Völkermord ohne Vergessen

Rezensiert von Jürgen Kaube |
Über kein Ereignis ist so viel geforscht worden, kein anderes ist so tief in das geschichtliche Bewusstsein gedrungen wie der Genozid an den europäischen Juden unter den Nationalsozialisten. Sergio Romano thematisiert in seinen Essays "Brief an einen jüdischen Freund" die Wandlung des Völkermords zum weltweiten Symbol für historische Katastrophen.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine von Massenmorden und Weltkriegen. Sieben Millionen Menschen starben unter Stalins Zwangskollektivierung, 27 Millionen Bauern unter derjenigen in China nach 1949, neun Millionen Menschen kamen im Ersten, 55 Millionen im Zweiten Weltkrieg um.

Zu Opfern von versuchten Genoziden und politischen Auslöschungen wurden unter anderem: die Armenier, die Serben in Kroatien, die Tibeter, die Indios in Guatemala, die Ibo in Nigeria, Hutu und Tutsi in Ruanda, Muslime in Bosnien, Kommunisten in Indonesien, Kurden, Schiiten und viele mehr.

Und doch ragt im öffentlichen Bewusstsein ein Genozid aus all diesen Untaten hervor: der Mord an den europäischen Juden. Über kein anderes Ereignis ist so viel geforscht worden, und kein anderes ist auf vergleichbare Weise das Thema eines staatlich bekräftigten Gedenkens in allen Regionen des Westens.

Wie kommt das? Das Buch von Sergio Romano besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen und Kolumnen. Sie fragen, wie es dazu gekommen ist, dass aus einem unfassbaren Massenmord das zentrale Ereignis der modernen Geschichtserzählung wurde.

"Ein erster Grund ist das große Unbehagen, das wir alle verspüren, wenn wir uns ein Phänomen vergegenwärtigen, das mitten unter uns entstanden ist, und dessen direkte oder indirekte Zeugen wir waren. Die Juden sind keine fernen Völkerschaften, deren Sitten und Gebräuche wir nicht kennen. Die Juden sind Männer und Frauen, mit denen wir zusammen leben, lernen, arbeiten - oft, ohne uns ihrer ethnischen oder religiösen Identität überhaupt bewusst zu sein."

Auch war der Vernichtungswille gegen die Juden total. Es sollte buchstäblich keiner übrig bleiben.

Beide Besonderheiten jedoch, so Romano, rechtfertigen nicht, an Auschwitz anders historisch heranzugehen als an jede andere Bösartigkeit der jüngeren Geschichte. Nie wieder Auschwitz, heißt es, aber genau so müsste es gelten: Nie wieder Biafra. Oder: Nie wieder Kambodscha. Diese Parolen jedoch hört man so gut wie nie.

"Der Holocaust ist zum mythischen Zentrum der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden. Ganze Länder und Institutionen werden danach beurteilt, welche Rolle sie im Zusammenhang dieses Ereignisses gespielt haben, und meistens landen sie früher oder später auf der Anklagebank."

Worum es Romano also geht, ist die Tatsache, dass es nicht allein die Eigenschaften des Holocaust selber und seiner historischen Ursachen sind, die ihn zum Gegenstand einer, wie der Autor es nennt, "religiösen Geschichtsschreibung" gemacht haben. Denn dazu ist es, so Romano, in großem Umfang erst seit den sechziger Jahren gekommen.

Vor 1933 hatten zahllose europäische Juden sich bemüht, ganz normale Bürger der Nationen zu sein, in denen sie lebten. Viele waren konvertiert oder der Religion ganz entfremdet und betrachteten sich in erster Linie als Deutsche oder Italiener. Erst der Nationalsozialismus behandelte sie als Angehörige einer "jüdischen Kultur", indem er ihnen das Recht verweigerte, sich von ihrer Abstammung zu distanzieren.

Sergio Romano zitiert den italienischen Schriftsteller Primo Levi:

"Zum Juden hat man mich gemacht. Vor Hitler war ich ein italienischer Bürgerjunge. Die Erfahrung der Rassengesetze hat mir geholfen, unter den vielen Strömungen der jüdischen Tradition einige auszumachen, die mich ansprechen."

Nach 1945 kam es dann zu einer seltsamen Spaltung: Der Staat Israel wurde als Judenstaat gegründet, konnte aber nur existieren, weil er es gerade nicht ist, weil gerade nicht alle Juden sich in ihm versammelten, sondern das neue Gebilde von außen, vor allem von England und Amerika aus unterstützten. Romanos Kommentare zum Sonderweg Israels als Nation und Staat sind die klügsten Passagen des ganzen Buches.

Diejenigen Juden, die nicht nach Israel zogen, notiert der Autor, wandten sich vor allem nach 1968 viel stärker als zuvor ihren jüdischen Traditionen zu. Und auch für viele Nichtjuden wurde im Zuge der Studentenbewegung die Vergangenheit zu einem, in diesem Fall, negativen Anker ihrer eigenen politischen Identität. Für andere Genozide galt das nicht.

"Der Völkermord hat den kulturellen Zusammenhang des Judentums gefestigt und dessen ’Nomenklatura’ Gelegenheit zur Stärkung des eigenen Lehramtes gegeben. Viele laizistische Juden fühlen sich wieder in der Pflicht, dem Glauben der Vorväter Reverenz zu erweisen, in die Synagoge zu gehen, sich an die alten Bräuche zu halten. Und viele christliche Laien meinen für die Schuld Hitlers büßen zu müssen und fühlen sich verpflichtet, Frömmigkeitspraktiken mit Wohlwollen zu betrachten, die sie in anderen Religionen für unerträglich reaktionär halten würden."

Sergio Romano thematisiert in seinen Essays zahlreiche Facetten dieses widerspruchsreichen Aufstiegs eines Völkermords zum weltweiten Symbol für historische Katastrophen überhaupt. Er handelt über das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum. Er schreibt über den Unterschied zwischen religiösem Antijudaismus und politischem Antisemitismus, der für ihn ein grundsätzlicher Unterschied ist. Er skizziert die Geschichte des Zionismus und das Verhältnis der europäischen Linken zu den Juden. Vor allem aber polemisiert Romano gegen die politische Instrumentalisierung des Holocaust, und er beschreibt die eigentümliche Loyalität vieler Juden und Nichtjuden gegenüber einem Staat, dem sie selbst nicht angehören.

"Loyalität und Solidarität der Diaspora verhalten sich direkt proportional zu der Brutalität, mit der der Staat Israel, oft gegen die Opposition eines wichtigen Teils der eigenen öffentlichen Meinung, seine politischen und militärischen Schlachten schlägt. Je ’normaler’ Israel ist und je länger die Liste seiner realpolitischen ’Sünden’, desto entschiedener muss man diesen Staat verteidigen. Besteht vielleicht eine Beziehung zwischen manchen skrupellosen Formen der israelischen Politik seit dem Libanonkrieg und der Wachsamkeit gegen den Antisemitismus, zu der wir immer wieder aufgerufen werden?"

Man kann Romanos Buch von dieser, seiner polemischen Seite her lesen. Zu ihr gehören auch Thesen wie die, ein neuer Antisemitismus werde gerade durch die behauptete Sonderstellung des Holocaust und Israels genährt. Hierfür hätte man gerne Belege erhalten. Man kann Romanos Buch aber auch als den Versuch eines Blicks auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts verstehen, der sich frei macht von geschichtspolitischen Vorgaben aller Couleur.

Die Interessen der Gegenwart bei historischen Betrachtungen zurückzudrängen, ist eine Selbstverständlichkeit. Sergio Romano schlägt vor, dieses Verfahren auch gegenüber jener Vergangenheit zu praktizieren, die nicht vergehen will.

Sergio Romano: Brief an einen jüdischen Freund
Landt Verlag, Berlin 2007