gibt. Da geschehen ja Beziehungen zwischen Menschen. Da arbeitet man zusammen, da verbringt man Zeit zusammen, und da glaube ich schon, dass da auch ehrliche Gefühle entstehen. Natürlich ist es immer auf Zeit. Die Leute reisen ab, und dann ist es vorbei. Für sie ist es das Maß an Persönlichkeit, das sie im Moment zulassen kann. Irgendwann wird sie wieder größer und komplexer werden, aber in dem Moment ist es der richtige Ort für sie."
Manuel Niedermeiers Held geht in der Arktis über Bord
Manuel Niedermeier wählt einen sehr ungewöhnlichen Schauplatz für seine Geschichte - die Subarktis. Dort ist ein Forschungsschiff unterwegs: Ein junger, angehender Wissenschaftler namens John und sein Kollege Clemens, ein Fotograf, fahren mit ihrer Besatzung entlang der russischen Nordküste, genauer: von Murmansk aus Richtung Osten. Manuel Niedermeier kam auf den Schauplatz für seine Geschichte, durch eigene Reisen in nördliche Länder:
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Romanfigur John wählt eine gefährliche Bootstour und geht dabei über Bord.© dpa picture alliance/ Christof Martin
"...und dann durch Dokumentationen, durch Bücher, durch Forschungsberichte auch und tatsächlich auch durch Sachen wie Google Maps, wo es Möglichkeiten gibt, zu sehen, wenn das Schiff zu dem Zeitpunkt an dieser Stelle ist, wo geht dann die Sonne unter. Was auch ganz wichtig war: die Route, die das Schiff gefahren ist, die hätte es auch zu dieser Zeit fahren können. Es gibt Reiseberichte für jeden Tag, und die habe ich mir angeschaut: Wann war das Eis wo? Und dann habe ich mir angeschaut, wie könnte die Route funktionieren, weil ich eben auch interessant fand, dass in diesem Jahr das erste Jahr war, wo die Nordost- und die Nordwestpassage gleichzeitig befahrbar waren, weil das Eis so weit zurückgegangen ist, und die Nordostpassage soll jetzt als Schiffsweg extremst genutzt werden, und das hat es noch interessanter gemacht auf einmal. Über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg war da kein Durchkommen, und auf einmal wird's ein Seeweg."
In Manuel Niedermeiers Roman ist das Eis unberechenbar, Schollen treiben im Meer, die Besatzung weiß nicht, wohin diese wandern und ob sie vielleicht sogar die geplante Route abschneiden könnten. Die Forscher bekommen daher neue Informationen von Kollegen:
"Bei ihnen ist überall Eis, teilweise drei Meter stark, mehrjähriges Eis, einjähriges Eis. Außerdem friert das Meer weiter zu. Es bilden sich permanent neue Eise. Der Wind kommt aus Nord-Nordost. Kann sein, dass das Eis genau in unsere Richtung treibt."
Er griff in seine Hosentasche und steckte sich eine Dattel in den Mund. "Wie ich sehe, bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Glück zu versuchen. Was meint ihr?"
Romanfigur John fühlt sich für Selbstmord verantwortlich
Der angehende Forscher John ist bereit, jedes Risko einzugehen. Was umso mehr verwundert, als treibende Eisschollen John bereits auf einem früheren Segeltörn beinahe in einer Bucht eingeschlossen hätten. Außerdem leidet John unter Schlafstörungen. Tagsüber hat er Schweißausbrühe, wird nervös, raucht viel, und Datteln sind für ihn eine Art Nervennahrung:
"Ahh!" John hatte geschrien.
Clemens schlug auf den Lichtschalter an der Wand, sprang vom Bett, fasste John an der Schulter und rüttelte ihn sanft.
"Hey, hey! Schon gut. Du hast geträumt, nur ein Traum."
Johns Atem ging schnell. Er tastete um sich, griff nach Clemens. "Was? Aber, was...?" Er zog seine Hand zurück. Strich sich Schweiß von der Stirn. "Laura."
Noch ahnt Clemens nicht, was John eigentlich umtreibt. Weil beide in der gleichen Kajüte schlafen, hat er Johns Schlaflosigkeit und seine nächtliche, durch Alpträume verursachte Unruhe bereits bemerkt. Beides hat vor allem mit Johns Vorgeschichte zu tun, genauer, mit einer Liebesbeziehung, die tragisch endete. Hinter den grausamen Träumen von toten Körpern stecken ungeheure Schuldgefühle: John glaubt, einen Selbstmord verschuldet zu haben. Philipp, der Lebensgefährte von Laura, hat gesehen, wie sie ihn mit John betrog und sich daraufhin umgebracht:
"Der Baum des Schiffes pflügte durchs Wasser, eine weiße Schneise im finsteren Polarmeer. Kein menschlicher Laut, nur das ohrenbetäubende Fauchen des Sturms umgab sie. Mit jeder anrollenden See bäumte sich das Schiff jäh auf, und die Mannschaft sank bis zu den Oberschenkeln ins frostig schäumende Wasser, als stünden sie alle direkt im Meer."
Niedermeier: "Es ist nicht möglich, dort entlang zu fahren und diese Gefahren auszuklammern, das heißt, sie sind Teil der natürlichen Umgebung dort. Dann fand ich´s auch interessant, eine Person zu zeigen, die schon auf eine gewisse Art und Weise Probleme hat und nicht in einem stabilen Umfeld ist. Wenn John zu dem Zeitpunkt in Berlin gewesen wäre, hätte es ganz andere Möglichkeiten gegeben, damit umzugehen als in der Nordostpassage auf einem Segelschiff, wo man zwischen Eis manövrieren muss. Diese Gefahrenlage hat sich dadurch ergeben, dass eine gewisse Selbstüberschätzung bei John existiert.
Natürlich wärs das Klügste gewesen zu sagen, ich geh jetzt nicht auf diese Expedition, aber er hat sich eben überschätzt und das gemacht und dann hat diese Gefahrenlage, die von Natur aus existiert, dazu geführt, dass das alles nochmal zugespitzt wird, und ich glaube, jetzt auch auf eine sehr spezielle Art und Weise, aber es zeigt auch, wie wir im Alltag agieren. Dann ist das nicht vielleicht jetzt nicht die Eispassage, die sich schließt, aber wir tragen schon was mit uns rum, worum wir uns kümmern sollten, aber wir denken, wir schaffen das und machen noch die Aktion und die Aktion, und dann wird der Weg, den wir gehen könnten, immer enger."
Niedermeier lässt Clemens hilflos fotografieren, wie John über Bord geht
John ist insgesamt in einem fragilen, unberechenbaren Zustand. Eines Tages beobachtet Clemens, der Fotograf, nach vielen unruhigen Nächten auf dem Schiff, wie John über Bord geht:
"Ich habe gesehen, wie er fällt, ganz langsam. Sein Körper kippte über die Reling. Ich fühlte mich, als würde er in Zeitlupe fallen, während ich mich weiter in normaler Geschwindigkeit bewege, weiter in normaler Geschwindigkeit denke, nein, sogar schneller. Rasend. Ich müsste nur drei Schritte nach vorne machen und ihn festhalten. Und er würde leben. Doch ich schaue ihm eine Ewigkeit zu. Ich war unter Schock, ich habe mich nicht bewegt."
Der Schockzustand versetzt Clemens außerhalb des Geschehens und verhindert, dass er eingreift, um John zu retten.
"In mir hat es geredet, das war ich nicht, ich bin einfach dagestanden und habe dem Körper nachgesehen...als wäre ich nicht ich, sondern irgendwo außerhalb, ich habe uns beide beobachtet. Er hätte nicht fallen dürfen. Ich habe abgedrückt, ja, klar, das habe ich, und er hat mich noch bemerkt, während er fiel. Er starrte aus dem Foto heraus, starrte mich mit schwarzen Pupillen an."
Niedermeier: "Ich habe auch viele Recherchen betrieben und mit Fotografen gesprochen, und es gibt einen Mechanismus, man kennt das von Kriegsfotografen, die sind an Stellen, wo man alles andere machen würde, als ein Foto zu schießen, und die sind da und drücken ab, und so ein Mechanismus ist das in dem Fall auch, das zum Überschlagen der Gedanken führt. Er hat den Mechanismus und weiß, gegen den Mechanismus müsste ich ankämpfen, um John zu helfen, aber er macht‘s nicht, sondern er hat mehrere Gedanken gleichzeitig, die in unterschiedliche Richtungen laufen."
Das Buch lässt bewusst offen, was der Auslöser dafür war, dass John über Bord ging - ein Missgeschick, also ein Unfall, oder Selbstmord. Die Offenheit deckt sich mit der Ambivalenz von Clemens´ Situation, der Schuldgefühle hat und überlegt, ob er John vielleicht wesentlich früher hätte helfen können:
Niedermeier: "Wenn es ein Unfall ist, hat Clemens einmal versagt, wenn es ein Selbstmord ist, hat er nach seiner Empfindung zwei Mal sehr schwer versagt. Er hat in jedem Fall den Tod nicht verhindert, aber zuvor hätte er noch zwei Möglichkeiten gehabt - wenn es ein Selbstmord wäre. Denn dann hätte er, der mit Clemens die Kajüte geteilt hat, Möglichkeiten gehabt, auf ihn einzuwirken, mehr in ihn reinzukommen und praktisch die Ursachen zu beseitigen. Er hat im Prinzip zwei Mal die Möglichkeit gehabt, ihn vom Tod loszureißen, und er hat‘s beide Male nicht geschafft, und dann wiegt die Schuld, glaube ich, schwerer."
Was Manuel Niedermeiers Geschichte auszeichnet, ist die Frage, inwieweit Katastrophen auch durch menschliche Hybris bedingt sind und inwieweit eine außen stehende Person auf jemanden einwirken kann, um die Katastrophe zu verhindern.
Niedermeier: "Die Zeitwahrnehmung, das war die Grundlage für die Idee am Roman, weil ich das interessant fand, dass, obwohl vergangen, die Vergangenheit meiner Meinung nach die mächtigste Zeitstufe ist, und das zeigt sich, oder hab ich zumindest versucht, in dem Roman zu zeigen, auf unterschiedlichen Ebenen, dass wir auf ne gewisse Art und Weise von der Vergangenheit in eine gewisse Richtung gedrückt und geschubst werden und wohin es führen kann, hab ich versucht, zu zeigen auf unterschiedlichen Ebenen. Ich finde, dass da alle Ebenen dieser Zeitproblematik ganz gut unterzubringen wären."
Heinrich Steinfests Protagonist durchlebt viele Hochs und Tiefs
"Der Beginn eines jeden Buchs leidet unter einem großen Manko: Es fehlt die Musik.
Wie gut hat es da der Film, dessen Vorspann getragen wird von einer klanglichen Ouvertüre, die verspricht, was nachher erfüllt wird oder nicht, aber in jedem Fall den Zuseher augenblicklich in ihren Bann zieht, augenblicklich eine Aufregung, eine Rührung oder ein Staunen hervorruft."
Heinrich Steinfest lässt seinen Roman "Der Allesforscher" mit einer Überlegung über die Vor- und Nachteile des Films gegenüber der Literatur beginnen. Er beschreibt die Unmittelbarkeit der Musik und der Bilder und damit auch deren manipulative Kraft:
"Ich bin ein großer Filmfreund, und ich beneide den Film um die Möglichkeit, gleich am Anfang mittels der Musik so starke Emotionen zu schaffen. O.k., das kann ich nicht mit dem Schreiben, aber es ist vielleicht typisch für mich, dass ich den Roman damit beginne, dass ich genau über den Mangel, das Manko, mir Gedanken mache, etwas, das ich nicht anbieten kann, im besten Fall löse ich beim Leser etwas aus, dass er Musik zu hören beginnt, und indem ich darüber spreche, entsteht der Eindruck von Musik."
Jedenfalls erhält das erste dramatische Ereignis durch den Romaneinstieg eine besondere Wucht. Der Manager Sixten Braun befindet sich gerade in Tainan, einer Stadt in Südtaiwan, als er einen Wal auf einem LKW Transporter liegen sieht. Während er noch rätselt, was wohl mit dem Tier geschehen soll, beginnt es, eine Art Eigenleben zu führen und explodiert.
Ein aus dem Innern herausgeschleudertes Organ oder Stück Fleisch verletzt Sixten Braun, schleudert ihn in die Bewusstlosigkeit, so dass er erst im Krankenhaus wieder zu sich kommt.
Steinfest: "Ich entwickle keine Plots, ich brauch eine Ausgangsidee, aus der heraus der Rest der Geschichte wächst, und das sollte ein dramatischer, urknallartiger Anfang sein, und ich hatte dieses Bild im Kopf von einem explodierenden Wal, war mir aber nicht sicher, wie realistisch das ist und habe dann zu recherchieren begonnen und habe dann Videos gesehen über Wale, die tot an den Strand geschwemmt wurden und es dort zu kleineren Explosionen durch diese Gärgase kommt, die sich im Inneren des Wals bilden, und dann stieß ich durch die Recherche auf das Ereignis 2004 im Süden von Taiwan, ein reales Ereignis, das ich genommen habe, um es für meine Fiktion dienstbar zu machen, weil es mir als ideal erschien für Sixten Braun, den ich mir am Strand nicht vorstellen konnte, sondern nur in der Stadt, weil der Wal mitten in der Stadt explodiert."
Die Walexplosion steht quasi als dramatischer Auftakt einer Reihe weiterer Unglücke, die Sixten Braun zustoßen und in denen er wie in einer Art Märchenkomödie gleichzeitig immer wieder großes Glück erfährt. Nachdem er aus der Bewusstlosigkeit erwacht ist, verliebt er sich in die ihn betreuende Ärztin. Diese verabredet sich auch prompt mit ihm im Speisesaal. Glück im Unglück und Unglück im Glück sind die beiden Antriebskräfte des Buchs:
Steinfest: "Phasenweise ist er blind und phasenweise ist er sehend, und wenn er sieht, kann er eben dieses Glück auch wahrnehmen. Oft sind wir nicht in der Lage, dieses Glück wahrzunehmen oder sind zu sehr auf die Katastrophe konzentriert. Ich möchte nicht sagen, dass ich ihm dieses Glück schenke, sondern ich biete es ihm nur an, ich offeriere es, und er ist im richtigen Moment, es auch wahrzunehmen. Ich habe ja ein Verhältnis zu meinen Figuren, die sehe ich nicht nur als fiktive Figuren, sondern die bewegen sich ja in einem Paralleluniversum, wo eine gewisse Eigendynamik herrscht, auf die ich keinen Einfluss habe."
Steinfests Sixten Braun erlebt unerwartete Glücksmomente
Komische und ernste Passagen wechseln sich im Roman "Der Allesforscher" in schneller Folge ab. Ständig passieren Sixten Braun Missgeschicke, aber auch unerwartete Glücksmomente. Das Glück im Unglück lässt ihn langsam zu sich selbst kommen. Dabei wendet er sich auch schmerzhaften Erlebnissen aus seiner Vergangenheit zu. So setzt er sich mit dem verdrängten Tod seiner Schwester auseinander, die bei einem Bergunglück ums Leben kam.
Steinfest: "Es hängt damit zusammen, mit Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe, mit dem Tod meines Bruders, wobei der unter sehr ähnlichen Umständen ums Leben kam, als Bergsteiger. Aber es ist kein autobiografischer Roman. Ich habe diesen Aspekt aus meinem Leben in den Roman überführt, ich habe diese Erfahrungen natürlich hier verarbeitet und den tiefen Schmerz, der damit einhergeht."
Die Begegnung mit der Ärztin ermöglicht Sixten Braun die für ihn völlig neue Erfahrung, das Leben mit seinen wechselvollen Situationen anzunehmen, wie es kommt.
"Lana hatte mich um etwas gebeten, nicht fordernd, nicht diktierend, sondern durchaus so, wie ein Liebender den anderen Liebenden um etwas bittet, ohne sich erklären zu wollen.
Und genau darin besteht ja der Sinn der Liebe: keine Erklärungen abgeben zu müssen."
Diese Erkenntnis macht sich Sixten Braun so sehr zu eigen, dass ihm in Lauf der Geschichte sogar scheinbar Unmögliches gelingen wird. Heinrich Steinfest stößt seinen Helden in einen rasanten Strudel der Ereignisse, die diesen auf kuriose, launische und das Schicksal ausreizende Weise zu einem neuen Menschen machen: Vom hippen Jet-Set-Leben zwischen Taiwan, Japan und Deutschland wechselt er in eine bescheidene Bademeister-Existenz und wird in Stuttgart sesshaft.
Nach vielen Jahren sucht er wieder Kontakt zu seiner damaligen Liebe in Thailand, jener Ärztin, die er mittlerweile aus den Augen verloren hat, erfährt bei einem Überseetelefonat, dass sie an einem Gehirntumor starb, und eine Konsulatsangestellte trägt ihm bald darauf an, das Kind, das Lana hinterlassen hat, zu adoptieren. Sixten Braun rechnet nach: Ja, tatsächlich, es könnte sein eigener Sohn sein. Doch der Junge, der in Deutschland ankommt, hat sehr asiatische Züge.
Steinfest: "Das ist für mich ein wesentlicher Punkt bei meinen Geschichten, das Schicksal anzunehmen und eine Würde dabei zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass man dem entkommen kann, es ist auch nicht seine Entscheidung, was ihm alles zustößt, aber wichtig ist, dass er im richtigen Moment bereit ist, das Kind anzunehmen, obwohl es nicht seines ist. Ich würde sagen, am Anfang der Geschichte wäre er eine Figur, die nimmer ein Kind annimmt, das nicht seines ist, in der Mitte des Romans, wie es zu dieser Begegnung kommt, ist es so weit. Das war wesentlich."
Heinrich Steinfest zeichnet mit Sixten Braun eine Ausnahmefigur, denn ihm passieren im Laufe der Geschichte verschiedene unwahrscheinliche und aufregende Katastrophen:
"Ich seh‘ das ja eher als eine Menschwerdung, dieser Sixten Braun wird am Anfang vorgestellt als ein Manager, seine Äußerungen sind zutiefst zynisch, er ist nicht wirklich bei sich, und diese Walexplosion am Anfang der Geschichte könnte man auch als eine Art Urknall interpretieren, und diese Figur erwacht, und darum ist es auch so wichtig, das erste Gesicht, das er sieht, beim Erwachen, dass das seine große Liebe ist."
Unfall als Auslöser einer generellen Selbstbefragung
David Schalko, Alina Bronsky, Peter Stamm, Manuel Niedermeier und Heinrich Steinfest: alle muten ihren Figuren einiges zu. Ein Unfall ist jeweils Auslöser einer generellen Selbstbefragung: Wer bin ich, warum habe ich mir dieses Leben, diesen Partner, diesen Beruf ausgesucht? Im Gegensatz zur journalistischen Nachricht bekommen die Romane die Lebensgeschichten in ihrer persönlichen Dimension zu fassen. Der Romanleser kann - im Gegensatz zum Nachrichtenleser - die Perspektive wechseln, mit den Figuren Empathie entwickeln und auch das: seine eigene Geschichte in der erzählten wiedererkennen.
Bronsky: "Ich denke, ein Buch, wenn es das richtige Buch für einen ist, und da spreche ich auch nicht mehr von guten oder schlechten Büchern, weil jeder Mensch, jeder Leser hat einfach seine Bücher und andere, die nicht zu ihm passen. Und das richtige Buch ist für ihn so eine Art Gesprächspartner. Man setzt sich quasi mit diesem unsichtbaren Gesprächspartner in Form eines Buches über irgendetwas auseinander, und oft ist das auch ein Gespräch über sich selbst. Man liest bestimmte Dinge, die vielleicht auch auf den ersten Blick mit völlig anderen Dingen zu tun haben, jetzt im Fall meines Romans, man kann über einen entstellten Jugendlichen lesen, und man muss überhaupt nicht die Erfahrung gemacht haben, um das Gefühl zu haben, dieses Buch versteht mich auf eine bestimmte Art."
Schalko: "Zeitungsmeldungen die sind deswegen spektakulär, weil man weiß, dass es tatsächlich stattgefunden hat. Trotzdem hält man sie sich vom Leib gewissermaßen. Das Buch ist ein sicheres Terrain. Man kann immer sagen, das ist ja nicht wirklich passiert. Und deswegen kann man im Buch auch letztendlich weitergehen, und man akzeptiert als Leser wahrscheinlich mehr, weil man sicher sein kann, dass es eine reine Erfindung und Gedankenspiel ist."
Steinfest: "Ich sage ja gern, ich schreibe keine Ratgeber, sondern Trostgeber. Ich hoffe zumindest, dass meine Bücher Trost verursachen, und den Trost ohne die Komik kann ich mir nicht vorstellen. Das ist faszinierend, dass wir immer wieder in schlimmen Momenten die unwirklichen, komischen, skurrilen Momente erleben und dadurch auch immer wieder eine Leichtigkeit entsteht, dass die Dinge anfangen zu schweben, und schweben können sie durch das Komische, Skurrile und Ungewöhnliche, das uns lächeln macht."
Stamm: "Das Komische ist, das passiert mir immer wieder, dass bei Lesungen Leute kommen und sagen, diese Geschichte, die Sie da geschrieben haben, die ist mir genauso zugestoßen, und dann frag ich nach, und dann kommt raus, das ist überhaupt nicht so gewesen. Das ist eine völlig andere Geschichte, aber sie haben sich in dieser Geschichte wiedererkannt, obwohl ihnen was völlig anderes zugestoßen ist, und das ist vermutlich die Funktion der Literatur - auch, dass wir uns in Menschen wiedererkennen oder gewisse Gefühle wiedererkennen und uns dadurch auch versichern, dass es o.k. ist, dass wir so sind, wie wir sind."