Vögel in der Literatur

    Wo du mich küsst, weiß nur die Amsel

    56:10 Minuten
    Illustration von fliegenden Vögeln.
    Prosa und Poesie haben eine besondere Beziehung zu Vögeln. © unsplash / birmingham museums trust
    Von Frank Kaspar · 11.06.2023
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    Wer nicht wie sie zu fliegen vermag, muss eben vom Flug erzählen. Wer nicht wie sie zu singen vermag, kann doch den Gesang besingen. Und wer keine Federn hat, darf zu fremden Kielen greifen, zu ihren nämlich. Prosa und Poesie haben eine besondere Beziehung zu Vögeln.
    Nachtigall oder Lerche, Amsel, Falke oder Mauersegler lassen die Herzen vieler Menschen höher schlagen. Die Wesen der Lüfte scheinen der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen, ihr Erscheinen verheißt ein leichteres und freieres Leben oder gleich die Liebe, und ihre Sangeskünste galten lange als unerreichbares Ideal der Poesie.

    Federleichtes Erscheinen

    Die Faszination der Vögel hat in jüngerer Zeit nicht nachgelassen. Viele beobachten sie und empfinden Freude und Trost. Manche Künstler fordert ihr federleichtes Erscheinen zur Nachahmung und Aneignung heraus, einige verschreiben sich der Lautpoesie, andere nehmen die Vögel als Zeichen, Symbol, Metapher. Die Nobelpreisträgerin 2020 Louise Glück denkt beim Zug der Vögel an diejenigen, die sie nicht sehen können.

    Die nächtlichen Wanderzüge

    Dies ist der Augenblick, in dem du
    die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst,
    und am dunklen Himmel
    die Vögel beim nächtlichen Wanderzug.

    Es bedrückt mich zu denken,
    dass die Toten sie nicht sehen –
    diese Dinge, die uns selbstverständlich sind,
    sie entschwinden.

    Was wird die Seele dann tun, um sich zu trösten?
    Ich sage mir, vielleicht braucht sie
    diese Freuden nicht mehr;
    vielleicht ist es einfach genug, nicht zu sein,
    so schwer vorzustellen das auch ist.

    (Aus: Averno. Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner. Luchterhand Literaturverlag. München 2007)

    © unsplash / birmingham museums trust
    Flüchtig tauchen die Zugvögel am Nachthimmel auf und signalisieren tröstende Verlässlichkeit. So lange sie aufbrechen, kehren sie auch zurück, folgt die Natur einem vertrauten Rhythmus. Louise Glück erinnern sie an die Toten und die eigene Lebendigkeit.

    Auf Du und Du mit Dohle und Dompfaff

    Was aber, wenn das Artensterben durch Pestizide und schwindende Lebensräume zunimmt? Mit der abnehmenden Vogelschar steht mehr auf dem Spiel als das ökologische Gleichgewicht. "Wenn es jetzt gar keine Vögel mehr gäbe", meint der Lyriker Norbert Hummelt, "wie sollte man dann glücklich sein können? Wie sollte man diese uralten menschlichen Gefühle von Liebe und Glück und Trauer und Vermissen haben können, wenn der Frühling stumm, der Himmel leer ist? Das möchte ich mir gar nicht ausmalen."
    Viele Autorinnen und Autoren setzen sich mit einzelnen Vogelarten auseinander. Silke Scheuermann und Mikael Vogel erinnern in Gedichten an den ausgestorbenen Vogel Dodo. Marcel Beyers widmet sich im Roman "Kaltenburg" ausführlich dem Verhalten von Dohlen. Die Philosophin Eva Meijer erzählt in "Das Vogelhaus" von einer alten Dame, die auf Du und Du mit Meisen lebt. Im englischsprachigen Genre des Nature Writing kann ein Falke oder ein Habicht sogar die Hauptfigur des Textes sein.
    (pla)
    Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.

    Es sprechen: Veronika Bachfischer, Maximilian Held, Felix von Manteuffel, Timo Weisschnur
    Ton: Christiane Neumann
    Regie: Friederike Wigger
    Redaktion: Jörg Plath

    Wiederholung vom 8.11.2020
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